Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → MEINUNGEN


STANDPUNKT/1216: Anthropozän - Braucht es das Menschenzeitalter? (megafon)


megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 486 | Dezember 2022

Anthropozän
Braucht es das Menschenzeitalter?

von Reto Riggs


Der Begriff Anthropozän macht Schlagzeilen. Er titelt auf Umschlägen von Klimaberichten, Sachbüchern und Populärmedien, wo er für ein mulmiges Bauchgefühl sorgt. Was hat es mit diesem Begriff auf sich, den vor zwanzig Jahren kaum ein Mensch kannte?

Textdatenbanken können nach beliebigen Wörtern abgefragt, und die Häufigkeit ihres Vorkommens auf einer Zeitskala dargestellt werden. Unabhängig davon, ob der Zeitungskorpus des digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache, oder die riesigen Bibliotheken einschlägig bekannter Tech-Giganten durchsucht werden: Gibt man den Begriff Anthropozän in der Suchmaske ein, zeigt sich jeweils dasselbe Bild. Zunächst über viele Jahrhunderte und Jahrzehnte nichts. Dann, um das Jahr 2000, schiesst die Kurve in die Höhe. Das Wort Anthropozän, ein Kind der 2000er-Jahre.

Mit dem Begriff Anthropozän benennen Wissenschaftler*innen ein neues Erdzeitalter. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass menschliches Handeln nun massgebenden Einfluss auf die Umwelt nimmt. Seit einiger Zeit ist der Mensch nicht mehr lediglich Beteiligter und Mitbegünstigter des Erdsystems, sondern ein geologisch bedeutsamer Faktor. Der Mensch hat seine Umwelt auf derartige Weise zu seinen Gunsten verformt, dass sogenannte unberührte Natur auf der Erdkugel kaum mehr vorzufinden ist.

Aus dem altgriechischen kommend, setzt sich der Begriff Anthropozän aus "anthropos", menschlich, und "-zän" zusammen. Letzteres bedeutet, abgeleitet von "kanios", soviel wie neuartig und wird, etwa in Holozän oder Pleistozän, als Endung zur Benennung geologischer Zeitepochen benutzt. Durch die offiziell zuständige Instanz, die Internationale Union geologischer Wissenschaften (IUGS), ist das Anthropozän als Erdepoche aber nicht anerkannt. Der inoffizielle Charakter des Anthropozän widerspiegelt sich auch auf dem Bildschirm, beim Schreiben von Texten mit herkömmlichen Schreibprogrammen, die Geschriebenes bereits bei der Entstehung auf Rechtschreibung hin überprüfen; rot-gewellt unterstrichen wird der Begriff durch das Rechtschreibeprogramm als unbekannt oder falsch markiert.

Eine Frage der Herkunft

Die Frage, ob die aktuelle Erdepoche als Anthropozän bezeichnet und sinnstiftend benannt werden soll, ist im Prinzip lediglich eine wissenschaftliche, insbesondere eine geologische. Weitaus häufiger wird der Begriff aber ausserhalb der institutionellen Wissenschaft verwendet. Umgangssprachlich und populärwissenschaftlich wird das Anthropozän als Schlagwort im Zusammenhang mit Klimawandel, Artensterben und Umweltzerstörung, zugleich mit Beschleunigung, Technologie und Dominanz benutzt; der Mensch, sowohl als apokalyptische Naturgewalt als auch als allmächtiger Technokrat mit Zugriff auf die Hebel des Erdsystems.

Aber, wie jung ist der Begriff nun wirklich? Zwar erscheint er in sowjetischen wissenschaftlichen Diskussionen schon in den 1960er-Jahren, doch erst als die renommierten Klimawissenschaftler Paul Crutzen und Eugene Stoermer im Jahr 2000 für die neue geologische Epoche des Anthropozäns plädierten, explodierte die Verwendung; und dies nicht nur im wissenschaftlichen Kontext: Auf Bestsellerlisten erscheint das Anthropozän titelgebend auf den Buchdeckeln dystopischer Sci-Fi Bücher, auf Sachbüchern und auf Fotobänden, welche die Zerstörung der Umwelt durch Menschen ästhetisch ins Bild setzen. Das Anthropozän; es wird zur Projektionsfläche für Hoffnung und Horror, Angst und Allmachts-Fantasie der Menschen im dritten Jahrtausend.

Eine Frage des Zeitpunkts

Indes debattieren Wissenschaftler*innen über die formale Einführung des Anthropozäns in den geologischen Kalender der Erdgeschichte. Dabei lautet die Frage nicht "ob", sondern "ab wann". Bisherige geologische Epochen wurden durch die Analyse geologischer Schichten bestimmt, welche sich in ihrer Komposition und bezüglich der darin enthaltenen Fossilien massgeblich unterscheiden. So besteht eine objektivierbare, materielle Grundlage zur Unterteilung von Erdepochen. Auch für das Anthropozän besteht also die Forderung, eine geologisch beobachtbare, noch über Jahrtausende hinweg auffindbare Markierung zu bestimmen. Dazu gibt es einige Vorschläge.

