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KLIMA/562: Breite Diskussion über Hansen-Studie zum plötzlichen Meeresspiegelanstieg (SB)


Neue Klimastudie - viele Küstenstädte müssen noch in diesem Jahrhundert aufgegeben werden

"Die Wissenschaft sagt uns, daß wir einen Notfall haben. Wenn wir wollen, daß unsere Kinder und Enkelkinder einen Planeten erben, der ihnen nicht außer Kontrolle gerät, müssen wir die Emissionen so schnell wie möglich reduzieren."
(James Hansen, Klimaforscher, CNN [1])


James Hansen, ehemaliger leitender Klimaforscher der US-Raumfahrtbehörde NASA, hat gemeinsam mit 16 Kolleginnen und Kollegen eine neue Studie herausgegeben, derzufolge der Meeresspiegel bis 2050 um drei Meter steigen könnte. Demnach werde sich der Eisverlust in der Westantarktis und Grönland alle zehn Jahre verdoppeln, also einen exponentiellen Verlauf nehmen. [2] Kritiker wenden ein, daß die Studie vor der Veröffentlichung in dem Journal "Atmospheric Chemistry and Physics Discussions" [3] der European Geosciences Union nicht dem üblichen Peer-Review unterzogen wurde, sondern daß Hansen ein Verfahren gewählt hat, bei dem die Diskussion und Begutachtung nach der Veröffentlichung erfolgt.

Manche Kritik an der Hansen-Studie will den Eindruck erwecken, diese beruhe allein deshalb auf keiner soliden wissenschaftlichen Basis, weil sie erstens nicht vorweg von anderen Wissenschaftlern überprüft wurde und zweitens die bisherigen Hochrechnungen zum Meeresspiegelanstieg deutlich übertrifft.

Solchen Einwänden ist zu entgegnen, daß an der Studie 17 Personen gearbeitet haben, die auf ihren jeweiligen Gebieten Expertinnen bzw. Experten sind. Auch wenn die Kommunikation innerhalb der Forschergruppe keinen Ersatz des Peer-Review-Verfahrens darstellt, wäre der Eindruck, die Arbeit sei deshalb ein Schnellschuß bar jeden wissenschaftlichen Anspruchs, fehlgeleitet.

Als Vergleich zu den Berechnungen der Hansen-Studie wird der 5. Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) herangezogen, in dem von einem Anstieg des Meeresspiegels um rund einen Meter bis Ende des Jahrhunderts gesprochen wird. [4] Das ist ein ungünstiger Vergleich, denn im IPCC-Bericht werden noch nicht die jüngsten Satellitenbeobachtungen, die eine erhebliche Beschleunigung des Eisverlusts von Grönland, der Westantarktischen Halbinsel und sogar Teilen der bis vor kurzem noch als dauerhaft stabil angesehenen Ostantarktis zeigen, berücksichtigt. Ohnehin gelten die Angaben des IPCC zum Meeresspiegelanstieg als konservativ, das geht auch aus einer vor rund einem Jahr erschienenen Studie mit dem Titel "Expert assessment of sea-level rise by AD 2100 and AD 2300" hervor. Darin wird von einer höheren Geschwindigkeit, mit der der Meeresspiegel steigt, ausgegangen. [5]

Hansens als "extrem" verunglimpfte Projektionen ragen keineswegs einzigartig aus dem heraus, was wissenschaftliche Erkenntnisse über vergangene Klimate hervorgebracht haben. Abgesehen von dem Eem-Interglazial vor 120.000 Jahren - der letzten Warmzeit vor dem Holozän genannten heutigen Erdzeitalter -, die Hansen als Vergleich heranzieht, soll der Meeresspiegel vor noch kürzerer Zeit, nämlich vor rund 14.500 Jahren, innerhalb weniger hundert Jahre global um etwa 20 Meter angestiegen sein. Das sind demnach mehrere Meter pro Jahrhundert. Das Ereignis wird in der Fachliteratur als "Schmelzwasserpuls 1A" beschrieben. Auslöser könnte nach Ansicht der Wissenschaft ein kollabierender Eisschild, der entweder in der Antarktis oder zwischen Grönland und Kanada lag, gewesen sein. Dabei handelt es sich also um ein Ereignis, wie es ähnlich für die gegenwärtig in Auflösung begriffenen Eismassen der Westantarktis angenommen wird.

