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KLIMA/588: Instabilitäten am Ende der Welt (SB)


Der Totten-Gletscher in der Antarktis ist hochgradig instabil

Forscher rechnen mit langfristigem Abschmelzen - Meeresspiegelanstieg um zwei Meter bis Ende des Jahrhunderts prognostiziert


Jahrein, jahraus drehen sich Sonne, Mond und Planeten zuverlässig um die Erde ... und die Antarktis hat einen kilometerdicken Eispanzer, der noch Jahrtausende stabil ist. Das dachte man zumindest in der Vergangenheit. Während jenes geozentrische Weltbild mit der Erde als Mittelpunkt des kosmischen Geschehens schon seit rund 400 Jahren nicht mehr verbreitet wird, setzt sich erst seit einigen Jahren die eigentlich banale, da aus der rekonstruierten Erdgeschichte längst belegte Beobachtung durch, daß auch der antarktische Eisschild wohl doch nicht so stabil ist wie angenommen.

Von der Westantarktischen Halbinsel, die im Bogen auf Südamerika zuführt, weiß man schon länger, daß ihre Eismassen starken Schmelzprozessen ausgesetzt ist, nicht zuletzt weil die Basis der Gletscher unterhalb des Meeresspiegels liegt und von warmen Meeresströmungen angegriffen wird. Seit wenigen Jahren werden aber auch mehr und mehr Berichte renommierter Forschungsinstitute veröffentlicht, nach denen der sehr viel größere Osten des antarktischen Kontinents auf Dauer nicht stabil ist. Vergleichsweise schnell schmilzt beispielsweise der Totten-Gletscher, der Hauptabfluß des Aurora-Subglazialbeckens, ab. Das mit einem dicken Eispanzer ausgefüllte Becken ist so groß wie Frankreich, weist eine Mächtigkeit von bis zu vier Kilometern auf und seine Sohle liegt tiefer als der heutigen Meeresspiegel. Es handelt sich dabei um das massereichste Zehrgebiet eines Gletschers auf der ganzen Welt.

Diese Woche berichtete eine internationale Forschergruppe um Hauptautor Alan Aitken von der School of Earth and Environment der Universität von Westaustralien im Journal "Nature" von ihren jüngsten Untersuchungsergebnissen, die nochmals eindrücklich bestätigen, daß der Totten-Gletscher seine Stabilität verliert.

Zwar sind Gletscher in der Regel sowieso nicht stabil, sondern fließen dem Gefälle folgend ins Tal oder ins Meer. Mit Instabilität ist in diesem Fall jedoch eine drastische Veränderung dieser Dynamik gemeint. Die Fließgeschwindigkeit des Gletschers nimmt zu, weil die Gletscherbasis angelöst wird. So wie ein an einem Hang errichteter Schneemann gen Tal sausen würde, sobald seine Basis nicht mehr mit dem gefrorenen Boden verbunden ist, würde der Totten-Gletscher mit einem Vielfachen seiner normalen Geschwindigkeit ins Antarktische Randmeer abgleiten - lediglich aufgehalten durch einen "Pfropfen" in Form einer riesigen Schelfeisfläche vor seiner Mündung. Die wird aber bereits durch eine vergleichsweise warme zirkumantarktische Meeresströmung, die auch schon den Gletschern in der Westantarktis den Boden unter den Füßen entzieht, angelöst. Die Grenze zwischen Schelfeisfläche vor dem Totten-Gletscher und Meeresboden hat sich zwischen 1996 und 2013 um drei Kilometer zurückgezogen. Das heißt, daß sich das wärmere Meerwasser immer tiefer unter die Eisfläche graben kann.

Die Basis des Totten-Gletschers liegt in ein Kilometer Meerestiefe. In 400 bis 500 Meter Tiefe wurden unter anderem mittels ausgiebiger Radarmessungen höhlenartige Eingänge unter dem Gletscher entdeckt, wie man sie in ähnlicher Form auch in der Westantarktis beobachtet hat. Das Meerwasser ist dort wärmer als an der Oberfläche. Es treibt nicht auf, weil es salzhaltiger ist als die durch Schmelzwässer gespeiste oberflächennahe Wasserschicht.

