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LAIRE/321: Gesundheitsreform - ein bereits lange währender Prozeß ... (SB)



Mit dem Argument, daß in letzter Zeit die Klimakrise so viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, daß andere wichtige Themen wie die Gesundheitsvorsorge vernachlässigt worden sind, wird Kritik an der Klimaschutzbewegung geübt. Wer so argumentiert, wie es beispielsweise in der Diskussionsrunde "kontrovers" des Deutschlandfunks am 30. März 2020 nahegelegt wurde, unterschlägt die jahrelange Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. So wurden immer mehr staatliche Krankenhäuser privatisiert und kleinere Krankenhäuser geschlossen, und das bereits zu einer Zeit, als Klimaschutz noch ein gesellschaftliches Randthema war.

Der unterstellte Zusammenhang zwischen dem medialen Hype um den Klimaschutz und umgekehrt der mangelnden Aufmerksamkeit für andere gesellschaftliche Probleme, die angeblich sehr viel mehr Opfer erfordern, ist willkürlich gewählt. Im übrigen wäre es ein Armutszeugnis für das Gesundheitsministerium, wenn es medial so sehr in die Ecke gedrängt wäre und im Schatten eines anderen Ressorts stände, daß es nicht mehr zu eigenständigen Entscheidungen in der Lage ist. Da wird das Gesundheitsministerium als rein reaktiv beschrieben, obgleich es schon vor Jahrzehnten die Weichen in Richtung Ökonomisierung gestellt und die entsprechenden Stellschrauben immer wieder nachjustiert hat. Bereits 2011 hatte der Deutsche Ethikrat, der sich mit der Gesundheitsökonomie und den Folgen für die medizinische Behandlung befaßt hat, festgestellt, daß sich trotz der relativ guten Versorgungslage in Deutschland "die Anzeichen für Qualitätseinbußen aus Gründen relativer Mittelknappheit in Bereichen der medizinischen Versorgung, aber auch in der ambulanten wie der stationären Pflege" mehren. [1]

Damals hatte sich die Staatengemeinschaft noch nicht einmal auf eine zweite Verpflichtungsperiode zum Klimaschutzprotokoll von Kyoto (2013 bis 2020) geeinigt. Dessen Nachfolgevertrag, das als "historisch" gefeierte, wenngleich zahnlose Übereinkommen von Paris, wurde erst 2015 beschlossen, und die zivilgesellschaftliche Klimaschutzbewegung Fridays for Future nahm erst 2019 Fahrt auf. Kurzum, der Klimaschutz hat dem Gesundheitsthema nicht die Aufmerksamkeit gestohlen.

Die Zahl von "nur" 9.000 Todesopfern aufgrund von Naturkatastrophen weltweit im vergangenen Jahr, wie es in "kontrovers" erwähnt wurde, bezieht sich auf Angaben des Rückversicherers Munich Re. Allerdings waren es 2018 jährlich 15.000, und im Durchschnitt der letzten 30 Jahre sogar 52.000 Opfer. Laut Munich Re geht der Trend zu sinkenden Opferzahlen auf verbesserte "Vorbeugemaßnahmen, Warnungen und Evakuierungen" zurück, wie die tageszeitung meldete. [2]

Diese Verbesserungen kamen jedoch nicht zuletzt wegen des wachsenden Drucks der Öffentlichkeit auf die Regierungen zustande, die sich ansonsten noch viel weniger in Richtung Klimaschutz bewegt hätten. Anstatt also den Druck durch die Klimaschutzbewegung zurückzunehmen, um auch mal andere Konfliktfelder in den Vordergrund zu rücken, sollte die Streitbarkeit der Klimaschutzbewegung eher noch gestärkt werden. Denn die Maßnahmen gegen die globale Erwärmung sind bislang ungenügend. Wie wäre es damit, den Streit auf andere gesellschaftliche Felder auszudehnen? War es einem Teil der Klimaschutzbewegung nicht von Anfang um mehr gegangen, als nur den Stromanbieter zu wechseln?

Inzwischen öffnet sich sogar Fridays for Future in verschiedene Richtungen, weil man erkannt hat, daß die Krisenhaftigkeit des vorherrschenden, profitorientierten Wirtschaftssystems nicht allein die Klimakatastrophe verstärkt, sondern auch soziale Verelendungen produziert. Reichtumsanhäufung wäre nicht möglich ohne Verarmung. Das wird beispielhaft und konkret daran deutlich, daß ein Mensch in Westafrika, der als Lohnempfänger Kakaobohnen pflückt, nur so eben über die Runden kommt, wohingegen ein Mensch, der am oberen Ende der sogenannten Wertschöpfungskette massenhaft Kakaoprodukte in Form von Osterhasen verkauft, also quasi die Pflückleistung vieler Menschen eingeheimst hat, ein komfortables Leben führen kann.

Den sich möglicherweise auch in Deutschland anbahnenden Gesundheitsnotstand durch die Verbreitung der Lungenkrankheit Covid-19 und die Klimakatastrophe gegeneinander auszuspielen heißt, keine der beiden Krisen in ihrer verheerenden Wirkung ernstzunehmen. Wer behauptet, daß zu viel Aufregung um das Klima veranstaltet wird, weil im vergangenen Jahr "nur" 9.000 Menschen durch Naturkatastrophen ums Leben gekommen sind, hat nicht verstanden, daß laut wissenschaftlicher Klimasimulationen die Menschheit am Beginn einer Schadensentwicklung steht, deren Ausmaß im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte dramatisch zunehmen könnte.

In einer auf Wachstum gepolten Welt, in der hemmungslos fossile Energieträger verfeuert werden, stiege die globale Durchschnittstemperatur voraussichtlich um fünf Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit. Das würde die Natursysteme so verändern, daß die Lebensvoraussetzungen von Milliarden Menschen unmittelbar gefährdet werden. Das wird den Berechnungen zufolge nicht morgen oder übermorgen geschehen. Aber ähnlich wie bei der weltumspannenden Verbreitung des neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 am Anfang des Ausbruchs gemachte Versäumnisse teuer bezahlt werden, werden die Opferzahlen und Verluste beträchtlich zunehmen, sollte die globale Erwärmung nicht auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit begrenzt werden.

In verschiedenen Natursystemen stecken Schwellenwerte oder Kippelemente bzw. englisch Tipping Points, bei deren Überschreiten eine sich selbst verstärkende Dynamik in Gang gesetzt wird, die für sehr lange Zeit - die Rede ist von zig Generationen - nicht mehr gestoppt werden könnte. In Anbetracht dieser nicht unrealistischen Entwicklung wird der Klimakrise noch viel zu wenig mediale Aufmerksamkeit geschenkt.

Unbenommen davon bleibt festzustellen, daß es wünschenswert wäre, wenn die durchaus ausgearbeitete Kritik an der Ökonomisierung und Profitorientierung des Gesundheitssystems - beispielhaft seien die Internetseiten bioskop-forum.de [3] und krankenhaus-statt-fabrik.de genannt [4] - in den Medien breiter rezipiert und die Gesundheit der Menschen nicht mehr wie bisher seitens der Politik wirtschaftlichen Vorteilserwägungen geopfert würde.


Fußnoten:

[1] https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/DER_StnAllo-Aufl2_Online.pdf

[2] https://taz.de/Naturkatastrophen-Bilanz-2019/!5654581/

[3] https://www.bioskop-forum.de/

[4] https://www.krankenhaus-statt-fabrik.de/

30. März 2020


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