Auch das ist ein Indiz dafür, daß Hansen zwar, was sein politisches Engagement betrifft - Abschied von der NASA, um keinen Maulkorb tragen zu müssen; Unterstützung von Klimaaktivistinnen und -aktivisten; mehrmalige Verhaftung vor dem Weißen Haus wegen Demonstrierens für den Klimaschutz, etc. - ein Außenseiter unter den Wissenschaftlern ist, aber nicht unbedingt in Hinsicht seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Hansen übertrifft zwar mit seinen Annahmen zur Geschwindigkeit des Meeresspiegelanstiegs frühere Untersuchungen, aber er ist wiederum nicht der Verrückte ohne jede wissenschaftliche Bodenhaftung, als der er schon in der Vergangenheit von interessierten Kreisen (US-Republikaner, Tea Party ...) beschrieben wurde. [6]

Vor 120.000 Jahren lag die globale Durchschnittstemperatur den Berechnungen zufolge nur rund ein Grad Celsius über dem heutigen Wert, der Meeresspiegel soll aber fünf bis neun Meter höher gewesen sein. Ein Anstieg der Durchschnittstemperatur um zwei Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, wie es gegenwärtig von der Politik als Ziel für internationale Klimaschutzverhandlungen ausgewiesen wird, sei deshalb "hochgradig gefährlich", heißt es in der Hansen-Studie. Das ist keine Einzelmeinung. Auch andere Wissenschaftler warnen, daß "zwei Grad" kein "Ziel", sondern eine Obergrenze ist, die nach Möglichkeit nicht überschritten werden sollte, und daß es günstiger wäre, den Temperaturanstieg niedriger zu halten. Der zahlenmäßig größere Teil der internationalen Staatengemeinschaft fordert sowieso die Einhaltung des "1,5-Grad-Ziels", und es ist kein Zufall, daß zu dieser Gruppe flache Inselstaaten sowie Entwicklungsländer wie Bangladesch gehören, die schwerwiegende Verluste erleiden werden, wenn das Meer steigt.

Hansens Studie sei "voller Spekulationen und Was-wäre-wenn-Szenarien" übt sich Kevin Trenberth vom National Center for Atmospheric Research in Kritik. [7] Das ist ein bemerkenswerter Einwand. In freier Auslegung der Aussage des Quantenphysikers Niels Bohr, wonach Prognosen schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, wäre Trenberth zu fragen: Welche Prognose gilt nicht für zukünftige Ereignisse? Selbstverständlich könnte er die Voraussetzungen von Hansens Projektionen in Frage stellen. Es wäre jedoch fehlgeleitet, wenn ausgerechnet seitens eines Wissenschaftlers die Tatsache an sich, daß die Studie auf Projektionen beruht, moniert wird.

Auch der Weltklimarat IPCC stellt Projektionen auf, bei denen unter bestimmten Ausgangsbedingungen bestimmte Ergebnisse herauskommen. Eines der Szenarien, die in dem im vergangenen Jahr vorgestellten IPCC-Bericht präsentiert werden, lautet, daß der Meeresspiegel global um rund einen Meter bis Ende des Jahrhunderts steigen könnte. Solche "Was-wäre-wenn-Szenarien" sind geradezu das Mark der IPCC-Sachstandsberichte.

