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KLIMA/320: Arktis - Dauereis nimmt ab, Konfliktpotential wächst (SB)


Messungen belegen fortgesetzten Verlust des Dauereises in der Arktis

Arktische Anrainerstaaten bauen ihre militärische Präsenz aus

Außenminister Steinmeier hält Zwang und Gewalt für ungeeignete Mittel, um die Ursachen des Klimawandels zu bekämpfen


In diesem Winter herrschen in einigen Regionen der Arktis besonders tiefe Temperaturen. Deshalb hat das Meereis eine entsprechend große Fläche eingenommen. Wie die US-Raumfahrtbehörde NASA diese Woche berichtete, gilt dies jedoch nur für das dünne, einjährige Meereis. Wohingegen die Fläche und Mächtigkeit des dickeren, stärker verdichteten Dauereises wie in den Vorjahren weiter geschrumpft ist. Da zuverlässige Prognosen über die Temperaturen in der Arktis in kommanden Sommer kaum möglich sind, der Verlust des mehrjährigen Eises aber einen klaren Trend aufzeigt, wagen Forscher die Vermutung, daß die letztjährige Rekordschmelze sogar noch überboten werden könnte. Falls das zutrifft, könnte das bedeuten, daß es sehr viel früher als angenommen zu einer Konfrontation der Arktisanrainerstaaten über die Nutzung der natürlichen Ressourcen sowie der Schiffahrtswege kommt.

Vor zehn, zwanzig Jahren hätte sich kaum ein Wissenschaftler vorstellen können, wovon ihre Kollegen heute bereits mit Sicherheit ausgehen. Damals wurde spekuliert, ob der Nordpol wohl noch in diesem Jahrhundert gänzlich eisfrei wird oder nicht. Im Laufe der Jahre rückte der prognostizierte Zeitpunkt, für den dies angenommen wurde, immer näher heran, inzwischen sind manche Forscher schon beim Jahr 2030 angekommen. Würde man die Prognosen in ein Diagramm zeichnen und mit einer Linie verbinden, so werden die Wissenschaftler noch in diesem Jahrzehnt voraussagen, daß der Nordpol binnen kurzem eisfrei sein wird.

Dazu paßt auch eine Erklärung der NASA vom 18. März 2008. Jüngste Satellitenbeobachtungen zeigen, daß das Meereis in diesem Jahr saisonbedingt eine große Ausdehnung erreicht hat, daß aber trotzdem aufgrund des langfristigen Trends der Erderwärmung der Rückgang des mehrjährigen Eises vorangeschritten ist. Dieses Dauereis hatte in der Vergangenheit 50 bis 60 Prozent der Arktis bedeckt, in diesem Jahr sind es nicht einmal 30 Prozent. Mitte der achtziger Jahre nahm das mindestens sechsjährige Meereis 20 Prozent der Arktis ein, in diesem Winter nur noch sechs Prozent.

Zudem machte der Wissenschaftler Walter Meier vom National Snow and Ice Data Center (NSIDC) der Universität von Colorado in Boulder darauf aufmerksam, daß selbst das sechsjährige Eis durchschnittlich dünner ist als in der Vergangenheit und daß es sich deshalb zu Beginn der wärmeren Saison in einem empfindlicheren Zustand befindet. Er und sein Kollege Mark Serreze rechnen mit einem starken Eisverlust in diesem Jahr. Abhängig vom Wetter könnte die Rekordschmelze vom vergangenen Jahr übertroffen werden, meinten sie (AP, 18. März 2008).

Die maximale Meereisfläche ist in diesem Jahr 3,9 Prozent größer als der Durchschnitt der letzten drei Jahre, liegt aber immer noch 2,2 Prozent unter dem langfristigen Durchschnitt. Auch diese Entwicklung paßt zu der Rekordschmelze gegen Ende des arktischen Sommers im September 2007. Damals war die Meereisfläche auf 40 Prozent des Durchschnitts der seit 28 Jahren durchgeführten Messungen geschrumpft. Satellitenbilder zeigten, daß die Nordwestpassage eine recht komfortable eisfreie Breite erreicht hatte. Wissenschaftler wirkten alarmiert ob dieser Entwicklung. Bereits im Hochsommer wurde die Frage aufgeworfen, wie weit sich das arktische Meereis wohl in diesem Jahr zurückziehen wird. Regelmäßig teilten Forscher den jüngsten Stand mit und als am Ende das Endergebnis feststand, wirkten die Experten trotz ihrer üblichen berufsständischen Zurückhaltung ein wenig fassungslos.

