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KLIMA/693: Globale Wandlungen - schlimmer als der Mangel ... (SB)



Wenn man all die Worst-case-Szenarien wissenschaftlicher Klimastudien aus den letzten Jahren zusammenstellt, erhält man ungefähr die Aussagen, die der britische Professor Jem Bendell mit seinem Artikel "Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy" (z. Dt.: Tiefe Anpassung: Eine Karte zur Navigation in der Klimatragödie) verbreitet. [1]

Nach Ansicht jenes Gründers und Leiters des Institute for Leadership and Sustainability (IFLAS) der University of Cumbria ist der Klimawandel nicht mehr zu verhindern, auch wenn die Wissenschaft versucht, einen anderen Eindruck zu erwecken. Der "gesellschaftliche Kollaps" stehe unmittelbar bevor. Diese These steht im Zentrum seines als "Occasional Paper" ausgewiesenen Berichts. Diese Art von Publikation hat die Funktion, zunächst einmal innerhalb der Fachwelt oder interessierten Kreisen eine Debatte zu einem Thema anzustoßen, noch bevor eine Arbeit bei einem Journal zur Publikation eingereicht wird.

Auf dem Blog seines Instituts schreibt der Forscher, daß ein globaler Nahrungs- und Trinkwassermangel sowie eine allgemeine Ressourcenknappheit noch in dieser Generation, wahrscheinlich sogar innerhalb der nächsten zehn Jahre entsteht und daß es aufgrund des Mangels Kriege geben wird. Die Milliardäre, die bereits begännen, sich einzubunkern, täuschten sich, denn sobald Geld keine Rolle mehr spiele, "würden die bewaffneten Wachen versuchen, ihre hungrigen Kinder zu ernähren". Die einzige Chance, diese Lage zu überstehen, sei, daß sich die Menschen zusammenschließen und einander unterstützen. [2]

Mit seiner "Deep Adaptation Agenda" will sich Bendell gegen den Wissenschaftsbetrieb stellen, in dem weiterhin so getan werde, als hätte man genügend Zeit, um das Ruder noch herumzureißen. Das "Ruder" steht hier sinnbildlich für das Budget an CO₂-Emissionen, das der Menschheit noch bleibt, um die globale Durchschnittstemperatur unter zwei bzw. 1,5 Grad Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Zeit zu halten. Dieses Budget ist längst aufgebraucht, berichtet der ehemalige Berater der Naturschutzorganisation WWF und begründet seinen Standpunkt nicht zuletzt mit der von Forscherkollegen aufgestellten These, daß der gegenwärtige CO₂-Gehalt der Atmosphäre eine um fünf Grad höhere Temperatur erwarten läßt. Demnach wären die Voraussetzungen zur massiven Erwärmung bereits in den globalen Natursystemen enthalten.

Als er Anfang der 1990er Jahre erstmals an der Universität Cambridge mit Klimafragen zu tun hatte, seien Worst-case-Szenarien zur Klimaentwicklung aufgestellt worden, die heute eingetreten sind, so Bendell. Das heißt, der Klimawandel schreitet schneller voran als angenommen. Entscheidende Entwicklungen laufen nicht linear, sondern non-linear, vielleicht sogar exponentiell ab. Dabei werden die Veränderungen nicht nur schneller, sondern auch stärker. Bendell bezieht sich auf zahlreiche Beispiele, die von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der Erde sind. Einige von ihnen seien hier genannt:

Siebzehn der achtzehn wärmsten Jahre seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen vor 136 Jahren traten nach 2001 auf. Die Arktis erwärmt sich überdurchschnittlich stark und schnell, was mit dem rascheren Auftauen des Permafrosts und dem Verlust der Meereisfläche und ihrer Dicke einhergeht. Verschwindet das Eis komplett, geht eine wichtige Rückstrahlungswirkung der zuvor weißen Eisoberfläche verloren. Dagegen absorbiert das dunklere Meer die Wärme, was Berechnungen zufolge die globale Temperatur um ein Grad anheben könnte.

Der Eispanzer Grönlands schmilzt beschleunigt ab, so daß in Verbindung mit anderen Faktoren der globale Meeresspiegel nicht gleichmäßig, sondern mit zunehmender Geschwindigkeit steigt. "Die beobachteten Phänomene, von den höheren Temperaturen bis zum Meerespiegelanstieg, fallen größer aus, als in den Klimamodellen der letzten Jahrzehnte für die heutige Zeit prognostiziert. Sie passen zu nicht-linearen Veränderungen in unsere Umwelt, die wiederum unkontrollierbare Auswirkungen auf die menschlichen Lebensräume und die Landwirtschaft nach sich ziehen, mit anschließenden komplexen Folgen für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme." (S. 7).

Weitere nicht-lineare Trends finden bei der Ozeanversauerung statt, die bereits zu einem drastischen Sterben unter Korallen beigetragen hat, sowie bei den Emissionen des hochwirksamen Treibhausgases Methan. Die Wissenschaft hat noch keine Erklärung dafür, warum der Methangehalt in der Atmosphäre ansteigt. Bendell deutet an, daß das Gas womöglich vom arktischen Meeresboden aufsteigt. Diese These sei bisher nicht bestätigt worden, weil es schlicht an Meßinstrumenten in dieser Region mangelt.

Sein Aufsatz sei beim "Sustainability Accounting, Management and Policy Journal" (SAMPJ) eingereicht worden, aber die Gutachter hätten Veränderungen vorgeschlagen, die erstens "undurchführbar" gewesen und zweitens "unangebracht" wären, so der britische Wissenschaftler. Unmöglich sei die Forderung gewesen, er möge doch bitte auf bestehende Forschungen aufbauen, da keine Literatur "zu den globalen Implikationen eines ökologisch-induzierten, sozialen Zusammenbruchs" existiert, auf die er hätte aufbauen können. Unangebracht sei die Forderung gewesen, er solle die Leserschaft nicht mit der Behauptung eines "unvermeidlichen, nahe bevorstehenden, sozialen Zusammenbruchs" entmutigen. Letzteres sei aber Ausdruck genau jener Zensur gewesen, gegen die er sich mit seinem Artikel gewandt habe. Seiner Ansicht nach ist sein Bericht einer der ersten auf dem Gebiet des "Nachhaltigkeitsmanagements", der zu solchen Schlußfolgerungen gelangt ist. Bendell lädt dazu ein, die Implikationen eines solchen gesellschaftlichen Kollapses zu erforschen.

Üblicherweise ist mit Klimaanpassung gemeint, daß die gegenwärtige Gesellschaft aufrechterhalten werden kann und daß die Klimastörungen handhabbar sind. "Deep Adaptation" hingegen meint, daß es zu spät ist und sich die Wissenschaft mit der "Post-Nachhaltigkeitswelt" befassen sollte. Bendell wird vorgeworfen, er verbreite Hoffnungslosigkeit, und es wird behauptet, daß Verzweiflung niemals hilfreich sei. Dem hält er entgegen, daß im traditionellen Wissen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung ihren Platz haben und daß sich das sehr gut mit den heutigen Reflektionen von Menschen deckt, die beispielsweise unheilbar erkrankt sind. Da sei Hoffnung kein guter Ratgeber.

So ganz möchte sich der Autor allerdings nicht von der Hoffnung verabschieden, denn er grenzt dazu eine "nützliche Hoffnung" ab. Dabei bezieht er sich auf einen Artikel des "New York Magazine", in dem es heißt, daß die Hoffnung, die Art zu leben gehe weiter, aufgegeben wird und daß dies den Platz für "alternative Hoffnungen" schaffe. Die Frage von begründeter und nützlicher Hoffnung ist etwas, "das wir viel weiter erforschen müssen", schreibt Bendell.

Bendells Anspruch aufgreifend sei hier angemerkt, daß Hoffnung von der Wortherkunft her "hüpfen" bedeutet. Angesichts der Beharrungskraft der vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung und der akuten Gefahr existenzbedrohender Klimawandelfolgen, scheint diese Art der Motorik - zu hüpfen - in keinem Fall zielführend zu sein. Daß "nützliches Hüpfen" seine Berechtigung hat, ist somit entschieden in Frage zu stellen.

Von den Mainstream-Medien wird Bendell nicht komplett, aber doch sehr weitgehend ignoriert. In den sozialen Medien und von Menschen, die sich in Klimaschutzinitiativen wie zum Beispiel "Extinction Rebellion" engagieren, wird der Forscher und seine Deep Adaptation Agenda hingegen breit rezipiert. Bendell wird wohl nur deshalb als randständig wahrgenommen, weil der Wissenschaftsbetrieb in der Regel sehr eng ist oder auch von außen eingeengt wird. Denn Forscherinnen und Forscher, die sich in die Politik "einmischen", werden von dieser auf ihren Platz verwiesen.

Bendell positioniert sich nicht außerhalb der Wissenschaft, sondern will ihr vielmehr ein neues Feld erschließen, nämlich die Erforschung einer Welt nach der gesellschaftlichen Katastrophe. Dabei verzichtet er in seinem Aufsatz auf ein Argument, das auch seine Kritiker innerhalb der Zunft verstehen könnten: Wenn es auch nur eine Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent dafür gibt, daß der gesellschaftliche Zusammenbruch innerhalb der nächsten zehn Jahre eintritt, wäre es dann nicht aus wissenschaftlicher Sicht folgerichtig, sich damit näher zu befassen?

Wie sehr Bendell einem bestimmten wissenschaftlichen Denken verhaftet bleibt, zeigt sich daran, daß er kein Wort zur Eigentumsfrage verliert. Er wendet sich zwar gegen den Neoliberalismus, aber geht in seiner Ablehnung nicht konsequent weiter und zieht daraus nicht den Schluß, die gesellschaftliche Reichtumsordnung mit der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zu hinterfragen. Dabei sind durchaus Gesellschaftsmodelle vorstellbar, in denen die aus klimatischer Sicht dringend einzuleitenden Schritte sowohl zur Vermeidung der globalen Erwärmung als auch zur "tiefen Anpassung" an die Folgen um einiges entschlossener vollzogen werden, als das heute getan wird.

Das geht natürlich nicht in einer Welt, in der eine Handvoll Menschen so viel Vermögen angehäuft haben wie die Hälfte der gesamten Menschheit. Das Vermögen der wenigen entspricht aber ziemlich genau den vorenthaltenen Überlebenschancen von vielen. Auch darauf geht Bendell nicht ein. Als jemand, der sich ein Jahr Auszeit aus seiner Lehrtätigkeit genommen hat, um sich, wie er schreibt, mit einigen Fragen zum Klimawandel zu befassen - seine "Deep Adaptation Agenda" ist ein Ergebnis dieser Nachdenklichkeit - könnte er eigentlich offen dafür sein, die historischen Versuche, die Eigentumsfrage zu stellen, nicht als das absolute Ende einer fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzung zu begreifen - zu welchen teilweise negativen gesellschaftlichen Phänomenen auch immer dies geführt hatte. Aus der Geschichte zu lernen läuft ja nicht zwangsläufig darauf hinaus, mit der unzureichenden Umsetzung auch die Ideen dahinter zu verwerfen.


Fußnoten:

[1] http://www.lifeworth.com/deepadaptation.pdf

[2] http://iflas.blogspot.com/2018/07/new-paper-on-deep-adaptation-to-climate.html

10. März 2019


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