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BERICHT/048: Down to Earth - Geteiltes Elend rechnet sich? (SB)


Diplomgeographin Lea Jenkner befragt Straßenhändler in Chennai, Indien

IGC 2012 - Weltkongreß der Geographie vom 26. bis 30. August 2012 an der Universität Köln



Indien wird auch das "Land der Dörfer" genannt. 70 Prozent der rund 1,1 Milliarden Einwohner leben auf dem Lande; die Urbanisierung nimmt zu, doch vergleichsweise gering. Menschen, die in die Stadt ziehen, um den verarmten Verhältnissen auf dem Land zu entkommen, sowie bereits in der Stadt lebende Arbeiter, die von den Unternehmen wegrationalisiert werden, tragen zum Wachstum des sogenannten informellen Sektors bei. Über 90 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter Indiens sind in diesem staatlich unregulierten, durch keine institutionelle soziale Sicherung geschützten Bereich tätig.

Das kräftige Wirtschaftswachstum Indiens läßt den informellen Sektor nicht etwa schrumpfen, sondern wachsen. Das ist auch insofern naheliegend, als daß eben genau die prekäre Lage der Menschen, die im Bergbau, in der Landwirtschaft, im Straßenbau oder anderen Branchen arbeiten, in denen keine besondere Berufsqualifikation gebraucht wird, aus der Sicht des Unternehmers ökonomisch positiv zu bewerten ist. Die Lohnkosten sind gering, und sobald ein Arbeiter wegen Krankheit oder ausfällt, wird er entlassen und hat keinen Anspruch auf eine finanzielle Absicherung seitens des Unternehmens. Die häufig große Not der informell arbeitenden Menschen schlägt vor dem Hintergrund globaler Konkurrenzverhältnisse als Vorteil für den Unternehmer zu Buche. Wenn also Indiens Wirtschaft brummt, dann muß das für die eigentlichen Produzenten, welche die Arbeit verrichten, nichts Gutes bedeuten.

Doch wie schaffen es die Inder, die in der Stadt leben, keinen festen Arbeitsplatz und kein geregeltes Einkommen haben, zu überleben? Beziehen sie ein Einkommen und wenn ja, woher? Mit einigen aus dieser meist gesichts- und namenlos bleibenden Masse an Stadtbewohnern, den Straßenhändlern, die in der nach Kasten geordneten indischen Gesellschaft weit unten stehen, hat sich die Geographin Lea Jenkner von der Universität Bonn beschäftigt. Ihre im vergangenen Jahr abgeschlossene Diplomarbeit trägt den Titel "Selbstorganisation im Kontext urbaner Ernährungssicherung am Beispiel des Straßenhandels. Eine qualitative Studie in Chennai, Indien". Einen nahezu gleichnamigen Titel trug ihr in Englisch gehaltener Vortrag auf dem Weltkongreß der Geographie in Köln. [1]

Beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lea Jenkner
Foto: © 2012 by Schattenblick

Jenkner hatte von Dezember 2011 bis Januar 2012 in Chennai verbracht und sich dort bei Straßenhändlern nach ihren Lebens- und Arbeitsverhältnissen erkundigt. Sie wollte wissen, wie diese Menschen ihr Alltagsleben organisieren, welche Faktoren einen Zusammenbruch des Systems verhindern, wie die Selbstorganisation dieser Menschen funktioniert und woher ihre Einkünfte stammen. Und die nach Ansicht der Referentin wichtigste unter den Fragestellungen: Welche Zugehörigkeit (citizenship) haben die Straßenhändler entwickelt?

Der Straßenhandel stellt in Indien eine wichtige Versorgungsleistung dar. Ohne diese kleinen Stände, manchmal nur koffergroßen Verkaufsflächen müßten Städte ganz anders organisiert sein. Straßenhändler, die per Fahrrad oder Handkarren Lebensmittel, Wasser, Dinge des alltäglichen Gebrauchs oder auch manch vermeintlich unnützen, aber das Leben bunter machenden Tand transportieren, sind aus dem Straßenbild der mehr als 50 Millionenstädte Indiens nicht mehr wegzudenken. Das betrifft auch die im ostindischen Bundesstaat Tamil Nadu gelegene Megacity Chennai, die bis 1996 Madras hieß, und mit fast 8,7 Millionen Einwohnern (Volkszählung 2011) die viertgrößte Stadt des Landes ist.

In Chennai ist der Straßenhandel nicht generell gestattet, berichtete Jenkner. Unter anderem hängen die Legalität von der Art der verkauften Waren ab. Abgesehen davon, daß sich deshalb manche Straßenhändler vor der Polizei in acht nehmen müssen, gestalten sie generell ihre Betriebe in Selbstorganisation. Das heißt, sie besorgen sich ihre Waren selbst, transportieren sie in ihre Stadtviertel, wo sie sie dann an ihre Kunden weiterverkaufen.