Die aktuelle Studie ist auch deshalb so brisant, weil es ja nicht damit getan wäre, sollte der Meeresspiegel bis zum Jahr 2050 um drei Meter steigen. Die Entwicklung ginge weiter, wie Hansen in einem aktuellen CNN-Interview sagte: "Das bedeutet, daß die Küstenstädte ausfallen werden. Teile einer Stadt wären noch über dem Wasser, aber der Versuch, sie partiell neu zu bauen, würde keinen Sinn machen, weil das Wasser weiter steigt, wie man weiß. [...] Wir würden alle Küstenstädte in der Welt verlieren, und das erzeugt gewaltige Kosten, von denen jeder Mensch betroffen wäre, ob er an der Küste lebt oder nicht." [1]

Die Geochemikerin Andrea Dutton von der University of Florida, die vor kurzem im Wissenschaftsmagazin "Science" [8] berichtete, daß vor rund 125.000 Jahren der Meeresspiegel um mindestens sechs Meter gestiegen war, zählt zu denen, die an der Hansen-Studie nicht die angenommene Höhe kritisieren, die das Meer gestiegen sein soll, sondern den Zeitraum in Frage stellen, in dem das angeblich abgelaufen ist. "Die Geschwindigkeiten zu bestimmen, könnte eine Herausforderung sein, aber wir haben gerade erst begonnen, die Werkzeuge und Techniken zu entwickeln, um sie zu verstehen", meinte Dutton. [9]

Die Kritik an der Studie, daß sie nicht peer-reviewed wurde, erweist sich inzwischen als hinfällig. Wohl selten wurde eine Klimastudie in so kurzer Zeit von so vielen Seiten so intensiv begutachtet und auf mögliche Schwächen hin abgeklopft wie die Hansen-Studie. Das Netz ist voller, teilweise durchaus ergiebiger Debatten [10] und auch auf der Seite "Atmospheric Chemistry and Physics Discussions" haben sich schon mehr als ein halbes Dutzend Personen zu Wort gemeldet und ihre Bedenken geäußert - die mit Abstand meisten Kommentare unter den letzten hundert zur Diskussion gestellten Artikeln dieses Journals.

Wie gesagt, der größte Teil der Einwände gegen die Studienergebnisse bezieht sich auf die Geschwindigkeit, mit der das Meer noch in diesem Jahrhundert steigen soll, und weniger auf andere Projektionen wie beispielsweise die angenommene Entwicklung der Meeresströmungen oder die Zunahme der Sturmaktivität. Wenn man einmal der Kritik folgt, daß in der Hansen-Studie eine erdgeschichtlich beispiellose Entwicklung unterstellt wird, würde sich sofort die Frage anschließen, ob es denn für dieses Extrem irgendwelche Indizien gibt. Die Antwort darauf müßte lauten: Ja, es gibt Indizien, nämlich die menschlichen Aktivitäten. In der Hansen-Studie heißt es dazu:

"Selbst wenn das Anthropozän vor Jahrtausenden einsetzte, wurde eine fundamental andere Phase, ein Hyper-Anthropozän, durch den explosionsartig steigenden Verbrauch von fossilen Treibstoffen im 20. Jahrhundert ausgelöst. Die menschengemachten Klimatreiber übertreffen inzwischen die natürlichen." [3]

Unsere Analyse zeichnet ein anderes Bild als der IPCC, wie sich jene Hyper-Anthropozän genannte Phase weiterentwickelt, sollten die globalen Treibhausgasemissionen in einer so hohen Geschwindigkeit zunehmen, daß Wärmeenergie in die Ozeane gepumpt wird, schreiben die Studienautorinnen und -autoren und resümieren: "Wir ziehen daraus den Schluß, daß ein Meeresspiegelanstieg um mehrere Meter unvermeidbar ist."

