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BERICHT/108: Am Beispiel Indien - Kernkraft beugt Recht und Demokratie ... (SB)


Nuclear Lies - Atomlügen

Filmvorführung am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale

Teil 4: Indien will am Nuklearstandort Jaitapur das größte Atomkraftwerk der Welt bauen


Die Anti-Akw-Bewegung in Deutschland hat aus dem jahrzehntelangen Widerstand gegen den geplanten Bau eines atomaren Endlagers im Salzstock Gorleben vieles gelernt, vor allem aber, wie wichtig Beharrlichkeit ist. Denn die andere Seite verfolgt ebenfalls mit großer Beharrlichkeit ihre Interessen. So ist der von Experten als völlig ungeeignet eingeschätzte Standort im Wendland bis heute nicht ohne Wenn und Aber von der Liste potentieller Endlagerstandorte in der Bundesrepublik gestrichen.


Tuch mit der Aufschrift 'Don't work for nuclear power - Hands off Jaitapur', z. Dt. 'Arbeite nicht für Kernenergie - Hände weg von Jaitapur', Centro Sociale, 23.9.2015 - Foto: © 2015 by Schattenblick

Protestbanner auf Wanderschaft
Foto: © 2015 by Schattenblick

Doch wie sieht es mit dem Akw-Standort Jaitapur in der Region Konkan im indischen Bundesstaat Maharashtra aus? Ist das Projekt wirklich "gestorben"? Hier sollte mit einer Nennleistung von insgesamt rund 10.000 Megawatt das größte Atomkraftwerk der Welt gebaut werden - inmitten einer regelmäßig von leichten bis mittelstarken Erdbeben heimgesuchten Region. Laut der Nichtregierungsorganisation urgewald hat die Erde in der Region in den letzten 20 Jahren dreimal mit einer Stärke oberhalb von fünf auf der Richterskala gebebt; ein Erdbeben wurde sogar mit der Stärke 6,3 registriert. [1]

Ursprünglich sollte der französische Staatskonzern Areva dort in der ersten Ausbaustufe zwei Europäische Druckwasserreaktoren (EPR - European Pressurized Reactor) von je 1650 MW bauen. Aber erstens hat er es bisher nicht geschafft, irgendwo anders in der Welt ein funktionstüchtiges Atomkraftwerk dieses Modells zu errichten. Zweitens hatte man sich mit der indischen Regierung nicht über die Kosten einigen können, und drittens hat die französische Regierung angeordnet, daß Areva die Akw-Sparte an den Staatskonzern EdF (Électricité de France) abtreten soll. Im März dieses Jahres sagte Areva-Chef Philippe Knoche, daß sein Unternehmen keine Akws mehr baue und allenfalls noch Akw-Komponenten liefere. [2]

Weder jeder Grund für sich genommen noch alle zusammen bieten ausreichend Anlaß anzunehmen, daß damit das Jaitapur-Projekt komplett vom Tisch ist. Selbst das vor kurzem vorgestellte Energieprogramm der indischen Regierung, die in den nächsten Jahren insbesondere die Sparte der erneuerbaren Energien ausbauen will, läuft nicht auf einen Verzicht, sondern im Gegenteil auf die Erweiterung des derzeitigen Akw-Parks von landesweit 21 Atomreaktoren hinaus.

Deshalb ist es erfreulich, daß der indische Dokumentarfilmer Praved Krishnapilla in seinem per Crowdfunding finanzierten 72minütigen Film "Nuclear Lies", der in den zurückliegenden Monaten in einer Reihe deutscher Städte gezeigt wurde, auch auf den umstrittenen Akw-Standort Jaitapur eingeht. Anläßlich des am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale auf Einladung der Anti-Akw-Aktivisten Antje Kröger-Voss und Dieter Kröger, die selber einen Film gegen Atomenergie produziert haben ("Unser gemeinsamer Widerstand"), vorgeführten Dokumentarfilms setzt der Schattenblick seine Serie zur indischen Atompolitik mit einem Bericht über das geplante Akw Jaitapur fort.

Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, daß sich laut Peter Moritz vom Anti-Atom-Plenum Frankfurt, der gemeinsam mit dem Regisseur die Filmvorführung organisiert und ihn begleitet hat, die rechtsextreme, hindu-nationalistische Partei Shiv Sena an der Anti-Jaitapur-Bewegung beteiligt.

Der Juniorpartner der rechtskonservativen, hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party) auf Bundes- und Landesebene - sofern sie dort vertreten ist - lehnt die Atomenergie nicht grundsätzlich ab, sondern will erreichen, daß das Akw im benachbarten Bundesstaat Gujarat gebaut wird. [3]

Das wirft Fragen auf, wie sie einst in ähnlicher Form beim Widerstand gegen das geplante Akw Wyhl, als sich Braun in das Grün einmischte, gestellt wurden: Inwiefern ist ein Bündnis mit rechten Kräften wünschenswert? Oder würde man nicht bei einer Ablehnung des Bündnisses diejenigen Kräfte der indischen Anti-Akw-Bewegung im Stich lassen, die nicht rechtslastig sind? Und nochmals gewendet: Ist das gemeinsame Ziel Atomausstieg so wichtig, daß alle anderen gesellschaftspolitischen Fragen darüber vernachlässigt werden können?

