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KLIMA/663: Artensterben - Emissionen und Kontaminierungen im Galopp ... (SB)



Mitunter wird von interessierten Kreisen als Argument gegen die Reduzierung der menschengemachten CO2-Emissionen zum Zwecke der Vermeidung einer weiteren globalen Erwärmung behauptet, daß die Klimaverhältnisse, die durch solche kostspieligen Maßnahmen verhindert werden sollen, alle schon mal dagewesen sind. Klimaschutz sei pure Geldverschwendung. Bei dieser Behauptung wird unterschlagen, daß sich gegenwärtig verschiedene Natursysteme mit zunehmender Geschwindigkeit verändern, wie sie teilweise seit zig Millionen Jahren nicht vorgekommen ist. Die Ozeane versauern, die Arten sterben und die CO2-Konzentration in der Atmosphäre nimmt in rasantem Tempo zu. Im übrigen gab es den Menschen in jenen früheren Zeitaltern nicht, folglich konnte er auch nicht von Klimaeffekten wie Dauerdürren, Überschwemmungen und extremer Hitze betroffen sein.

Im internationalen Klimaschutzabkommen von Paris, das 2015 beschlossen wurde und 2016 in Kraft trat, wurde das Ziel ausgegeben, die globale Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad, möglichst sogar auf 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. Dieses Ziel stellt bereits einen Kompromiß dar, denn dabei wird in Kauf genommen, daß Zahl und Intensität von Naturkatastrophen gegenüber heute zunehmen werden. Allerdings würde sich die Erde ohne eine solche Begrenzung um drei, vier oder noch mehr Grad aufheizen. Das hätte etwas Apokalyptisches, denn es entstünden neue Klimazonen, in denen kein Mensch leben könnte, und in der übrigen Welt wären die Lebensbedingungen extrem angespannt und sicherlich nicht tragfähig für die weiter wachsende Weltbevölkerung.

Wie heikel die gegenwärtige Lage wahrscheinlich ist, zeigt sich an der Analyse erdgeschichtlicher "Klimaarchive" - sogenannter Proxydaten -, denen zufolge die Erde "niemals in ihrer Geschichte einen quasi-stabilen Zustand um die zwei Grad Erwärmung gegen der vorindustriellen Zeit" besaß, so Katherine Richardson von der Universität von Kopenhagen. Es genüge deshalb nicht, nur die Emissionen zu verringern, sondern es müsse viel mehr getan werden [1].

Richardson ist an einer kürzlich veröffentlichten, aufsehenerregenden Studie im Wissenschaftsjournal PNAS beteiligt, wonach sich die Erde auf eine "Heißzeit" zubewegt, da in verschiedenen Natursystemen Schwellenwerte (auch "tipping points" oder "Kippunkte" bzw. "Kippelemente" genannt) überschritten werden, die wie umgeworfene Dominosteine einander anstoßen und die Erderwärmung in einer Weise verstärken, die viele Unsicherheiten offenläßt und schwer berechenbar ist. Genannt werden unter anderem abschmelzendes Meereis im Nordmeer, Gletscherschmelze in Grönland und der Antarktis, Erwärmung der Ozeane, Verlagerung von Meeresströmungen, Methanausgasungen in Folge des Permafrostrückzugs in Sibirien und Waldsterben.

Bei einem Eingriff in die klimatische Entwicklung, wie sie der Mensch durch seine CO2-Emissionen seit Beginn der Industrialisierung verstärkt vorgenommen hat und nun korrigieren will, besteht die Schwierigkeit darin, hochdynamische, sich selbst verstärkende Prozesse in den Natursystemen aufhalten zu wollen. Darauf hob Richardson mit ihrer Aussage ab. Eine Stabilität bei zwei Grad globaler Erwärmung tritt möglicherweise selbst dann nicht ein, wenn die CO2-Emissionen rechtzeitig vor dem Ausschöpfen eines bereits berechneten CO2-Budgets gestoppt werden. Es wurden und werden womöglich in naher Zukunft Prozesse in Gang gesetzt, die für sehr lange Zeit nicht mehr verhindert werden können. Beispielsweise haben die Ozeane schon sehr viel Wärme aufgenommen, die weiterhin an die Atmosphäre abgegeben wird. Auf der anderen Seite ist die CO2-Konzentration in der Atmosphäre schon so hoch, daß die Meere immer mehr Kohlenstoff aufnehmen und dadurch versauern.