Im Innern einer betriebsamen Halle mit Reihen von Obst- und Gemüseständen - Foto: McKay Savage, freigegeben als CC BY 2.0 Unported via Wikimedia Commons.

Koyambedu-Markt, Chennai, 5.10.2009. Riesiger Großmarkt, unter anderem für Obst, Gemüse und Blumen, mit einem täglichen Fahrzeugaufkommen von rund 1500 Kleintransportern und Lkw.
Foto: McKay Savage, freigegeben als CC BY 2.0 Unported via Wikimedia Commons.

Jenkner definiert Selbstorganisation als eine Art kollektive soziale Einrichtung (collectiv social agency) in einer Gemeinschaft (community). Die Mitglieder der Community kommunizierten miteinander und schafften durch Kreativität neue Wege bei der Bewerkstelligung ihres täglichen Lebens. Selbstorganisation erzeuge und sei für sich genommen "Soziales Kapital". Mit diesem Begriff hob die Referentin offensichtlich auf den in ihrem Vortrag namentlich genannten französischen Soziologen Pierre Bourdieu (1938 - 2002) ab, der unter Sozialem Kapital das Beziehungsnetz unter Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft versteht.

Die Straßenhändler von Chennai profitieren auf vielfache Weise vom Sozialen Kapital, die Selbstorganisation stellt somit eine Art Überlebenssicherung dar oder, um mit Jenkner zu sprechen: "Die Beziehungen der Mitglieder einer Gemeinschaft sind für die Selbstorganisation besonders wichtig, weil sie durch Interagieren und Kommunizieren neue Wege finden, ihr Alltagsleben zu bewerkstelligen. Bei Selbstorganisation handelt es sich also um eine Alltagspraxis." Die sei nicht formalisierbar, nicht strategisch geplant und entstehe aus der Notwendigkeit heraus.

Eine Reihe von Fahrradkarren, vollbeladen mit Obst - Foto: McKay Savage, freigegeben als CC BY 2.0 Unported via Wikimedia Commons

Typische Straßenhändler-Fahrradkarren vor dem Eingang zum Koyambedu-Markt, Chennai, 5.10.2009.
Foto: McKay Savage, freigegeben als CC BY 2.0 Unported via Wikimedia Commons

Auf einige ihrer Forschungsfragen ging Jenkner im Rahmen des etwa 20-minütigen Vortrags näher ein. Demnach verfolgen die Straßenhändler unterschiedliche Anpassungsstrategien sowohl an interne als auch externe Einflüsse, sie sind aber auch innovativ. Einige tauschen Nahrung mit Familienmitgliedern oder den Nachbarn und können auf deren Hilfe rechnen. Das hat den Vorteil, daß sie ihr Geschäft nicht unterbrechen müssen, wenn sie mal krank sind. Außerdem erhalten auf diese Weise auch andere Familienmitglieder etwas Geld. Manche Straßenhändler greifen auf Kredite von außerhalb zurück.

Die durch Schulden entstehenden Zwangslagen, in die sich die Straßenhändler bringen, und die sozialen Folgen waren allerdings kein Thema des Vortrags. Es entstehen mitunter regelrechte Schuldknechtschaften. Die sind ein häufig anzutreffendes Phänomen in Indien, allerdings überwiegend im ländlichen Raum.

Was die Folgen von Preissteigerung betrifft, so hätte sie ein uneinheitliches Bild erhalten, berichtete die praxisorientierte Geographin. Beispielsweise hätten ihr die TV-Händler gesagt, daß ihnen höhere Preise keine Probleme bereiteten, denn ihren Kunden würden das verstehen. Anders hingegen die Lebensmittelhändler und Händler, die kleine Snacks verkauften. Die hätten ihr geschildert, daß sie ihre Preise nicht erhöhen könnten, weil die Kunden da nicht mitmachten. Das erklärte sich die Referentin damit, daß die Regierung die Preise für Milch, Tee und Speiseöl kontrolliert und jeder Einwohner Chennais das aktuelle Preisniveau kennt und weiß, ob die Regierung es angehoben hat oder nicht.

Drei Verkäuferinnen hinter Stand mit aufgetürmten Bananen - Foto: McKay Savage, freigegeben als CC-BY-2.0 Unported via Wikimedia Commons

Informelle Versorgungsinfrastruktur - Vom Großmarkt bis zum sonnengeschützten Mauerrest am Straßenrand. Chennai, 17.2.2008.
Foto: McKay Savage, freigegeben als CC-BY-2.0 Unported via Wikimedia Commons

Die Straßenhändler seien definitiv relevant für die urbanen Armen, sowohl für die Kunden als auch für die Straßenhändler, denn auch sie gehörten meist zu den Armen, so Jenkner.

