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BERICHT/114: Brokdorf, Memorial und Mahnung - ein dünner Faden ... (SB)


30 Jahre Tschernobyl - Brokdorf abschalten

4. Protest- und Kulturmeile am Akw Brokdorf am 24. April 2016


In nicht einmal sechs Jahren soll das Akw Brokdorf abgeschaltet werden. Was vor mehr als einer Generation von Politik und Wirtschaft gegen die Ablehnung großer Teile der Bevölkerung in die Welt gesetzt wurde, wird dann der Geschichte überantwortet. Warum also jetzt noch das sofortige Ende von etwas fordern, dessen Epilog bereits eingeläutet wurde? Für die rund 250 Besucherinnen und Besucher der Protest- und Kulturmeile, die auf Anregung von brokdorf-akut [1] und zahlreicher weiterer Initiativen und Organisationen am 24. April 2016 nur einen Steinwurf weit von jenem umstrittenen Akw an der Elbe veranstaltet wurde, stellt sich diese Frage offensichtlich nicht. Trotz des typischen Aprilwetters mit zwischenzeitlich düsteren Wolkentürmen, Hagel, Regen und kräftigen Windböen waren sie aufgebrochen, um aus Anlaß des 30. Jahrestags der Explosion des Akw Tschernobyl in der Ukraine der Forderung Nachdruck zu verleihen: Brokdorf abschalten - sofort!


Blick vom Deich auf diverse Stände und die Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick Beim Redebeitrag - Foto: © 2016 by Schattenblick

links: Widerstand mit Tradition - 4. Protest- und Kulturmeile gegen das Akw Brokdorf
rechts: Karsten Hinrichsen von der Initiative brokdorf-akut klagt gegen das Akw Brokdorf
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Die Gründe für dieses Anliegen sind so vielfältig wie gewichtig:

- Solange das Akw läuft, produziert es nicht nur elektrischen Strom, sondern auch hochradioaktiven Abfall, von dem man nach mehr als einem halben Jahrhundert der Atomstromproduktion immer noch nicht weiß, wo und wie man ihn in den nächsten zehn, hundert, tausend, geschweige denn eine Million Jahren sicher lagern kann. Die Atomspaltung wird von ihren Anhängern als Spitze des technologischen Fortschritts gepriesen, aber sie ist wie ein Flugzeug, das ohne Fahrgestell konstruiert wurde.

- Es kann jederzeit ein Unfall mit Freisetzung ionisierender Strahlung eintreten, sei es beim Brennelementewechsel, dem Ausfall zentraler Aggregate wie dem Kühlsystem oder durch den Absturz eines Flugzeugs.

- Bis heute ist nicht geklärt, warum Kinder unter fünf Jahren im Umkreis von fünf Kilometern um deutsche Akws herum ein 300 Prozent höheres Risiko, an Blutkrebs zu erkranken, tragen als im Bundesdurchschnitt. Auch bei anderen Krebsarten wurden signifikant erhöhte Werte registriert, so die 2007 vom Deutschen Kinderkrebsregister veröffentlichte KiKK-Studie [2]. In anderen Ländern haben Wissenschaftler ähnliche Krebscluster um Atomanlagen herum festgestellt. Die räumliche Nähe vieler Akws zu Gebieten mit erhöhter Kinderkrebsrate ist frappant.

- Wenn die Bundesrepublik auf ihrem eingeschlagenen außenpolitischen Kurs bleibt, mehr Verantwortung in der Welt übernehmen zu wollen - sprich: stärker als bisher militärisch aufzutreten, um sich politische und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, zu sichern und gegen die Interessen anderer Akteure durchzusetzen -, wächst die Gefahr von Anschlägen in Deutschland als Antwort auf dieses Anliegen. Atomkraftwerke stellen ein potentielles Anschlagsziel dar, wie unlängst dadurch deutlich wurde, daß der sogenannte Islamische Staat Interesse am belgischen Akw Tihange zeigte.