Im Rahmen dieser Entwicklung ist der westantarktische Eisschild wahrscheinlich schon so weit abgeschmolzen, daß ein Schwellenwert überschritten wurde und er von nun an immer weiter abschmelzen wird. Das hätte einen weltweiten Meeresspiegelanstieg von bis zu 3,50 Meter zur Folge. Auch das Abschmelzen des Eisschilds auf Grönland nimmt zu. Je niedriger die Obergrenze, desto mehr wird sie wärmeren Luftschichten ausgesetzt und um so schneller abschmelzen. Grönlands Eisschild hat das Potential, den globalen Meeresspiegel um sieben Meter zu erhöhen.

Der Permafrostboden in Sibirien zieht sich seit Ende der letzten Kaltzeit vor ca. 11.000 Jahren gemächlich zurück. Doch unter dem Einfluß der menschenverursachten globalen Erwärmung, die in der Arktis überdurchschnittlich hoch ausfällt, wird der Vorgang beschleunigt. Dadurch wird Methan freigesetzt, das ein überaus wirksames Treibhausgas ist und die Erderwärmung weiter antreibt. Wenn die Fläche des arktischen Meereises weiter schrumpft wie bisher, wird das dann im Sommer eisfreie Nordmeer mehr Wärme absorbieren und die eisfreie Zeit nach vorne und hinten im Jahr erweitern sowie stärkere Erosionen an der vom Meereis befreiten, ungeschützten Küste bewirken. In den letzten zehn Jahren hat sich die Abtragrate im sibirischen Lenadelta und der umgebenden Laptewsee nahezu verdoppelt [2].

Der Meeresspiegel steigt weltweit nicht gleichmäßig, doch bei aller Unsicherheit der Datenlage - insbesondere eingedenk der kurzfristigen Schwankungen - kann man sagen, daß zur Zeit in der Summe kein gleichbleibender, sondern ein leicht beschleunigter Anstieg registriert wird [3]. Einige Forscher gehen sogar davon aus, daß sich der Meeresspiegel wahrscheinlich noch in diesem Jahrhundert um mehrere Meter erhöht [4].

Eine Forschergruppe um Stuart Pimm von der Duke University in den USA berichtete, daß wir am Rande des sechsten großen Massenaussterbens der Erdgeschichte stehen. Zwar sind auch zu einer Zeit, als es keine Menschen gab, Arten ausgestorben, man kann sogar sagen, daß die gesamte Erdgeschichte Inbegriff von Klimawandel und dem Werden und Vergehen von Arten ist, aber laut Pimm sterben gegenwärtig jährlich 100 bis 1000 Tier- und Pflanzenarten pro eine Million Arten aus, in vorgeschichtlicher Zeit hingegen waren es nur 0,1 bis 1 von einer Million Arten. [5]

Im World Ocean Review (2010) werden ähnliche Zahlen genannt:

"Während der Erdgeschichte hat sich das Leben im Meer von einer ganzen Reihe plötzlicher Aussterbeepisoden durch die Anpassung und Evolution neuer Arten erholt. Allerdings erstrecken sich die Zeitskalen vom Aussterben bis zur Neuansiedlung von Arten über Millionen von Jahre und nicht nur über einige Jahrhunderte. Die anthropogene Ozeanversauerung wirkt weitaus schneller auf den Ozean, als dieser in der Lage ist, mit Hilfe seinen natürlichen Regulationsmechanismen darauf zu reagieren. Die derzeitige Rate der Ozeanversauerung ist zehnmal höher als sie jemals zuvor seit dem Aussterben der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren gewesen ist." [6]

Auch der globale Wasserkreislauf wird vom Klimawandel beeinflußt, er hat ihn bereits beschleunigt und wird ihn weiter beschleunigen. Das bedeutet, daß trockene Gebiete trockener und nasse Gebiete nasser werden [7].

Was die Daten zur Erdgeschichte betrifft, herrscht in der Wissenschaft eine ständige Debatte. Der Paläobiologe Prof. Wolfgang Kießling war an einer 2015 in "Nature Communications" publizierten Studie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg beteiligt, wonach die Geschwindigkeit der Erderwärmung in erdgeschichtlicher Vergangenheit deutlich unterschätzt wurde und beispielsweise vor 250 Millionen Jahren beim Übergang vom geologischen Zeitalter des Perm zum Trias vergleichbare Erwärmungsraten auftraten wie heute. Die Entwicklung lief damals keineswegs so langsam ab wie häufig behauptet. Der Irrtum gehe darauf zurück, daß das Klima heute sehr genau gemessen werden kann, die Proxydaten für frühere Klimate dagegen nur eine Genauigkeit von 10.000 Jahren oder mehr hergeben. Innerhalb dieser Phasen habe sich die Erde jedoch mal langsamer und mal schneller erwärmt als der gewöhnlich von der Wissenschaft zum Vergleich herangezogene Mittelwert [8].

