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KLIMA/424: Arktis - Weitreichende Folgen des Meereisverlustes (SB)


Forscher sagen für die Arktis größeren Verlust an Meereis voraus

Gefahr einer Klimaabkühlung für Europa nicht gebannt


Noch vor wenigen Jahren warnten Klimaforscher, daß der wärmeliefernde Nordatlantikstrom versiegen und Europa in Frost erstarren könnte. Das scheint sich zwar zunächst nicht zu bewahrheiten, da die aus dem Golf von Mexiko stammende Meeresströmung inzwischen wieder kräftiger geworden ist, aber die Gefahr einer kalten Periode für Westeuropa ist nicht vom Tisch. Die Beziehungen zwischen Meeresströmungen, Windsystemen, Temperatur und Niederschlägen sind derart komplex, daß kein seriöser Wissenschaftler es wagte, eine sichere Prognose abzugeben.

Das Erdklima verhält sich im Grunde genommen unberechenbar. Denn auch wenn die Forscher annähernd linear verlaufende Entwicklungen kennen und darauf aufbauend Aussagen über die zukünftige Entwicklung treffen können, käme es bei einer zuverlässigen Prognose vor allem auf die nicht-linearen Vorgänge an. Beispielsweise lassen Proxydaten, die unter anderem aus Baumringen, Eisbohrkernen, stratigraphischen Abfolgen von Sedimentgesteinen, etc. gewonnen werden, darauf schließen, daß es in der erdgeschichtlichen Vergangenheit zu abrupten Klimaveränderungen kam. Manchmal auch gegen den Trend, wie nicht zuletzt die umfangreich untersuchte und beschriebene Epoche des Jüngeren Dryas (12.900 bis 11.500 Jahre vor heute) beweist.

Als sich in der Zeit davor die Erde erwärmte und, soweit man das heute beurteilen kann, alles für eine Fortsetzung dieses Trends sprach, kam es binnen weniger Jahre zu einem drastischen Kälterückfall, der 1400 Jahre anhielt. Über die Ursache dieses Phänomens ist sich die Wissenschaft keineswegs einig; weitgehend Konsens herrscht nur darüber, daß irgendein Großereignis (Meteoriteneinschlag, Wegbrechen des Eisriegels in der Hudson Bay und somit plötzlicher Süßwassereintrag in den Nordatlantik) die sogenannte thermohaline Zirkulation des Nordatlantikstrom unterbrochen haben muß.

Gegenwärtig profitiert Westeuropa davon, daß eine kräftige nordatlantische Meeresströmung permanent Wärme heranbringt. Aufgrund der Verdunstung dieser Strömung nimmt der Salzgehalt und damit die Dichte des Wassers zu. Dadurch wird es schwerer, sinkt im Gebiet des Nordatlantiks ab und fließt unterwärts wieder nach Süden. Das erzeugt einen ständigen Sog, der thermohaline Zirkulation genannt wird. Ohne diesen Effekt besäßen die Westeuropäer ein Klima wie die Kanadier, die an eine rund fünf Grad niedrigere Durchschnittstemperatur gewöhnt sind. Solche kalten Verhältnisse besäßen weitreichende Folgen für die Landwirtschaft in Westeuropa, es wäre mit deutlich geringeren Erntemengen zu rechnen als heute.

Die Gefahr eines baldigen Versiegens des Nordatlantikstroms scheint nun doch nicht gegeben. Dennoch nehmen die Unsicherheiten über die Klimaentwicklung nicht etwa ab, sondern zu. So haben Forscher neue Indizien dafür gefunden, daß die Arktis in Zukunft noch wärmer wird und häufiger eisfreie Bedingungen herrschen als bisher angenommen. [1] Eine amerikanisch-britische Forschergruppe verglich die klimatischen Bedingungen, die in der Arktis vor 3,3 bis 3,0 Millionen Jahren herrschten, mit denen, die von Wissenschaftlern des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) noch für dieses Jahrhundert prognostiziert werden. Wissenschaftler unter anderem des U.S. Geological Survey stellten fest, daß vor drei Millionen Jahren die Sommertemperatur des arktischen Oberflächenwassers zwischen 10 und 18 Grad Celsius lag - heute beträgt sie jedoch höchstens 0 Grad Celsius.