- Durch den Betrieb eines Akw finden in Deutschland viele Transporte von Spaltmaterial statt. Dadurch entsteht eine zusätzliche Gefahr eines Unfalls oder Anschlags mit der Freisetzung von Radioaktivität. Darauf macht unter anderem die "Systemoppositionelle Atomkraft Nein Danke Gruppe" (SAND) aufmerksam. [3]

Es ist ja nicht so, als wollte man einen Patienten von seinen lebenserhaltenden Systemen abschneiden, wenn man fordert, die Atomkraftwerke in Deutschland sofort abzuschalten. Sie können mühelos ersetzt werden. Von den acht Akws, die in der Bundesrepublik noch am Netz sind, sind zur Zeit drei (Grohnde, Philippsburg 2 und Gundremmingen-B) wegen Wartungsarbeiten oder einer Pannenserie abgeschaltet. [4] Die deswegen "fehlende" Leistung von 4000 MW konnte offensichtlich ersetzt werden, in Deutschland sind die Lichter nicht ausgegangen.

Zudem liegt das Akw Brokdorf in einem Bundesland, in dem regelmäßig so viel Windenergie generiert wird, daß zahlreiche Windräder vom Netz genommen werden müssen, damit es nicht überlastet wird. Warum also nicht statt dessen das Akw abschalten und den regional erzeugten Strom auch regional verbrauchen? Was eigentlich einfach sein sollte, erweist sich als vielschichtiges Problem. Beispielsweise haben die großen Energiekonzerne bereits eine Milliardenklage gegen die Bundesregierung wegen des Atomausstiegs angestrengt, ein staatlich verordneter Sofortausstieg zöge sicherlich weitere Klagen mit noch höheren Ansprüchen nach sich.

Das müßte kein Grund sein, um die Forderung nach einem Sofortausstieg zurückzunehmen, rückt jedoch weitere Fragen in den Fokus der Anti-Atom-Bewegung. Im Zuge der von starken linken Kräften mitgetragenen Demonstrations- und Widerstandsformen gegen den Bau des Akw Brokdorf in den siebziger und achtziger Jahren wurde sowohl Gesellschafts- als auch Technologiekritik geübt. Was bedeutete, daß auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese zentralistische, hoch subventionierte und den Aufbau eines sehr entwickelten Sicherheitsapparats nach sich ziehende Nutzung der Atomenergie hervorgebracht hat, in Frage gestellt wurden.

Die Anti-Atom-Bewegung müßte sich nicht mit dem Vollzug des Atomausstiegs verabschieden. Doch wenn es ihr nicht gelingt, den Faden aufzugreifen und an solchen Fragen anzuknüpfen, ist es absehbar, daß in den nächsten fünf, sechs Jahren nicht nur die Akws in Deutschland ihre Arbeit einstellen, sondern auch die Bewegung selbst. So bunt, freudig, lautstark und von durchaus schlagkräftigen Argumenten einzelner Redebeiträge begleitet sich die Protest- und Kulturmeile präsentiert hat, ist die Zahl von 250 Teilnehmenden ernüchternd. Das zur Kenntnis zu nehmen muß nicht in Resignation münden, denn wer die bloße Zahl der Mitstreiterinnen und Mitstreiter zur Bedingung seines Handelns erklärt, verzichtet darauf, jenen Faden des Zorns in die Hände zu nehmen und nicht mehr loszulassen.

Der radioaktive Fallout nach der Explosion des Blocks 4 des Akw Tschernobyl am 26. April 1986 hat nicht vor Ländergrenzen halt gemacht. Da liegt der Ansatz von Teilen der Anti-Atom-Bewegung nahe, ihren Widerstand auch nach dem Beschluß der Regierung, bis Ende 2022 alle deutschen Akws abzuschalten, weiterzuführen und die Beteiligung Deutschlands an der internationalen Atomwirtschaft aufs Korn zu nehmen. Die Urananreicherungsanlage in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen sind vom sogenannten Atomausstieg nicht betroffen und werden weiter Material produzieren, das in Atomkraftwerken rund um den Globus verbrannt wird. Außerdem führen weiterhin regelmäßig Atomtransporte per Bahn, Lkw oder Schiff kreuz und quer durch Deutschland.