Also alles nicht so schlimm? Nein, drei Jahr zuvor hatte Prof. Kießling, damals noch am Naturkundemuseum Berlin tätig, gegenüber dem Schattenblick erklärt:

"Im Laufe von 300 Millionen Jahren haben tatsächlich die Menschen heute den größten Einfluß auf die klimatische Entwicklung des Erdsystems genommen. Also die ganzen Naturereignisse, alle Vulkane, die damals ausgebrochen sind - und das waren ja gigantische Eruptionen, so etwas kennen wir heute gar nicht -, all das lag noch eine Größenordnung unter dem, was wir heute an Klimagasen fabrizieren. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis, vor allem für jene Geologen, die gerade, wenn es um Klimawandel geht, häufig Argumente anführen, wie 'Das ist alles halb so schlimm. Das hatten wir doch alles schon...'. 'Das sind natürliche Schwankungen'. 'Früher war die CO2-Konzentration viel, viel höher als heute in der Atmosphäre.' Das stimmt zwar. Der CO2-Gehalt war damals teilweise viel höher als heute. Aber durch Modellierung haben wir nun herausgefunden, daß die Höhe des CO2-Gehalts gar nicht das Entscheidende ist, sondern wie schnell die CO2-Konzentration ansteigt, also die Rate der Änderung." [9]

Den Kalkschalen aufbauenden Organismen bleibt nicht genügend Zeit, sich an die veränderten Bedingungen ihrer Umwelt anzupassen. Ebenfalls von der hohen Geschwindigkeit der Veränderungen ihrer Umwelt sind Pflanzen unter anderem der Hochgebirge betroffen. Auch sie schaffen es nicht, sich an ihre wärmere Umgebung anzupassen, indem sie beispielsweise nach oben, den Berg hinauf weiterzuziehen. Außerdem ist diese Fluchtoption natürlicherseits durch die Höhe des Berges begrenzt. Die Meeresbewohner wiederum, die bereits auf kleinste Temperaturveränderungen ihrer Umgebung sehr empfindlich reagieren können, müssen abwandern, solange es noch geht. Doch wohin sollen zum Beispiel die kälteliebenden Fische im arktischen Ozean schwimmen, wenn sich dieser weiter erwärmt?

Die Zahl der Menschen nimmt weiter kräftig zu. Hochgerechnet vom gegenwärtigen Trend werden Mitte des Jahrhunderts neun Milliarden Menschen die Erde bevölkern. Im Zuge der Ausbreitung des Homo sapiens in nahezu alle Lebensräume werden Tiere und Pflanzen vertrieben, verdrängt oder vernichtet. Wo urwüchsige Landflächen kultiviert, Städte, Straßen und andere Schneisen den tropischen Regenwald zerstückeln und der Abbau von Rohstoffen auch vor Naturschutzgebieten nicht halt macht, werden Um- und Mitwelt zum Ausweichen genötigt. Das heutige, sechste große Massenaussterben in der Erdgeschichte wird nicht von Vulkanismus und nicht von kosmischen Einschlägen ausgelöst, sondern von einer einzigen Spezies.

Selbst wenn man annähme, daß sich das Klima früher auch schon mal genauso rasch verändert hat wie heute, zählt der anthropogene Klimawandel offensichtlich zu den raschesten Entwicklungen in der gesamten Erdgeschichte. Sollte die Menschen deswegen nichts unternehmen? Sollen sie sich so verhalten wie die beiden Dinosaurier, von denen der eine zum anderen sagte: "Du, nach dem kräftigen Wumms neulich verdunkelt sich jetzt der Himmel immer mehr." Der andere: "Das macht nichts, das hat's auch früher schon gegeben."


Fußnoten:

[1] https://www.theguardian.com/environment/2018/aug/06/domino-effect-of-climate-events-could-push-earth-into-a-hothouse-state

[2] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0227.html

[3] https://climate.nasa.gov/vital-signs/sea-level/

[4] https://www.atmos-chem-phys.net/16/3761/2016/

[5] http://science.sciencemag.org/content/344/6187/1246752

[6] https://worldoceanreview.com/wor-1/meer-und-chemie/ozeanversauerung/

[7] http://science.sciencemag.org/content/336/6080/455

[8] https://www.nature.com/articles/ncomms9890

[9] http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0012.html

30. August 2018


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