Um 1610 ist ein markantes, messbares Minimum an atmosphärischem Kohlenstoffdioxid nachweisbar. Dies aus dem Grund, dass im Vorjahrhundert der amerikanische Kontinent kolonisiert wurde, was die Lebensweise indigener Völker derart beeinträchtigte, dass die nordamerikanische Waldfläche massiv aufstockte. Diese Bäume schluckten so viel Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre, dass eine geologische Markierung durch menschliches Handeln entstanden ist. Ein zweiter Vorschlag kommt von der eigens dafür zusammengesetzten Forscher*innengruppe, der "Anthropocene Working Group". Sie schlagen eine geologische Markierung vor, welche auf die Ära der ersten Nuklearwaffentests von 1945 bis 1963 abstützt. Weitere Vorschläge sind die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert, die landwirtschafte Revolution vor 8000 Jahren, selbst die Entdeckung des Feuers vor 1.8 Millionen Jahren wird als Vorschlag ins Spiel gebracht. Letztere Vorschläge leiden jedoch unter dem Umstand, dass keine globale, eindeutige, geologische Markierung für sie bestimmt werden kann. So oder so: Für die Wissenschaft ist es unumstritten, dass wir uns im Anthropozän befinden. Der Mensch ist ein globaler, geologischer Faktor.

Eine Frage des Wortwahl

Die Wissenschaft tut sich schwer mit der Zeitskala, die Formalisierung steht aus. Für populäre Medien sind gute Definitionen aber weniger wichtig, dementsprechend ungezwungen findet der Begriff Verwendung. Seit neuem wird aber auch der Begriff selbst hinterfragt. Was sagt es über die Menschen aus, dass sie die Zeitepoche, in welcher sie leben, anthropozentrisch nach sich selbst benennen? Und welche Wirkung kann sowas entfalten? Die Wahl des Begriffes könnte mitunter dazu beitragen, dass sich problematische Weltanschauungen, Erzählungen und Verständnisweisen betreffend der Beziehung von Mensch und Umwelt verfestigen. Mit dem Begriff Anthropozän stellt sich der Mensch ins Zentrum der Welt. Daran wird problematisiert, dass sich der Mensch auf diese Weise weiter von seiner Umwelt distanziert und diese Kluft fälschlicher- oder unnötigerweise vertieft wird. Ausserdem homogenisiert der Begriff Anthropozän die Menschen zu einem universalen "Wir". Unschwer ist zu erkennen, dass gerade auch betreffend Handlungsmöglichkeit und Handlungsfolgen bedeutende Unterschiede zwischen Menschen bestehen. Der Begriff ist flexibel und vernebelnd zugleich, wenn es um die Zuschreibung von Verantwortung geht: Wer sind die Verantwortlichen für die gegenwärtige Umweltkatastrophe? Und wer hat die Macht und die Möglichkeit, die Welt zu verändern? Im Begriff Anthropozän fallen alle zusammen: Der europäische Geschäftsmann und sein Privatjet, die maledivische Fischerin und ihr Fischerboot. Um der ungleichmässigen Verteilung der Verantwortung gerechter zu werden, zieht der Umwelthistoriker Jason W. Moore den Begriff Kapitalozän vor, welcher den Kapitalismus und nicht die Menschheit als Hauptverursacher des neuen Erdzeitalters identifiziert. Ein anderer Vorschlag versucht, unter dem Begriff Plantagenozän die Schäden an Mensch und Umwelt zugunsten der Kolonialmächte als Ursache zu benennen. Zuletzt schlägt Donna Haraway das "Chthuluzän" vor. Nein, nicht das kosmische Horrormonster wird hier referenziert, sondern der altgriechische Begriff "chthonos", was "von der Erde" bedeutet und zu dessen Deutung auch die mythologische "Gaia" oder korrespondierende Mutter Erde Figuren anderer Völker gehören. Der weisse, erhabene Mensch - der das Anthropozän als Begriff nicht zuletzt geprägt hat - wird so vom Sockel gestossen. Das Paradigma der Allmacht, sowie der Apokalypse wird stattdessen in den Schatten irdischer Kräfte gestellt, denen das Überleben der Menschheit scheissegal ist.

Das Anthropozän - als Konzept und welterschliessendes Deutungsmuster - begünstigt imperiale und koloniale Verhältnisse, beflügelt technokratische Kapitalismus-Fantasien, und bestärkt das Paradigma des übernatürlichen, erhabenen Menschen. Während die internationale Union geologischer Wissenschaften noch über die formale Einführung des Menschenzeitalters diskutiert, steht für die Kritiker*innen am Begriff eine andere Frage im Zentrum: Entkommen wir im Anthropozän diesen engsinnigen, schädlichen Verhältnissen und Paradigmen? Oder wären andere Bezeichnungen womöglich zielführender, um den erforderlichen Systemwandel zu ermöglichen und die voranschreitende Entwicklung zu einem menschenfeindlichen Erdsystem abzuwenden?


Weiterführende Literatur
  1. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Gabriele Dürbeck fasst in ihrem Artikel "Das Anthropozän erzählen: Fünf Narrative" die unschlüssigen Narrative des Anthropozäns in den Blick (2018).
  2. Die feministische Wissenschaftlerin Donna Haraway erläutert ihren Vorschlag zum "Chtuluzän" in ihrem Kommentar, "Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making kin" (2015 in Environmental Humanities).
  3. Jürgen Manemann führt in seinem Fachbuch "Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanäkologie" die Fragen dieses Artikels weiter aus (2014 im Transcript Verlag).

*

Quelle:
megafon - Die Zeitschrift aus der Reitschule | Bern | N° 486 | Dezember 2022, Seite 3
Anschrift der Redaktion:
AG megafon | Neubrückstr. 8, Postfach, CH-3001 Bern
Telefon: 0041-(0)31 / 306 69 66
E-Mail: megafon@reitschule.ch
Internet: https://www.megafon.ch/
megafon erscheint monatlich, Auflage ca. 1000 Ex.
Einzelausgabe: 6,- CHF
Jahresabo: 72,- Schweizer Franken
oder ein bisschen mehr für ein Förderabo

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 3. März 2023

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang