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RESSOURCEN/078: Globale Getreidereserven so knapp wie nie zuvor (SB)


Rapide wachsender Nahrungsmangel weltweit


Wenn vom jetzigen Zeitpunkt an plötzlich weltweit kein Getreide mehr angebaut würde, reichten die bestehenden Reserven für die Menschheit noch 53 Tage - also keine zwei Monate. Das ist der niedrigste Wert seit 47 Jahren, dem Beginn der regelmäßigen Weltgetreideprojektionen, die vom US-Landwirtschaftsministerium veröffentlicht werden. Der Forschungsdirektor der kanadischen National Farmers Union, Darrin Qualman, glaubt sogar, daß dies der niedrigste Wert außerhalb der Kriegszeiten seit womöglich mehr als einem Jahrhundert ist.

Mit der Anfang Juni veröffentlichten US-Prognose für den Zeitraum 2007/08 wird ein Trend bestätigt, der seit Jahren anhält. In sieben der letzten acht Jahren wurde der Vorjahreswert unterschritten, und zwar drastisch. So entsprachen die Weltgetreidereserven 1999/2000 noch einem Äquivalent von 115 Tagen. Das bedeutet, daß die Reserven binnen acht Jahren auf weniger als die Hälfte geschrumpft sind. Von diesem Trend ist auch die Viehproduktion betroffen, denn ein Großteil des weltweiten Viehs wird mit Getreide gefüttert. (Nun gibt es die Rechnung, daß zur Erzeugung von einem Kilogramm Fleischprotein drei bis sieben Kilogramm Getreideprotein benötigt werden und daß die Menschheit deshalb auf vegetarische Kost umsteigen solle. Bei solchen Rechnungen wird allerdings unterschlagen, daß fleischliche Nahrung energiereicher ist als pflanzliche.)

Nicht nur in der globalen Landwirtschaft ist die Lage höchst prekär. Auch die Weltmeere geben nicht mehr viel her. Jüngsten Berichten in den Wissenschaftsmagazinen "Science" und "Nature" zufolge stehen 1/3 der Fischbestände in den Weltmeeren vor dem Zusammenbruch. Im Jahr 2025 werden es voraussichtlich bereits 2/3 sein. Im Jahr 2048 kollabiert die globale Versorgung der Menschheit mit Fisch vollends. Das könnte theoretisch nur dadurch verhindert werden, wenn schon jetzt der Fischfang stark eingeschränkt würde, was bedeutet, daß die kommende Mangelsituation zeitlich nach vorne verlagert wird.

Es läßt sich denken, daß eine Projektion der Weltgetreidereserven mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist. Immerhin müssen die Ernteaussichten aus allen Ländern der Erde berücksichtigt und entsprechend bewertet werden, um aus ihnen eine einheitliche statistische Aussage zu formen. Allerdings haben sich die Berechnungen des US-Landwirtschaftsministeriums bislang als relativ genau erwiesen, die durchschnittliche Abweichung von Schätz- und Realwert liegt den Angaben zufolge bei 2,8 Prozent, und dieser Mittelwert täuscht nicht etwa über Extremabweichungen hinweg, indem sie diese egalisieren.

Die Täuschung liegt woanders. Mit Bezeichnungen wie "Menschheit" oder "Weltgetreidevorrat" wird ausgeblendet, daß nach UN-Angaben schon heute 854 Millionen Menschen regelmäßig Hunger leiden. Für sie sind die vermeintlichen Reserven nicht vorgesehen. Erst wenn alle Menschen ausreichend ernährt würden und dann tatsächlich noch Getreide übrigbliebe, wäre die Bezeichnung "globale Reserve" gerechtfertigt. Ansonsten handelte es sich um Irreführung.

Umgekehrt würden die Weltgetreidereserven theoretisch viele Jahrhunderte reichen, falls der Zugriff auf wenige elitäre Kreise von vielleicht einigen tausend Menschen beschränkt bliebe. Daraus ist abzuleiten, daß mit der Angabe der Weltgetreidereserve von 53 Tagen ein bestimmtes politisches Interesse, das unschwer als das der Herrschaft zu identifizieren ist, transportiert wird. Es handelt sich um keine objektivierbare Größe, sondern um den Ausdruck einer politischen Einstellung, die unter anderem besagt: 854 Millionen Menschen sollen weiter hungern, sie sind nicht einmal in der Rechnung enthalten.

Zu welchen Schlußfolgerungen wird die US-Regierung (die hier stellvertretend für andere genannt wird) vermutlich gelangen, wenn sie die globalen Getreideprojektionen analysiert? Wird sie erklären, daß eigentlich alle Menschen genügend Nahrung bräuchten und die Lage deshalb viel schlimmer sei, weil man jetzt die sowieso zu geringe Nahrungsmenge auch noch verteilen müßte? Wohl kaum. Wird sie nicht vielmehr Entwicklungen in die Wege leiten und Maßnahmen ergreifen, um den Kreis der Nutznießer der zu knappen Nahrung zu beschränken?

Mit Sicherheit. Eine Maßnahme besteht darin, die heimische Landwirtschaft zu subventionieren. Jahr für Jahr erhalten US-amerikanische Landwirte zig Milliarden Dollar an finanzieller Unterstützung, damit sie fleißig Getreide anbauen und auf diese Weise der Regierung zu einem globalstrategischen Kontrollinstrument verhelfen. Nahrung ist eine Waffe, die eingesetzt wird, um andere Staaten zu einem wohlgefälligen Verhalten zu bewegen.

Die hohe Getreideproduktion der USA hat jedoch nicht den primären Zweck, die eigene Bevölkerung zu versorgen. Denn auch im reichsten Land der Erde leiden Menschen Hunger. Offiziell leben 35 Millionen US-Bürger unter der Armutsgrenze, was unter anderem bedeutet, daß sie nicht genügend zu essen haben. Ein Teil dieser Personengruppe wiederum leidet sogar chronisch Hunger. 35 Millionen Menschen - das übertrifft die Einwohnerzahl der für Hungersnöte bekannten afrikanischen Länder Malawi, Somalia, Mauretanien und Sambia zusammengenommen.

Wenn US-Präsident George W. Bush angesicht der ihm vorliegenden Zahlen zum weltweiten Hunger, zu den rapide schrumpfenden Getreidereserven und zur Bevölkerungsentwicklung vorliegen und er dann die Entscheidung trifft und diese durch entsprechende Subventionen bekräftigt, daß künftig Nahrungsmittel in Treibstoff für den Fahrzeugverkehr umgewandelt werden sollen - voraussichtlich fast ein Drittel des in den USA angebauten Maises wird im kommenden Jahr an Raffinerien, die daraus Ethanol erzeugen, wandern -, dann gibt es an der oben aufgeworfenen These keinen Zweifel: Der Kreis der Nutznießer der Nahrung soll beschränkt werden.

Lester R. Brown, Leiter des in Washington ansässigen Earth Policy Institute, erklärte vergangene Woche vor einem US-Senatsausschuß (13. Juni 2007), daß die USA einen Anteil an der globalen Maisproduktion von fast 40 Prozent und an den weltweiten Maisimporten von fast 70 Prozent besitzen. Diese Menge substantiell zu reduzieren, sende "Schockwellen" durch die gesamte Weltwirtschaft, warnte Brown.

Alle sechs Jahre wächst die Weltbevölkerung um die Einwohnerzahl Nordamerikas - wo liegen die Getreideflächen, um diese Menschen zu ernähren? Nicht nur der Expansion der Landwirtschaft sind Grenzen gesetzt, sondern auch dem Bemühen, immer höhere Erträge zu erzielen. Die Grüne Gentechnik, von Lobbyisten als einziger Ausweg aus der weltweiten Nahrungskrise gepriesen, erfüllt exakt die gegenteilige Funktion. Mit ihr wird die Getreideproduktion einem Lizenzsystem unterworfen und unter die Kontrolle weniger Institutionen gebracht.

Die Menschheit bewegt sich auf politische Verhältnisse zu, in denen ein Großteil der Bauern, womöglich sogar alle, nicht anbauen dürfen, was sie wollen. Statt dessen werden sie zu Angestellten der Saatgutkonzerne, die über die Lizenzvergabe die Nahrungsproduktion bestimmen. Und was die vermeintlich sagenhaften Erträge aus der Grünen Gentechnik betrifft, so ist selbst unter Experten inzwischen Ernüchterung eingekehrt. Hybridsaaten, in die Pflanzenschutzmittel eingezüchtet wurden und die gegen bestimmte Herbizide resistent sind, haben sich in manchen Regionen und manchen Getreidearten als vorteilhafter erwiesen, in anderen dagegen nicht. Ein häufig zu beobachtender Trend: Je länger die Hybridsaaten verwendet werden, desto mehr schwinden einstige Vorteile. Aber eines vermochte die Grüne Gentechnik von Anfang an nie: den wachsenden Nahrungsbedarf einer wachsender Weltbevölkerung zu sichern.

Der Weltmarktpreis für Getreide hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt, der Weizenpreis liegt gegenwärtig auf dem höchsten Niveau seit zehn Jahren. Der Preis für Sojabohnen ist um die Hälfte gestiegen, und Reis wird laufend teurer. Auch die Preise für verarbeitete Lebensmittel ziehen an, und zwar ausgerechnet in den bevölkerungsreichen Länder China und Indien sowie den USA. Nach Angaben Lester R. Browns ist der Schweinepreis in China um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen, Eier sind im Reich der Mitte 16 Prozent teurer - beide Nutztierarten werden mit Mais gefüttert. Der Preis für Rinder, die weniger von Mais abhängig sind, stieg um sechs Prozent.

In Indien, dem zweitbevölkerungsreichsten Land der Erde, lag der Preisindex für Lebensmittel im Januar 2007 zehn Prozent über dem des Vorjahresmonats. Das US-Landwirtschaftsministerium sagt für Hühner einen Preisanstieg von zehn Prozent in diesem Jahr voraus, für Milch von 14 und für Eier von 21 Prozent. Die Zeitung "Christian Science Monitor" schrieb kürzlich (13. Juni 2007) unter Berufung auf Angaben des US-Arbeitsministeriums, daß der Preisanstieg bei Lebensmitteln in den ersten sechs Monaten bereits die Inflation des gesamten Jahres 2006 übertroffen habe und in 2007 voraussichtlich 7,5 Prozent betragen werde. Das ist der stärkste Anstieg seit 1980. Damals hatte die sogenannte Ölkrise "Schockwellen" durch die Weltwirtschaft gesandt.

Wie nicht anders zu erwarten steigt die ohnehin starke Nachfrage bei den Suppenküchen und Essensausgaben privater Wohlfahrtseinrichtungen der USA weiter an. Dadurch kann zur Zeit noch ein Teil der Not aufgefangen werden. In anderen Ländern, die Nahrungsmittel importieren, besteht diese Möglichkeit nicht. Dort wirkt sich ein Preisanstieg unmittelbar als Nahrungsmangel aus.

18. Juni 2007