Die aktuelle NASA-Mitteilung knüpft genau da an und setzt den eingeschlagenen Weg fort. Man darf sich nicht täuschen lassen, nur weil es in Grönland und anderen arktischen Regionen in diesem Winter besonders kalt war und sich das saisonale Meereis in Bereiche erstreckt, wo es die letzten Jahre nicht gesehen wurde. Das saisonale Meereis trägt seine Bezeichnung aus gutem Grund, es verschwindet innerhalb einer Saison.

Ein wichtigerer Indikator für die langfristige Klimaentwicklung in der Arktis bildet das mehrjährige Meereis, und das ist trotz der Wintersaison weiter geschrumpft. Zum einen hat sich unterhalb des Eises aufgrund der höheren Wassertemperaturen weniger neues Eis angelagert, zum anderen wurde es aufgrund von Wind- und Meeresströmungen in südlichere Breiten gedrängt, wo es aufschmelzen konnte. Die NSIDC, die teils von der NASA finanziert wird, berichtete, daß der Anteil des mehrjährigen Eises am gesamten Meereises von 40 Prozent im vergangenen auf 30 Prozent in diesem Jahr geschrumpft ist.

Es hat den Anschein, als ließen diese natürlichen Entwicklungen den Menschen nur wenig Zeit, die ungelösten Konflikte in der Arktis in Angriff zu nehmen. Vor einer Woche hatten der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier und sein britischer Amtskollege David Miliband in einem gemeinsamen Papier mit dem Titel "Europa muss sich den sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels stellen", vor einem "Wettlauf um knappe Ressourcen" gewarnt:

"Wenn der Meeresspiegel ansteigt und die Eiskappen schmelzen, könnten neue Konflikte über sich verschiebende Seegrenzen entstehen. Dies ist kein Untergangszenario. So sieht es eine wachsende Zahl von Sicherheitsexperten auf der Grundlage der Erkenntnisse von Klimawissenschaftlern voraus. Ihre Schlussfolgerungen verlangen nach einer klaren und kohärenten außen- und sicherheitspolitischen Antwort."

Und hinsichtlich der territorial ungeklärten Verhältnisse in der Arktis hieß es weiter:

"Wir müssen uns bereits heute fragen, wie der Klimawandel den strategischen Kontext der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren beeinflussen wird. So wirft das Abschmelzen der arktischen Eiskappe Fragen im Zusammenhang mit Ressourcen, der Abgrenzung von Meeresgebieten und von Schifffahrtsstraßen im Hohen Norden auf."
(http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Infoservice/Presse/ Interviews/2008/080313-klimasicherheit.html)

Steinmeier und Miliband sprachen sich für "eine europäische Arktispolitik" aus, erinnerten an das Völkerrecht beim Aufbau von Strukturen für die Arktisregion und forderten in diesem Zusammenhang "eine kooperative und friedliche Bewirtschaftung von Ressourcen" sowie die Bewahrung des "ökologischen Erbes der Menschheit".

Deutschland und Großbritannien zählen jedoch nicht zu den Arktisanrainerstaaten - im Unterschied zum EU-Mitgliedsland Dänemark, zu dem die Insel Grönland gehört. Es stellt sich die Frage, ob man in Kopenhagen unter einer "kooperativen Bewirtschaftung der Ressourcen" im Rahmen einer "europäischen Arktispolitik" das gleiche versteht wie in Berlin und London. Womöglich denken die Dänen da eher dänisch als europäisch, so wie in anderen EU-Mitgliedsländern hinsichtlich ihrer Ressourcen auch national gedacht wird.

Der Interessengegensatz innerhalb der Europäischen Union beziehungsweise Europas (der Arktisanrainer Norwegen zeigt keine Ambitionen, EU-Mitglied zu werden) dürfte allerdings geringfügig sein verglichen mit dem zwischen den USA, Rußland, Dänemark und Kanada. Es klingt wie ein Beschwörungsversuch, wenn Steinmeier und Miliband schreiben, es sei klar, daß "nicht mit Zwang oder Gewalt (...) die Ursachen des Klimawandels oder seine direkten Folgen" bekämpft werden können.

