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ATOM/402: Meßgerät-Skala reichte nicht - Extrem hohe Strahlenwerte am Akw Fukushima Daiichi (SB)


Zehn Sievert pro Stunde - Tödliche Strahlung zwischen den Reaktoren Fukushima I und II

Maximalwert des Meßgeräts erreicht - Strahlung womöglich noch höher


Offiziell wird in Japan bereits seit einigen Wochen so getan, als sei die Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi beendet und als ob es jetzt nur noch um die Sicherung der letzten Strahlenquellen und den - man gibt sich vermeintlich einsichtig - vermutlich langjährigen Rückbau der verstrahlten Einrichtungen gehe. Solche Verharmlosungen haben die japanische Regierung und die Betreibergesellschaft Tepco eigentlich von Anfang an von sich gegeben. Dieser verbreitete Eindruck steht den aktuellen Meßergebnissen diametral gegenüber. Wie die Süddeutsche Zeitung [1] unter Berufung auf die Nachrichtenagentur Jiji Press berichtete, wurde laut einem Unternehmenssprecher an einem Außenrohr, das am Boden zwischen den Reaktoren I und II verläuft, ein Strahlenwert von mehr als 10 Sievert (Sv) pro Stunde gemessen. Das ist der höchste jemals seit dem GAU im März gemessene Wert und übersteigt die bisher angegebene Strahlenbelastung gleich um eine ganze Größenordnung. Schon ein Hundertstel von 10 Sv pro Stunde würde bei Menschen Übelkeit und Erbrechen auslösen. Bei einem Sievert steigt das Risiko, an Krebs zu erkranken, um zehn Prozent an.

Ein weiterer Vergleich: Nach Beginn des GAU im Akw Fukushima Daiichi hatte die japanische Regierung die Belastungshöchstgrenze für Arbeiter in einem Kernkraftwerk kurzerhand von 0,1 auf 0,25 Sv angehoben - pro Jahr! Bei der aktuellen Messung von 10 Sv geht es jedoch um die Strahlenbelastung innerhalb nur einer Stunde! Im übrigen handelt es sich um einen Mindestwert, möglicherweise ist jene Stelle noch stärker verstrahlt. Wie die britische Zeitung "The Guardian" am Dienstag meldete, wurde bei 10 Sv der Maximalwert des Meßgeräts erreicht. [2] Demnach hätte das Gerät gar keinen höheren Wert registrieren können.

Die Ausbreitung der Radioaktivität bleibt in der japanischen Öffentlichkeit ein Dauerthema, auch die Proteste gegen die Regierung nehmen zu. Allerdings greifen parallel dazu auch Vermeidungsmechanismen. Wenn beispielsweise die Nachrichtenagentur Kyodo im Zusammenhang mit der jüngsten Horrormeldung mitteilt, daß vierzehn Kommunalregierungen den geernteten Reis auf eine mögliche Kontamination mit Cäsium prüfen werden, dann fragt man sich, ob das bislang nicht selbstverständlich war. Und warum nur vierzehn und nicht alle Kommunalregierungen? Immerhin wurden nicht nur aus dem Norden Japans verstrahlte Lebensmittel (Milch, Fleisch, Gemüse) gemeldet, sondern auch aus dem Süden Tokios (Tee). Da sollte man eigentlich annehmen, daß das Grundnahrungsmittel Reis lückenlos überwacht wird.

Das nicht zu tun, zeugt von einer Ignoranz der Regierung gegenüber der Bevölkerung, die nahtlos an die Weigerung anknüpft, eine größere Evakuierungszone um das havarierte Akw zu ziehen. Außerhalb der 20 bzw. 30 Kilometer durchmessenden Zone wurden Strahlencluster registriert, deren Intensität denen der Todeszone von Tschernobyl entspricht. Die Bevölkerung erscheint hier als bloße Manövriermasse, die nach Belieben verschoben wird. Gleichzeitig muß diese vermeintliche Manövriermasse beruhigt werden, denn sie hat durchaus das Potential, Regierungen zu stürzen, wie in einer anderen Weltregion der sogenannte arabische Frühling beweist. Der zeigt allerdings auch, daß die vorherrschenden Kräfte sich nicht so leicht geschlagen geben und durchaus ihren Fuß in der Tür zu den Nachfolgeregierungen setzen können, zumal die Protestbewegungen ziemlich uneinheitliche Interessen verfolgen.

Bezogen auf die Lage in Japan bedeutet das, daß hier die Anti-Akw-Bewegung erst nach dem Fukushima-GAU zu der Einsicht gelangt ist, daß es nicht reicht, nur gegen Atomwaffen zu protestieren, daß man auch gegen die zivile Nutzung der Atomenergie zu Felde ziehen muß [3] und daß man in der Wachsamkeit nicht nachlassen darf, mag die Medienmacht der Akw-Betreiber noch so überwältigend erscheinen. Das wird in einem Bericht der Süddeutschen Zeitung recht anschaulich geschildert. [4]

Zweifel kommen auf, ob die Anti-Akw-Bewegung in Japan und anderen Industriestaaten, so unterstützenswert ihr Anliegen auch ist, jemals über den Tellerrand ihres von vornherein definitorisch eng gefaßten Protestanliegens hinausgelangt - womit nicht die Verknüpfung dieser Bewegung mit den Anti-Kohleprotesten gemeint ist, wie sie in Deutschland, England und anderen Ländern in den letzten Jahren aufgekommen sind. Es bliebe letzlich ungenügend, eine einzelne Branche innerhalb des prinzipiell nach Profitkriterien tätigen Wirtschaftssystems an den Pranger zu stellen. Dadurch erhielten lediglich alle anderen Branchen eine demgegenüber weiße Weste.

Es enthebt die Akw-Betreiber nicht im mindesten von ihrer Verantwortung, wenn man feststellt, daß sie innerhalb des vom System vorgegebenen Rahmens alles tun, um erfolgreich zu wirtschaften. Dazu gehört dann auch die Beeinflussung von Politikern, Fernsehkanälen und Zeitungen durch "Zuwendungen", um sich eine gegenüber der Atomwirtschaft wohlmeinende Politik zu erkaufen. [4] Solche mafiösen Methoden sind in der gesellschaftlichen Verwertungsordnung angelegt und keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal des Kapitalismus. Die Frage, wie Menschen dazu gebracht werden, daß sie beherrschbar sind, sollte nicht mehr nur aus der Sicht der Herrschenden gestellt werden. Der GAU von Fukushima Daiichi und die gegenüber der Bevölkerung verächtliche Politik könnte den Anstoß liefern, die Form des Zusammenlebens von Menschen und ihre Verwertung innerhalb der vorherrschenden Produktions- und Reproduktionsverhältnisse grundlegend zu hinterfragen.

Fußnoten:

[1] "Höchste Radioaktivität in Fukushima seit Beben", SZ, 1. August 2011
http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1187307

[2] "Fukushima radiation reaches lethal levels", The Guardian, 2. August 2011
http://www.guardian.co.uk/world/2011/aug/02/japan-nuclear

[3] "Demonstration in Fukushima - Tepco misst Rekordstrahlung", n-tv, 1. August 2011
http://www.n-tv.de/panorama/Tepco-misst-Rekordstrahlung-article3950101.html

[4] "Japan: Fukushima und die Atomlobby Schmieren, lügen, tricksen", SZ, 26. Juli 2011
http://www.sueddeutsche.de/politik/japan-fukushima-und-die-atomlobby-schmieren-luegen-tricksen-1.1124577

2. August 2011