Durch das Verbrennen fossiler Energieträger ist die Konzentration des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid (CO2) in der Erdatmosphäre auf mehr als 400 ppm (parts per million) gestiegen. Seit Millionen von Jahren war der CO2-Gehalt nicht so hoch, und die Erde steuert nun auf 450 ppm zu, die voraussichtlich innerhalb der nächsten 25 Jahre erreicht werden. Das könnte bedeuten, daß alle erdgeschichtlichen Trends, in denen der Meeresspiegel rasch gestiegen war (und zwar nicht als Folge tektonischer Bewegungen) - das betrifft also auch das Eem-Interglazial und den Schmelzwasserpuls 1A - aufgrund des menschlichen Einflusses nochmals verstärkt werden. Vielleicht werden auf dem Planeten Verhältnisse eintreten, für die es keine Vorbilder gibt. Die gesamte Erdgeschichte könnte man als Aneinanderreihung einzigartiger Bedingungen bezeichnen.

Als Beispiel, welche Folgen ein wärmeres Meer auf Gletscher haben könnte, dient womöglich der nach Antarktis und Grönland drittgrößte Eispanzer der Welt. Der Austfonna-Eisschild auf dem norwegischen Archipel Spitzbergen verliert rapide Eis. Wissenschaftler berichteten, daß er an seiner südöstlichen Flanke innerhalb von zwei Jahren um bis zu 50 Meter ausgedünnt ist. Das entspricht rund einem Sechstel seiner durchschnittlichen Mächtigkeit. Einige Gletscher fließen 25 mal schneller ins Meer als früher, ihre Geschwindigkeit hat von jährlich 150 Meter (1995) auf 3,8 Kilometer (2014) zugenommen. Die Massenbewegung ist auch 50 Kilometer weiter im Landesinnern zu beobachten und könnte schon bald den höchsten Punkt des Eisschilds erfassen. Die Ursache des Eisverlustes wird noch untersucht, auffällig ist jedoch, daß das Meerwasser in jener Schmelzregion des Austfonna-Eisschilds vier Grad Celsius höher liegt (2006-2008) als der Durchschnitt der letzten vierzig Jahre. [11]

Nun weiß man, daß der Austfonna-Eisschild empfindlich auf regionale Klimaveränderungen reagiert, insofern lassen sich hieran keine langfristigen globalen Trends ableiten. Aber um zu veranschaulichen, wie warmes Meerwasser Gletscher auf Trab bringen kann, bietet das Eis auf Spitzbergen ein treffendes Bild. Selbst die Kritiker der Hansen-Studie räumen ein, daß er einen wichtigen Punkt angesprochen hat, der weiter erforscht werden muß. Fragt sich nur, wieviel Zeit dafür bleibt ...


Fußnoten:

[1] http://cnnpressroom.blogs.cnn.com/2015/07/26/dr-james-hansen-gives-his-idea-to-curb-climate-change-on-fareed-zakaria-gps/

[2] Näheres dazu im Schattenblick unter:
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/redakt/umkl-560.html

[3] http://www.atmos-chem-phys-discuss.net/15/20059/2015/acpd-15-20059-2015-discussion.html

[4] http://www.washingtonpost.com/news/energy-environment/wp/2015/07/20/the-worlds-most-famous-climate-scientist-just-outlined-an-alarming-scenario-for-our-planets-future/

[5] http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0277379113004381

[6] http://www.cato.org/blog/current-wisdom-hansens-extreme-sea-level-rise-projections-drowning-hubris

[7] http://www.climatecentral.org/news/dire-climate-warning-questions-19268

[8] http://www.sciencemag.org/content/349/6244/aaa4019

[9] http://www.climatecentral.org/news/dire-climate-warning-questions-19268

[10] Beispielsweise wird auf dem Blog "Climate Etc." von Prof. Judith Curry von der School of Earth and Atmospheric Sciences des Georgia Institute of Technology ausgiebig über die Hansen-Studie diskutiert:
http://judithcurry.com/2015/07/26/hansens-backfire/

[11] http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/2014GL062255/pdf

28. Juli 2015


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