Tatsache ist, daß die Arktis gegenwärtig eine neue Phase der Militarisierung erfährt. Das gegenseitige Belauern von den USA und der Sowjetunion während des Kalten Kriegs mit Hilfe von U-Booten lieferte bekanntlich Stoff für eine Vielzahl von Spionageromanen und -filmen. Nun hat eine neue Ära der taktischen und strategischen Positionierung begonnen, die beteiligten Staaten stecken mit eindeutigen Drohgebärden ihre Claims ab.

Im vergangenen Jahr kündigte der kanadische Premierminister Stephen Harper zum Abschluß seiner mehrtägigen Arktisreise in der kleinen Gemeinde Resolute auf Cornwallis Island den Bau einer neuen Marinebasis in Nanisivik im Norden der Baffin-Insel und die Einrichtung eines militärischen Trainingszentrums in Resolute an. Desweiteren will Kanada die vornehmlich aus Inuit bestehenden paramilitärischen Rangers von 4100 auf 5000 Mann aufstocken, und die kanadische Küstenwache erhält acht neue Patrouillenboote. Rußland wiederum besitzt ohnehin eine starke militärische Präsenz in der Arktis. Von der Wrangel-Insel über die Bären-Insel, Franz-Josef-Land, Nowaja Semlja bis Murmansk erstreckt sich eine lange Kette von Marinestützpunkten. Die USA sind vor allem in Barrow (Nordalaska) und Thule (Grönland) vertreten.

Als russische Wissenschaftler im vergangenen Jahr eine aus Titan gefertigte Flagge am Meeresgrund des Nordpols aufstellten und damit auf gleiche Weise ihren territorialen Anspruch markierten wie die Amerikaner 1969 auf dem Mond, löste das in der westlichen Welt mal Empörung, mal ein verkrampft wirkendes Bemühen, das Hasardeurstück der Russen der Lächerlichkeit preiszugeben, aus. Es wäre übertrieben, in diesem Zusammenhang von Säbelrasseln bei den übrigen Arktisanrainerstaaten zu sprechen, aber es gab vernehmliche Reaktionen: Dänemark schickte eine Forschungsexpedition nach Norden, die prompt eine geologische Verbindung zwischen Grönland und den Lomonossowrücken, der sich von der Nordspitze Grönlands bzw. der kanadischen Ellesmere-Insel über den Nordpol bis nach Rußland erstreckt, festgestellt haben will; US-amerikanische Forscher befanden, daß sich der Festlandsockel des Bundesstaats Alaska weiter ins Meer erstreckt als ursprünglich angenommen, und Kanada erinnerte einmal mehr daran, daß es das gesamte Territorium nördlich der sogenannten Nordwestpassage beansprucht (was zum Ärger der Kanadier von den USA regelmäßig ignoriert wird).

Die Bestimmung der Grenze des Festlandsockels ist insofern wichtig, als daß nach der internationalen Seerechtskonvention darüber die Ausdehnung der exklusiven Wirtschaftsnutzungszone bestimmt wird. Die Arktis verheißt üppige Rohstoffvorkommen. Wissenschaftler des Geologischen Dienstes Kanadas vermuteten im Jahr 2000, daß hier rund 25 Prozent der weltweiten Öl- und Gasvorräte lagern. Zudem dürften im Meeresboden wertvolle Rohstoffe wie Zinn, Mangan, Gold und Diamanten liegen.

Selbst zwischen Dänemark und Kanada gibt es Streit. Man ist sich uneins über die Frage, zu wem die Hans-Insel gehört. Das drei Kilometer lange Eiland liegt in der Naresstraße zwischen der kanadischen Ellesmere-Insel und Grönland. Im Sommer 2002 kreuzten dänische Kriegsschiffe vor der Küste der Hans-Insel auf; angeblich haben dort Seeleute die dänische Flagge aufgestellt. Zwei Jahre später hat Kanada eben dort die bislang größte Militärübung, die jemals in der Arktis durchgeführt wurde, abgehalten. Die "Operation Narwhal" zog sich über drei Wochen hin, wurde gemeinsam von der kanadischen Marine, Armee und Luftwaffe durchgeführt und hatte ebenfalls den Zweck, Flagge zu zeigen (was auch im Beisein des kanadischen Verteidigungsministers Bill Graham vollzogen wurde). Oberst Norris Pettis, Kommandeur der Streitkräfte, erklärte:

