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ATOM/447: Strahlen - nach uns die Sintflut ... (SB)



Erst knapp drei Jahre nach der Explosion eines Atommüllfasses in dem unterirdischen Endlager WIPP (Waste Isolation Pilot Plant) am 14. Februar 2014 in der Nähe von Carlsbad, US-Bundesstaat New Mexico, war die Anlage wieder in Betrieb genommen worden. Bei dem Vorfall wurden 22 Arbeiter leicht verstrahlt, die Kosten der Schadensbehebung belaufen sich voraussichtlich auf über zwei Milliarden Dollar, und die Verantwortlichen sind bis auf die Knochen blamiert. Wurden doch versehentlich die Fässer zwecks Bindung von Feuchtigkeit anstelle mit anorganischem Katzenstreu auf Basis des Minerals Zeolith mit organischem Katzenstreu auf Weizenbasis befüllt. Daraufhin kam es im Faß mit der Nummer #68.660 zu einer chemischen Reaktion, Hitzeentwicklung und schließlich Explosion. Die Betreiber der Anlage können von Glück reden, daß nicht weitere der eingelagerten rund 700 Fässer in die Luft gegangen sind und daß dies zu einer Zeit geschah, als sich keine Arbeiter in der mehrere hundert Meter tiefen, in Salzgestein angelegten Einrichtung aufhielten.

War also einfach nur die Verwechslung von Katzenstreu die Ursache des Unfalls, wie von den nationalen und internationalen Medien kolportiert und wie es auch eine offizielle Untersuchungskommission des US-Energieministeriums, das Accident Investigation Board, dargestellt hat?

Nein, behauptet der Kulturanthropologe Vincent Ialenti, diese Darstellung verkürze das Problem auf unzulässige Weise. Der Hintergrund, weswegen niemand verhindert hat, daß das falsche Katzenstreu eingesetzt wurde, sei entscheidend. Das US-Energieministerium und die Staatsregierung von New Mexico wollten die Fertigstellung des neuen Endlagers und die Einlagerung der Fässer mit Atommüll aus der militärischen Anwendung beschleunigen. Die Arbeit wurde von den als zu langsam angesehen Los Alamos National Laboratories abgezogen und dem Subunternehmen EnergySolutions übergeben. Zugleich wollte die Gouverneurin von New Mexico, Susana Martinez, die WIPP noch vor den Wahlen 1994 eröffnen und hat ebenfalls Druck ausgeübt, damit die Sache schneller vonstatten geht.

Dabei sei eine Kultur der Beschleunigung von Abläufen und gleichzeitig Vernachlässigung von Sicherheitsvorkehrungen entstanden, berichtete Ialenti im "Bulletin of the Atomic Scientists" vom 26. Juni 2018. Unter anderem mit Unterstützung der MacArthur Foundation und der Elliott School of International Affairs der George Washington Universität hatte er 2017 und 2018 insgesamt zehn Wochen in der WIPP und anderen beteiligten Einrichtungen von New Mexico recherchiert und dabei 43 Interviews geführt, um den Sachverhalt aufzuklären. Im Mittelpunkt der Rechercheergebnisse steht immer wieder die Initiative "3706 Campaign", die im Jahr 2012 von den Los Alamos Laboratories, dem Energieministerium und dem Bundesstaat New Mexico losgetreten worden war, um den Transport von Transuranabfall von Los Alamos in die Pilotanlage WIPP zu beschleunigen.

Der politische Druck entstand auch deshalb, weil sich im Jahr 2011 Waldbrände bis auf wenige Kilometer der Area G genähert hatten, wo das Los Alamos Lab kaum gesicherte Transuranabfälle oberirdisch lagerte. "Quick to WIPP" - schnell nach WIPP - lautete damals das Motto eines Projekts von Los Alamos. Daraufhin haben das US-Energieministerium und die Staatsbehörden von New Mexico die Initiative "3706 Campaign" losgetreten. Hierbei sollten mit erhöhter Geschwindigkeit 3.706 Kubikmeter Transuranmüll von Los Alamos in das Endlager gebracht werden.