Sollten die Temperaturen in der Arktis steigen, wie es erdgeschichtlich mehrfach vorkam, ginge damit ein deutlicher Verlust der Meereisbedeckung einher. Das würde die Erwärmung zusätzlich beschleunigen. Dieser sich selbst verstärkende Effekt ist bekannt und vielfach beschrieben. Die Forscher leiten jedoch aus einer solchen Entwicklung weitere Aspekte ab: Ohne die Meereisbedeckung nimmt die Intensität des Wellengangs deutlich zu, was zu vermehrten Erosionen an den Küsten und einer stärkeren Durchmischung der Meeresschichten führt; in West- und Südeuropa werden die Winterniederschläge zunehmen, in Westamerika dagegen wird es weniger regnen; Eisbären und Seelöwen, die auf die Eisbedeckung angewiesen sind, müßten sich aus vielen Gebieten zurückziehen.

In einer weiteren wissenschaftlichen Studie zur Meereisbedeckung der Arktis [2] haben US-Forscher am Beispiel der nördlichen Tschuktschen-See den Unterschied von eisfreiem und eisbedeckten Meerwasser hinsichtlich der Auswirkungen des Winds auf den Wellengang untersucht. Selbst starke Stürme übten keinen nennenswerten Einfluß auf das Oberflächenwasser aus, sobald das Meer von Eis bedeckt war, berichteten die Forscher. Aber in der eisfreien Zeit sorgten örtliche Stürme für beständige Strömungen entlang der Wassersäule und mischten Tiefen- mit Oberflächenwasser. Diese interne Wellenaktivität würde in einer zuvor ruhigen, künftig aber eisfreien Arktis zu einer dramatischen Vermischung der oberen Meeresschicht führen, was erhebliche Auswirkungen auf die Ökosysteme und die ozeanische Dynamik besäße, hieß es.

Kein unmittelbarer Gegenstand dieser Studie: Eine Annäherung der heutigen Wärmeverteilung auf der Erde an Verhältnisse, wie sie vor gut drei Millionen Jahren herrschten, könnte vielleicht sogar Einfluß auf den Nordatlantikstrom nehmen. Eine stärkere Durchmischung der Wasserschichten könnte verhindern, daß das schwere, salzhaltige Wasser kontinuierlich in bisheriger Form absinkt, so daß die Wärmepumpe West- und Nordeuropas plötzlich "irritiert" wäre und teils oder gänzlich ausfiele.

Das ist Spekulation, und aus den beiden oben erwähnten Studien lassen sich noch viele weitere Schlußfolgerungen ziehen. Wie zum Beispiel, daß von einem stärkeren Wellengang auch eine höhere Verdunstungsrate zu erwarten wäre, was das thermohaline Fördersystem sogar noch antriebe. Entscheidend ist der Unsicherheitsfaktor, der nach wissenschaftlichen Erkenntnissen hinsichtlich der Klimaentwicklung in diesem Jahrhundert zukommt. Damit wird nicht den sogenannten Klimawandelskeptikern das Wort geredet. Im Gegenteil. Während diese behaupten, daß der Mensch keinen besonderen Einfluß auf das Klima genommen hat und die Reduzierung von Treibhausgasen nicht erforderlich ist, sollte aus den obigen Studie hergeleitet werden, daß alle erdenklichen Maßnahmen ergriffen werden sollten, um auf möglich (und unmöglich) klimatische Entwicklungen vorbereitet zu sein.

Das vorherrschende politische System läßt es nicht zu, daß Staaten, ohne an die eigene Vorteilsnahme zu denken, für einander einstehen, wie die gescheiterten Verhandlungen der UN-Klimaschutzkonferenz in Kopenhagen beweisen. Aber vonnöten wäre ein globales Sicherungssystem, das zunächst einmal dafür sorgte, daß alle Menschen dauerhaft ausreichend Nahrung, feste Unterkünfte und genügend Energie zum Kochen und Heizen erhielten. Dem müßte auch und gerade mit Blick auf erratische Klimaveränderungen Priorität eingeräumt werden. Wird es aber nicht. Man muß annehmen, daß die Staats- und Regierungschefs, die die Klimakonferenz zum Scheitern brachten, andere Pläne verfolgen, als die Bevölkerungen auf katastrophale klimatische Verhältnisse vorzubereiten - was nicht mit "einstimmen" auf schwere Zeiten zu verwechseln ist!


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Anmerkungen:

[1] "Arctic Could Face Warmer and Ice-Free Conditions", U.S. Department of the Interior, U.S. Geological Survey, 29. Dezember 2009
http://www.usgs.gov/newsroom/article.asp?ID=2372

[2] Rainville, L., and R. A. Woodgate (2009): "Observations of internal wave generation in the seasonally ice-free Arctic", Geophysical Research Letters, 36, L23604, doi:10.1029/2009GL041291.

4. Januar 2010