Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


BERICHT/118: Forschung, Klima und polar - Hautkontakt und Daten ... (SB)


Umweltphysik auf und mit der Polarstern

Recherche-Reise der Deutschen Physikalischen Gesellschaft am 2./3. Juni 2016 nach Bremerhaven


"Leinen los!" wird es auf dem Forschungseisbrecher Polarstern am 13. Juni heißen - sofern alles nach Plan verläuft. Dafür sorgen zur Zeit unter Hochdruck Kapitän Thomas Wunderlich und seine Crew. Das über 12.000 Tonnen schwere Schiff liegt zur Zeit im Trockendock der Lloyd Werft in seinem Heimathafen Bremerhaven und wird an allen Ecken und Enden auf Vordermann gebracht. Sein erstes Ziel nach dem Auslaufen wird Spitzbergen sein, etwa zehn Tage darauf wird Kurs auf die Framstraße vor der ostgrönländischen Küste angelegt, wo ein Gletscher bei 79 Grad Nord Kontakt zum Ozean hat und die Wissenschaft nun vermutet, daß sich im Zuge der globalen Erwärmung die Eismassen schneller ins Meer ergießen könnten als bislang angenommen. Satelliten liefern zwar Fernerkundungsdaten von diesem Gebiet, aber um auch die Prozesse unterhalb des Eises, an der Gletscherfront, innerhalb der Meeresströmungen sowie am Grund des Ozeans dieses rauhen Seegebiets genau zu erfassen, müssen die Forscherinnen und Forscher ganz nah an ihren Forschungsgegenstand heranrücken und bei den Untersuchungen selber Hand anlegen.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Polarstern im Trockendock
Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Polarstern einmal nicht in den hohen Breiten unterwegs - eine seltene Gelegenheit für einen Besuch. Der wurde von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) ermöglicht, die nun im zweiten Jahr in Folge, am 2./3. Juni 2016, zu einer Pressereise geladen hatte. Nachdem im vergangenen Jahr "Plasmaphysik" am Forschungsstandort Greifswald auf dem Programm stand [1], lautete in diesem Jahr das Thema "Umweltphysik auf und mit der Polarstern". Hierzu hat die DPG mit dem Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), in dessen Auftrag die Polarstern jedes Jahr im Nordsommer in die Arktis und im Südsommer in die Antarktis fährt, zusammengearbeitet.

Bereits der erste Tag der Pressereise stand ganz im Zeichen des Klimas, jedoch noch nicht auf der Polarstern, sondern im Bremerhavener "Klimahaus 8 Grad Ost". Der Besuch war zugleich eine museale Reise entlang der Länge 8 Grad und 34 Minuten Ost einmal um den Globus. Wer beim Klimahaus den Eindruck hat, daß das 135 Meter lange und ca. 30 Meter hohe Gebäude wegen seiner geschwungenen Form außergewöhnlich aussieht, dürfte von seinem Innern erst recht überrascht werden. Hier durfte sich offenbar der Hamburger Architekt Axel Werner gestalterisch so richtig "austoben". Nach den Vorstellungen des Ideengebers Dr. Carlo Petri hat er eine Museums-Mitmach-Installationswelt geschaffen, die Kinderherzen höher schlagen läßt - und das manches jung gebliebenen Erwachsenen gewiß nicht minder. Hinter den unzähligen Ecken und Winkeln, Felsvorsprüngen und Vorhängen eröffnen sich dem erkundungsfreudigen Besucher mal eine zerklüftete Hochgebirgslandschaft samt Gletscher, mal ein lianenverhangener, feucht-düsterer Tropendschungel, mal eine knochentrockene Wüstenei und mal ein Südseeparadies.