Trommelgruppe auf der Bühne - Foto: © 2016 by Schattenblick Stacheldrahtbewehrte Sperranlage am Akw Brokdorf - Foto: © 2016 by Schattenblick

links: Lautstarke Forderung nach Abschalten des Akw Brokdorf
rechts: Die Zähne des Atomstaats
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrer Regierungserklärung am 9. Juni 2011, "dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können". [5] Wäre es nicht folgerichtig, solchen Worten auch Taten folgen zu lassen? Deutschland hat jedoch seine Unterschrift unter den Euratom-Vertrag nicht zurückgezogen und ist somit verpflichtet, die Entwicklung der Atomenergieindustrie zu unterstützen. Zudem ist es als Mitglied der Europäischen Union automatisch an dem Vorhaben beteiligt, ausgerechnet in der Ukraine den vor dreißig Jahren begonnenen, aber nicht weitergeführten Bau von Atomreaktoren finanziell zu fördern. [6]

Selbst wenn alle Akws abgeschaltet und auch die Atomeinrichtungen in Lingen und Gronau geschlossen wären, müßte das nicht das Ende der Anti-Atom-Bewegung in Deutschland bedeuten. Hinter der zivilen Atomspaltung zur Stromgewinnung lauert ein viel größeres Ungeheuer: Im NATO-Staat Deutschland lagern Atomwaffen. Über den Mechanismus der nuklearen Teilhabe dürfen im Ernstfall auch Bundeswehr-Tornados Atombomben ins Ziel befördern. 1945 wurden von US-Flugzeugen aus Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Daß auch der deutsche Soldat prinzipiell bereit ist, größere Menschenmengen zumindest mit konventionellen Waffen zu töten, hat der Befehl von Oberst Georg Klein am 4. September 2009 in Afghanistan gezeigt. Der "Staatsbürger in Uniform" ließ nahe der Stadt Kundus zwei von Taliban entführte Tanklastwagen bombardieren, wodurch weit über 100 Menschen, darunter viele Kinder, ums Leben kamen. Aus der Sicht der Betroffenen macht es selbstverständlich einen Unterschied, ob 100 oder 100.000 Menschen sterben - ob das auch für diejenigen gilt, die den Befehl zu ihrer Tötung erteilen, ist fraglich.

Die zivile Atomenergie ist gewissermaßen ein Spin-off des Strebens nach dem ultimativen Zerstörungsmittel. Sich für die Abschaffung der Atomwaffen einzusetzen wäre somit eine an die Wurzel gehende Konsequenz der Anti-Atom-Bewegung und wird durchaus von einigen Personen und Organisationen genauso wahrgenommen. Und doch, trotz der enormen Größe der Aufgabe, die Abschaffung von Atomkraftwerken UND Atomwaffen weltweit durchzusetzen, türmt sich hinter diesem Ungeheuer ein nochmals um vieles größeres auf: Denn auch vor dem atomaren Zeitalter haben Menschen ihresgleichen in Massen umgebracht, gefoltert oder ihnen auf andere Weise das Leben zur Hölle gemacht - sei es im Rahmen kriegerischer Konflikte, sei es durch die Unterwerfung als Sklaven, Untertanen oder, in der "fortschrittlichen" Variante, Lohnabhängige und Gehaltsempfänger.

Der Zorn der Anti-Atom-Bewegung, wie er bei den großen Brokdorf-Demonstrationen auch viele Menschen erfaßt und mit zum Protest in die Wilstermarsch gezogen hatte, die sich bis dahin für vollkommen unpolitisch gehalten hatten, und der sogar drei Jahrzehnte darauf noch bei der 4. Protest- und Kulturmeile vor dem Akw Brokdorf als wenngleich dünner Faden präsent war, wird niemals verrauchen, denn das Feuer, das ihn nährt, ist keines, das seinen Brennstoff verbraucht.


Gedenkstein mit der Aufschrift 'Den Toten, Kranken und Vertriebenen von Tschernobyl', dahinter das Akw Brokdorf - Foto: © 2016 by Schattenblick

Selbst 30 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe sind die Folgen nicht behoben
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] www.brokdorf-akut.de
[2] https://doris.bfs.de/jspui/bitstream/urn:nbn:de:0221-20100317939/4/BfS_2007_KiKK-Studie.pdf
[3] https://sand.blackblogs.org/
[4] http://www.iwr.de/news.php?id=31129
[5] https://www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Regierungserklaerung/2011/2011-06-09-merkel-energie-zukunft.html
[6] http://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-akw-101.html


26. April 2016


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