Der Totten-Gletscher samt seinem Einzugsgebiet ist so massereich, das sein Abschmelzen das Potential hat, den Meeresspiegel weltweit um mindestens 3,50 Meter steigen zu lassen. Während die Wissenschaft schon länger vermutet, daß sich der Gletscher im Laufe der Erdgeschichte häufiger zurückgezogen hat und wieder vorgerückt ist, konnte in der aktuellen Studie aufgezeigt werden, daß die Gesteinsoberfläche über Hunderte von Kilometern weit ins Landesinnere durch Erosion geformt wurde. Das wird als klarer Hinweis auf massive Schmelzvorgänge in der Vergangenheit gedeutet.

Dies sei nicht die erste Region in der Ostantarktis, die in Folge des Klimawandels den Meeresspiegel um mehrere Meter steigen lassen könnte, sagte Aitken. Aber am Ende könnte es die folgenschwerste sein. Er begründet das mit der Instabilität des Gletschers, die sich wie beschrieben auch weiter im Landesinneren kontinuierlich fortsetzt. Außerdem haben Berechnungen ergeben, daß, wenn die Schelfeisfläche, also das auf dem Meer schwimmende Eis im Vorfeld der Gletscherzunge, auch nur 4,2 Prozent seiner Masse verlöre, der rapide Gletscherabfluß nicht mehr aufzuhalten sein würde.

Das gesamte System reagiert somit höchst empfindlich auf Erwärmung. Der Zeitraum, in dem der Totten-Gletscher schmilzt, wird in einem von den Forschern selbst als "moderat" bezeichneten Szenario mit mehreren tausend Jahren angegeben. Vor zwei Monaten hatten jedoch Rob DeConto von der University of Massachusetts in Amherst und David Pollard von der Penn State University ebenfalls in "Nature" berichtet, daß unter der Annahme eines gleichbleibend hohen Trends an CO2-Emissionen der Totten-Gletscher schon in 500 Jahren abgeschmolzen sein könnte. Dann läge der weltweite Meeresspiegel dreizehn Meter höher als heute. Bis zum Jahr 2100 - also noch zu Lebzeiten der heutigen Generation der Kinder - könnte er bereits um bis zu zwei Meter steigen.

Der an der jüngsten Studie zum Totten-Gletscher beteiligte Martin Siegert, Co-Direktor vom Imperial College London, prognostiziert, daß bis Ende dieses Jahrhunderts alle größeren Städte in Küstennähe von zwei bis drei Meter hohen Deichen und anderen Schutzanlagen gegen das Meer umgeben sein werden.

Wenn man bedenkt, daß Deutschland seine Kohlekraftwerke noch mehrere Jahrzehnte weiterbetreiben will und andere Länder, beispielsweise im Zuge ihrer industriellen Entwicklung oder zur Sicherung etablierter Wirtschaftsstrukturen, ebenfalls auf Energie aus Kohle setzen, obgleich doch diese wegen der hohen CO2-Emissionen bei der Verbrennung in besonderem Maße zur globalen Erwärmung beiträgt, liegt die Vermutung nahe, daß die obigen Zeitangaben zum Schmelztempo nicht übertrieben sind. Wenn man weiterhin bedenkt, daß es innerhalb der Klimawissenschaft auch bei den Worst-case-Szenarien einen Trend gibt - was vor zehn, zwanzig Jahren als extreme Annahme galt, ist eingetreten oder gilt heute schon fast als moderate Simulation -, wäre der Zeitpunkt, an dem der Totten-Gletscher abgeschmolzen ist, nochmals weiter vorzuverlegen.

Diese Woche berichtete die US-Behörde NOAA (National Oceanic and Atmospheric Administration), daß noch niemals zuvor seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen vor 137 Jahren im globalen Durchschnitt ein so warmer April registriert worden sei wie in diesem Jahr. Das gleiche gelte für die letzten 12 Monate; jeder von ihnen sei wärmer gewesen als die bisher erfaßten Vergleichsmonate. So eine lange Folge an Rekordmonaten habe es noch nie zuvor gegeben ...

20. Mai 2016


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