Nachgestellt werden neun klimatisch unterschiedliche Umgebungen auf fünf Kontinenten, angefangen vom Isenthal im schweizerischen Kanton Uri über die Gemeinde Seneghe auf Sardinien, Kanak in Niger, Ikenge in Kamerun, Königin-Maud-Land in der Antarktis, Satitoa auf Samoa, Gambell auf St. Lawrence Island im US-Bundesstaat Alaska, die Hallig Langeneß in Deutschland und schließlich der Ausgangs- und Endpunkt der Reise: Bremerhaven. Um zu vermitteln, wie die Menschen in ihren jeweiligen klimatisch spezifischen Umgebungen leben, waren Axel Werner und sein Team zu jedem dieser Orte gereist und haben dort nach einiger Suche eine Familie ausfindig gemacht, die bereit war, bei dem Projekt mitzumachen. Bei einer zweiten Reise auf der Länge 8° Ost rund um die Welt wurden das Leben der Menschen, ihre Probleme aufgrund des Klimas und ihre Anpassungsleistungen in Bild und Ton festgehalten. Die Ergebnisse werden unter anderem auf den zahlreichen, über die Ausstellungsbereiche verteilten Bildschirmen gezeigt.

Die größten in Bremerhaven simulierten Klimaextreme bestehen zwischen der Antarktis mit Temperaturen von -6 Grad und Niger mit +35 Grad Celsius. Auch die relative Luftfeuchtigkeit entspricht jeweils annähernd der nachgestellten natürlichen Umgebung. Hier werden alle Sinne angesprochen, sogar die Nase kommt auf ihre Kosten. "Ja, man kann jeden Geruch kaufen", antwortete schmunzelnd "Expeditionsleiter" Dr. Michael Theusner, der als einer von drei wissenschaftlichen Beratern des Klimahauses die Pressevertreter durch die Ausstellung geführt hat.


Foto: © 2016 by Schattenblick Pressevertreter auf felsigem Gebirgspfad neben einem Gletscher - Foto: © 2016 by Schattenblick

Links: Das flache, ringförmige Klimahaus mit "angeflanschtem", schiffsaufbauähnlichen Hotel
Rechts: Schweizer Hochgebirgsgletscher an der norddeutschen Küste
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Bunte Fische bunten Korallen - Foto: © 2016 by Schattenblick Große Halle mit rotem Wüstensand, einem trockenen Baum und zwei Knochen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Links: Samoanisches Korallenriff
Rechts: Heiß, staubig und knochentrocken ... arides Klima in Niger
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Hinter den vielen Fenstern und Gucklöchern, die auf die Erlebniswelten verteilt sind, stößt der neugierige Blick manchmal auf eine Kleinstinstallation zu einem bestimmten Thema oder einfach nur auf ein Bild, beispielsweise von einer Kuh, die auf einer Almwiese steht und an einer Blume schnuppert. Zahlreiche Fotos, Filme und Ausstellungsgegenstände wie kulturspezifische Handwerksgeräte sowie lebende Tiere wie Schlangen, Echsen und Fische sollen dazu beitragen, dem Publikum die Umwelt von Menschen in anderen Weltregionen näherzubringen. Die Ausstellung enthält auch fünf Buschbabys - alle männlich, sonst ginge es hier wüst her, so Theusner. Jene nachtaktiven Wesen haben riesige, empfindliche Augen, weswegen diese Tiere auf keinen Fall mit Blitzlicht fotografiert werden dürfen.

So erwartet die Besucher der "Reise" eine abenteuerliche Kulissenlandschaft auf insgesamt 5.000 Quadratmetern mit 57 unterschiedlichen Ebenen, auf denen Erleben und Erfahren dicht beieinander liegen. Ergänzt wird die "Weltreise" im Klimahaus durch die Ausstellungsbereiche "Perspektiven" (Klimawandel in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und "Chancen" (Was man selber tun kann, um klimabewußter zu leben), die zusammen noch einmal etwa die gleiche Fläche einnehmen. In Hochzeiten wird das Gebäude schon mal von 5000 Besucherinnen und Besuchern am Tag aufgesucht.