Bei den erwähnten Gründen, die gegen eine Verwirklichung der Jaitapur-Pläne durch die Nuclear Power Corporation of India Ltd. (NPCIL) oder andere Interessenten sprechen könnten, wurde ein wichtiger Aspekt bislang nicht genannt, der jedoch für die indische Regierung offensichtlich nie ein entscheidendes Hindernis darstellte: Die Region, in der das Atomkraftwerk errichtet werden soll, zählt zu den weltweit zehn wichtigsten Hotspots der Biodiversität.

Das Akw Jaitapur und die Siedlung für die Beschäftigten nehmen eine Fläche von rund 1000 Hektar ein, die bereits mit Mauern umgeben sind. Für ihr Land wurden Familien aus den Dörfern Madban, Niveli, Karel, Mithgavane und Varliwada enteignet und entschädigt. Ermöglicht wird die staatliche Ermächtigung, Grund und Boden zu beschlagnahmen, durch ein Gesetz, das noch unter der britischen Kolonialherrschaft eingeführt worden war. Darauf gegründet mißt das Indische Oberste Gericht dem Ausbau der Atomenergie zur Sicherung des elektrischen Energiebedarfs der indischen Gesellschaft einen höheren Wert bei als dem Eigentumsrecht der Bevölkerung. Ein Gesetz, das Ähnlichkeiten mit dem deutschen Bergrecht aufweist, denn auch hierzulande ist das Eigentum nicht unantastbar. Wenn beispielsweise ein Energiekonzern einen Braunkohletagebau aufschließen will und dafür eine Aufsuchungsgenehmigung beantragt, wird ihm diese von den Behörden in der Regel erteilt.

Konkan ist ein schmaler, rund 500 Kilometer langer Küstenstreifen von Mumbai im Norden und Goa im Süden, zwischen dem Arabischen Meer im Westen und dem Küstengebirge Western Ghats im Osten. In dieser Küstenregion, in der das Akw Jaitapur entstehen soll, wurden über 6.000 verschiedene Blütenpflanzen, Säugetiere, Vögel und Amphibien, von den 325 als gefährdet gelten, registriert. Manche Pflanzen sind endemisch, was bedeutet, daß sie nirgendwo anders in der freien Natur vorkommen. Konkan verfügt über malerische Buchten und Häfen, Strände aus silbrigem Sand und zum Küstengebirge ansteigende, einzigartige Landschaftsformen, die alljährlich von Monsunregenfälle mit Wasser gespeist werden.

Der Kraftwerksbetreiber NPCIL behauptet, daß rund zwei Drittel der für das Akw beanspruchten Landfläche "unproduktiv" und "karg" sind. Wenn es nicht so tragisch wäre, könnten die Einwohner der Region über diese Behauptung nur lachen. Die jährliche Niederschlagsmenge liegt hier bei 3000 bis 3500 mm (zum Vergleich: In Deutschland beträgt die Niederschlagsmenge im Durchschnitt 750 mm/Jahr), es gibt nirgendwo Flächen, die nicht grün sind. Zu den bekanntesten landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Region gehört die seltene Mango-Art "Ratnagiri Alphonso", die sich im In- und Ausland großer Beliebtheit erfreut.


Flußbiegung, Wald und andere Vegetationsfläche dicht an dicht in Konkan (13.7.2007) zur Zeit des Monsuns - Foto: Rajaramraok, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/] via Wikimedia Commons

Karges Land? Foto: Rajaramraok, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/] via Wikimedia Commons

Nicht allein die örtliche Landwirtschaft ist vom Kernkraftwerk bedroht, gleiches gilt auch für die artisanale Fischerei. Das Akw wird täglich 52.000 Millionen Liter erwärmtes Kühlwasser in die Arabische See pumpen, was zum tendenziellen Anstieg der küstennahen Wassertemperatur beitragen und bestimmte Fischarten vertreiben wird. Außerdem befürchten die Anwohner, daß sie die beiden Flüsse Jaitapur und Vijaydurg nicht mehr frei zur Fischerei werden nutzen können, sobald das benachbarte Atomkraftwerk seinen Betrieb aufnimmt. [4]

Solche Befürchtungen sind alles andere als unbegründet, denn die Menschen in Indien wissen nicht erst seit den Katastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011), welche verheerenden Folgen Atomenergie haben kann. Allein im ältesten Akw des Landes, das Akw Tarapur, das ebenfalls in Maharashtra steht und noch heute in Betrieb ist, wurden Hunderte Arbeiter verstrahlt. Typische Strahlenschäden wie Krebs, Fehl- und Mißgeburten treten im Umfeld indischer Nuklearanlagen auffällig gehäuft auf.

Wir wollen hier bei uns in Maharashtra kein Akw, soll es doch in Gujarat gebaut werden, ist sicherlich kein Standpunkt, der typisch für die gesamte indischen Anti-Akw-Bewegung ist. Jedoch erklärte Praved Krishnapilla im Gespräch mit dem Publikum im Anschluß an die Vorführung seines Films, daß in Indien die Proteste gegen Atomkraftwerke und andere Anlagen der nuklearen Infrastruktur in der Regel lokal ausgerichtet sind. Eine schlagkräftige, landesweite Anti-Akw-Bewegung existiere nicht. Dafür liegt die Schlagkraft ganz auf Seiten der Repressionsorgane: Bei Demonstrationen im Jahr 2011 gegen das Akw Jaitapur wurden der junge Fischer Tabrej Sayekar von der Polizei erschossen und zahlreiche weitere Personen verletzt.

In Indien herrscht noch eine Technikgläubigkeit vor, in der elektrischer Strom aus Kernkraftwerken als fortschrittlich und nicht als völlige Fehlleistung einer grundsätzlich zu kritisierenden technologischen Entwicklung, in der die Energieproduktion immer mit Verbrauch endlicher Ressourcen und Kollateralschäden an Mensch und Umwelt einhergeht, angesehen wird. "Nuclear Lies" bietet genügend Anregungen, die Fortschrittsgläubigkeit zu hinterfragen. Es wäre wünschenswert, gelänge es Krishnapilla, trotz der drohenden Zensur seinen Film auch dem indischen Publikum zugänglich zu machen.


Bush und Singh geben sich zum Pressetermin am 2. März 2006 beim Hyderabad House in New Delhi die Hand - Foto: Paul Morse - whitehouse.gov, freigegeben als public domain Frankreichs Präsident Francois Hollande und Indiens Premierminister Narendra Modi geben sich am 16. April 2015 vor dem Elysée-Palast die Hand - Foto: Narendra Modi, freigegeben als CC-BY-SA-2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/] via Wikimedia Commons Die Staats- und Regierungschefs Wladimir Putin, Narendra Modi, Dilma Rousseff, Xi Jinping und Jacob Zuma legen zu fünft die Hände übereinander, G-20-Gipfel, November 2014 in Brisbane, Australien - Foto: Roberto Stuckert Filho, freigegeben als CC-BY-3.0-BR [http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/br/deed.en] via Wikimedia Commons

links: Einvernehmlich herrschen, und für die Strahlenopfer Krokodilstränen: US-Präsident George W. Bush und Indiens Premierminister Manmohan Singh leiteten die nukleare Partnerschaft ein ...
Foto: Paul Morse - whitehouse.gov, freigegeben als public domain
mitte: ... aus der Frankreich Profit schlagen will ...
Foto: Narendra Modi, freigegeben als CC-BY-SA-2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/] via Wikimedia Commons
rechts: ... und zu der auch die BRICS-Länder kein Gegenmodell anbieten.
Foto: Roberto Stuckert Filho, freigegeben als CC-BY-3.0-BR [http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/br/deed.en] via Wikimedia Commons


Fußnoten:


[1] https://www.urgewald.org/kampagne/ich-bin-doch-kein-atomb%C3%BCrger/jaitapu

[2] http://www.netzwerkit.de/Members/MaxMoritz/news20150322-001

[3] http://indien.antiatom.net/demo-gegen-akw-jaitapur-akw-gegnerinnen-folgen-hindunationalistischer-partei/

[4] http://multinationales.org/Areva-s-Jaitapur-Nuclear-Project


Zur Vorführung des Films "Nuclear Lies" am 23. September 2015 im Hamburger Centro Sociale sind bisher im Pool UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/105: Am Beispiel Indien - Vorwand Strom ... (SB)
Teil 1: "Kollateralschäden" der Atomenergieproduktion im Kontext der Herrschaftssicherung

BERICHT/106: Am Beispiel Indien - weltweites Bündnis gegen Kernkraftlogistik ... (SB)
Teil 2: Der Hamburger Hafen - Drehscheibe für Nukleartransporte auch nach Indien

BERICHT/107: Am Beispiel Indien - tradierte Vergeblichkeit ... (SB)
Teil 3: Widerstand gegen das Atomkraftwerk Kudankulam im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu


Zum Widerstand gegen das geplante Akw Jaitapur siehe auch:

INTERVIEW/087: Klimacamp trifft Degrowth - Bewahren und erneuern ... Vaishali Patil im Gespräch (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brri0087.html

13. Oktober 2015


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