Man könnte sich fragen, welchen Nutzen diese Erkenntnis hat, kann doch dieses Forschungsergebnis nicht im mindesten überraschen. Das wäre jedoch ein zu hoher Anspruch an eine Diplomarbeit. Im Unterschied beispielsweise zur Habilitation hat sie nicht die Funktion, der Wissenschaft neue Erkenntnisse zu liefern, sondern soll zeigen, daß sich die Diplomandin einer Forschungsfrage quellen- und methodensicher zu widmen und - bestenfalls - diese noch in einen erkenntnistheoretischen Kontext einzuordnen vermag. Diese Anforderungen wurden hier sicherlich erfüllt.

Ungeachtet dessen könnte man sich fragen, ob nicht der wissenschaftlich objektive Anspruch - in diesem Fall einer geographischen, eigentlich eher soziologisch anmutenden Studie über ein Armutsphänomen wie den Straßenhandel in Chennai - einer Positionierung auf Seiten derjenigen entspricht, die von dieser gesellschaftlichen Ordnung in arm und reich profitieren.

Riesiger Palast, umgeben von gepflegten Gärtenanlagen - Foto: PlaneMad, freigegeben als CC BY SA 2.5 Unported via Wikimedia Commons

Eine Gesellschaft - zwei Welten. Garantiert straßenhändlerfreie Zone des Chettinad Palace am Adyar-Fluß, Chennai. 15.7.2007.
Foto: PlaneMad, freigegeben als CC BY SA 2.5 Unported via Wikimedia Commons

Das Thema der Studie, das man auch als "Überlebenstechniken der Armen in einer urbanen Umgebung" bezeichnen könnte, bietet Anknüpfungspunkte für weitere Fragen. Beispielsweise ob Befragungen und geographische Untersuchungen irgend etwas dazu beitragen könnten, um die Straßenhändler aus ihrer Lage zu befreien. So bunt das Straßenbild in Indien unter anderem wegen der Stände und Auslagen am Straßenrand auch erscheint und so einfallsreich die Menschen sind, die mit dem Kleinverkauf ihre Existenz sichern, man hat es beim Straßenhandel mit einem Ausdruck der Überlebensnot zu tun.

Laut dem ersten Bericht zur Armut in Städten, den die indische Regierung im Jahr 2009 mit Unterstützung des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) erstellt hat, leben in diesem asiatischen Land über 80 Millionen Städter in Armut, das ist mehr als jeder vierte der rund 286 Millionen Stadtbewohner. 1,7 Millionen indische Kinder sterben jedes Jahr an Unterernährung. Indien ist das Land mit den meisten Hungertoten. Straßenhandel ist ein Versuch, dem zu entkommen.

Es sterben die, die es nicht geschafft haben, vom Land in die Stadt zu ziehen oder sich in den Städten eine Existenz aufzubauen. Diejenigen Straßenhändler, die man sieht und mit denen man sprechen kann, gehören ihrerseits zu den bereits etwas weniger Benachteiligten. Wieviele Straßenhändler aber haben es nicht geschafft, sich eine kleine Existenz aufzubauen? Was ist aus ihnen geworden?

Weiter gefragt: Was wäre eigentlich eine "funktionierende" Stadt? Wenn es einem Teil der Armen gelingt, zu überleben? Oder wenn die Menschen am unteren Ende der sozialen Pyramide stillhalten und dadurch die über ihnen, die das Feld beherrschen, nicht zum Absturz bringen? Was hieße dann, "das System kollabiert"? Könnte man nicht die Stadt an sich bereits als Ergebnis eines Zusammenbruchs bezeichnen, wenn man sich anschaut, welche Armutsfolgen Städte hervorgebracht haben? Bei wievielen Obdachlosen, Verhungernden, von Überschwemmungen Heimgesuchten oder von Verkehrsmitteln Getöteten liegt die Grenze zwischen einer funktionierenden und einer nicht-funktionierenden Stadt?

Im sozialen Unterschied an sich zeigt sich bereits der "Zusammenbruch des Systems". Die Entstehung von Städten an sich ging Hand in Hand mit der Vergesellschaftung des Menschen und damit einer sozialen Hierarchie von Oben und Unten, was sich unter anderem im Straßenhandel zeigt.


Fußnoten:
[1] Lea Jenkner (Universität Bonn), Divya Rajeswari Swaminathan: "Self organization in the context of urban food security using the example of street food vendors" Session: Urbanisation & Demographic Change 33-01: Urban poverty - Conceptions of everyday life under persistent conditions of inequality


Weitere Berichte und Interviews zum Weltkongreß der Geographie 2012 in Köln finden Sie, jeweils versehen mit dem kategorischen Titel "Down to Earth", unter
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12. Januar 2013