"Dies ist das erste Mal, dass unsere Luft- Wasser und Landkräfte gemeinsam so weit nördlich operieren (...) und wir entsenden damit eine Botschaft, dass dieses Land wichtig für uns ist...., dass wir hier Truppen, Flugzeuge und Schiffe postieren, um auf alles zu reagieren, was auch immer auf uns zukommt.....Wir wollen hier eine militärische Präsenz aufbauen...unsere Muskeln zeigen (...) Wenn man Anspruch auf ein Land erheben will, dann muss man auch davon Gebrauch machen - man muss zeigen, dass man dort hingehen, bleiben und die Kontrolle behalten kann." (Telepolis, 14.4.2004)

Rußland hält immer mehr militärische Übungen in der Barentssee ab und kommt dabei häufiger norwegischem Territorium recht nahe. In einem an die Öffentlichkeit gelangten Geheimdossier des Oberbefehlshaber der norwegischen Armee, Sverre Diesen, schrieb dieser, daß es zu Konflikten zwischen Norwegen und Rußland über Energie- und andere natürlichen Ressourcen in der Arktis kommen könne. In einem Rundfunkinterview sprach Diesen sogar von einem "ernsten Konflikt" mit Moskau. Es bestehe keine "direkte Kriegsgefahr", aber es gebe eine "Grauzone", in der Rußland eine Herausforderung für die eigene, nationale Sicherheit darstelle (spiegel.de, 24.9.2007).

Im April vergangenen Jahres veröffentlichten sechs US-amerikanische Admirale und fünf Generale, die nicht mehr im aktiven Dienst standen, einen Bericht mit dem Titel "Die nationale Sicherheit und die Gefahr des Klimawandels". Sie erklärten darin, daß die Öffnung der Nordwestpassage eine neue Herausforderung darstelle und man über den Bau eigener Militärbasen nachdenken müsse. Es sei "allerhöchste Zeit", sich mit den geopolitischen Folgen des globalen Klimawandels auseinanderzusetzen, die USA müßten ihre Interessen in der vermutlich ressourcenreichen Arktis deutlich vertreten (http://securityandclimate.cna.org/report/).

In der letzten Woche wurde dem Rat der Europäischen Union ein von dem EU-Außenbeauftragten Javier Solana und der EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner erstelltes Papier über "Klimawandel und internationale Sicherheit" vorgelegt. Darin wurde ebenfalls das Aufstellen der russischen Flagge am Nordpol als Beispiel für das hohe Konfliktpotential der Arktis genannt und vor der Möglichkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit Rußland gewarnt (http://www.cons ilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressdata/DE/reports/99391.pdf)

All diese Beispiele belegen zwar keine akute Kriegsgefahr, aber eine hohe militärische Aufmerksamkeit für die polare Region durch die arktischen Anrainerstaaten. Steinmeier und Miliband vermeiden die eigentliche Brisanz, wenn sie erklären, daß ein Hurrikan nicht mit Gewalt aufzuhalten ist. Das hat auch niemand behauptet. Menschen hingegen lassen sich sehr wohl mit militärischen Mitteln davon abhalten, ihre Interessen wahrzunehmen.

So hat es am anderen Ende der Welt, in den südpolaren Breiten, tatsächlich schon einmal einen Krieg um ein an und für sich unbedeutendes Territorium gegeben: Falkland. Mehr als 1000 Personen kamen 1982 ums Leben, als Großbritannien die von Argentinien eingenommene Insel zurückeroberte. Bedeutung haben die Falkland-Inseln unter anderem wegen ihrer Nähe zur Antarktis und der Option einer zukünftigen Ressourcennutzung, sollte die allgemeine Erderwärmung zunehmen und sich auch der Eispanzer der Antarktis vom Rand her stärker auflösen - so, wie es bereits auf der Westantarktischen Halbinsel, deren Spitze in Richtung der Falkland-Inseln weist, geschieht.

Der aktuelle Bericht der NASA über den Rückgang des Dauereises in der Arktis zeigt, daß der Zeitpunkt, an dem die Anrainerstaaten ihre bislang ungelösten Interessensgegensätze auf welche Weise auch immer klären werden, deutlich nähergerückt sein dürfte.

20. März 2008