Rund um die Uhr wurde der Atommüll in der Waste Characterization, Reduction, and Repackaging Facility (WCRRF) von Los Alamos charakterisiert, reduziert und neu verpackt, so daß er auf die Reise geschickt werden konnte. Dazu wurden allerdings nicht die Arbeiter von Los Alamos eingesetzt, die laut Ialenti in dem Ruf standen, jedes Atommüllfaß als "wissenschaftliches Experiment" zu behandeln und es in "geologischer Geschwindigkeit" weiterzuleiten, sondern damit wurde das erwähnte Subunternehmen EnergySolutions beauftragt, das neue Leute eingestellt hat. Die hatten keine Ahnung vom Umgang mit radioaktivem Müll und wurden lediglich im Schnellverfahren eingewiesen. Darüber hinaus hat man an Aufsehern gespart. Beides trug dazu bei, daß niemand den Katzenstreu-Irrtum entdeckt hat.

Zudem arbeitete EnergySolutions für sich, hielt sich geradezu bedeckt, und es gab auch niemanden, der ständig die Übersicht über den gesamten Transport- und Verpackungsprozeß innehatte. Bis zu dem Unfall galt das WCRRF-Team als äußerst effektiv. Von allen Seiten wurde es in höchsten Tönen gelobt, denn es übererfüllte den Zeitplan. Geldmittel, die zuvor für Umweltschutzmaßnahmen vorgesehen waren, flossen nun in den Arbeitsprozeß.

Die Meldung eines Arbeiters von gelbem Rauch und Schaumbildung bei der Behandlung des Abfalls habe nicht zur Unterbrechung der Arbeit geführt, berichtete Ialenti. Verschiedene Interviewpartner hätten ihm gegenüber angegeben, ein Aufseher habe derartige Meldungen damit beantwortet, daß man kein Chemiker sei und sich wieder an die Arbeit machen solle. Einem Arbeiter, der über Schmerzen in der Brust klagte, sei medizinische Hilfe verweigert worden, und Bedenken hinsichtlich der Sicherheit seien regelmäßig so beantwortet worden: "Wenn du ein Problem hast, da draußen gibt es eine Menge Leute, die liebend gern deinen Job übernehmen würden."

Der Kulturanthropologe beschreibt in seinem Bericht noch eine Vielzahl weiterer, teils haarsträubender Faktoren, die zu dem Unfall beigetragen haben, bis dahin, daß die Kommunikationsstörungen zwischen den Beteiligten offenbar so weit gingen, daß die einen bei der Beschreibung des Katzenstreus von "unorganic" (z. Dt. anorganisch) sprachen, andere aber "in organic" (z. Dt. "in organisch") verstanden, also das genaue Gegenteil davon.

Die mit falschem Katzenstreu befüllten Fässer in Los Alamos wurden wieder geöffnet, und der Inhalt wurde neu verpackt. Die bereits in der WIPP eingelagerten Fässer wurden in mehreren Kammern, die mit Stahltüren gesichert wurden, unter Verschluß gebracht. Weitere einhundert falsch befüllte Fässer, die schwach radioaktiven Abfall enthalten, befinden sich in einem Lager in Andrews County, Texas, das von dem Privatunternehmen Waste Control Specialists betrieben wird. Die Initiative "3706 Campaign" wird fortgesetzt. WIPP wird weiter beladen.

Ganz am Ende, irgendwann zwischen 2025 und 2035, soll die gesamte Anlage mit mehreren Schichten aus Zement und Erde versiegelt werden. Salz wird in die Hohlräume geleitet und alles abdichten, so die Hoffnung. Oberhalb des Endlagers wird man ein Schild mit einer Warnung aufstellen, die sinngemäß lautet: "Vorsicht, Strahlenmüll! Hier nicht buddeln!" Dann wissen die Menschen in Zehntausenden von Jahren Bescheid. Kommunikationsprobleme gibt es nicht, hat es nie gegeben ...

Summa summarum läßt sich sagen, daß die Kultur der Beschleunigung im Zusammenhang mit der Hinterlassenschaft eines halben Jahrhunderts Kernwaffenproduktion zu einem Schuß in den eigenen Fuß geriet. Ähnlichkeiten dieser Vorfälle mit dem laxen Umgang mit Nuklearabfall im ehemaligen Salzbergwerk Asse in Niedersachsen, in dem über 125.000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktivem Atommüll lagern und nun wegen der Verseuchung des Grundwassers geborgen werden sollen, sind selbstverständlich rein zufällig und deuten keineswegs auf einen grundsätzlichen Irrtum der Annahme hin, die Kernspaltung sei beherrschbar, ob sie nun militärische oder zivile Funktionen erfüllt.

20. Juli 2018


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