Man kann sagen, daß das Klimahaus pädagogische Lerninhalte vermittelt, zugleich aber nicht den Eindruck einer beabsichtigten, von oben aufgesetzten Pädagogik hinterläßt. Wobei an dieser Stelle anzumerken ist, daß das Publikum und damit auch die vielen Schulklassen, die das Klimahaus aufsuchen, ein ganz bestimmtes Bild von einer Realität präsentiert bekommen, die sicherlich auf einige Menschen beispielsweise in Niger und Kamerun zutrifft, auf andere jedoch ganz sicher nicht. So wird zwar die Armut in Afrika durchaus deutlich gemacht, beispielsweise wenn in einer Filmaufnahme ein Mädchen, das auf einem offenen Feuer einen Brei kocht und diesen mit einem klobig wirkenden Holzlöffel umrührt, aber immerhin ist hier der Topf randvoll mit Nahrung gefüllt. In Kamerun, mehr noch jedoch in Niger wissen viele Einwohnerinnen und Einwohner morgens nicht, ob sie bis zum Abend etwas zu essen bekommen. Die Lebensrealität dieser Menschen dürfte anders aussehen, als sie hier in Bremerhaven präsentiert wird.

Das Verbindende zwischen den präsentierten Ländern und Kulturen beschränkt sich nicht auf einen abstrakten Längengrad. Ob zu Kolonialzeiten oder in der heutigen neokolonialen Phase: Der relative Wohlstand von wenigen gründet sich seit jeher auf die Armut von vielen. Das gilt in jedem Land für sich genommen, aber eben auch für das Austauschverhältnis zwischen dem relativ wohlhabenden globalen Norden und dem verarmten globalen Süden. Sicherlich würde das Klimahaus nicht die Erwartungen seiner Geldgeber wie der Stadt Bremerhaven erfüllen, die laut Theusner in Folge der Werftenkrise, des Rückgangs der Fischerei und der Schließung eines amerikanischen Militärstützpunkts die höchste Arbeitslosenquote Deutschland besaß, sollten seine Betreiber allzu deutlich darauf verweisen, daß Wohlstand und Elend zwei Seiten einer Medaille sind und die Ökonomie ihr verbindendes Element darstellt.

Also werden im Klimahaus zwar auf höchst unterhaltsame, spielerische und lehrreiche Weise Unterschiede der klimatischen Verhältnisse und der Anpassungsleistungen der Menschen vermittelt, auch spart man nicht Themen wie den gesundheitsgefährdenden und umweltschädigenden Uranabbau in Niger aus, aber der analytische Blick auf die Gründe und Abgründe menschlicher Not geht nicht darüber hinaus.


Nische mit gelbem, als radioaktiv gekennzeichneten Faß in einer Wüstenlandschaft - Foto: © 2016 by Schattenblick Buschbaby schaut mit großen Augen und aufgerichteten Ohren aus seiner Behausung heraus - Foto: © 2016 by Schattenblick

Links: Niger - Uranabbau für europäische Atomkraftwerke
Rechts: Buschbabys - laut Klimahaus-Mitarbeiter Theusner hat sich das eine oder andere Kind schon mal ablehnend gegenüber der Präsentation lebender Tiere geäußert
Fotos: © 2016 by Schattenblick

Wenngleich das Klimahaus nicht speziell auf physikalische Fragen im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der Menschen in den verschiedenen Klimaten abhebt, steckt in den Präsentationen natürlich überall Physik mit drin. Klima ist unter anderem eine Folge des von der Astrophysik beschriebenen exzentrischen Bahnverlaufs der Erde um die Sonne, der Neigung der Drehachse der Erde zur Sonne (Präzession) sowie des Einflusses des Monds auf die Erde. Somit ist die inhaltliche Brücke auf der von der DPG initiierten Reise zwischen dem Besuch des Klimahauses und dem auf der Polarstern am folgenden Tag, an dem unter anderem vier Fachvorträge zum Themenkomplex Klima gehalten wurden, breit angelegt. Im übrigen passen die vordergründig unterschiedlich ausgerichteten Tage der Recherche-Reise auch deshalb gut zusammen, weil seit einigen Jahren vor allem in Wissenschaft und Zivilgesellschaft immer mehr von einer Transformation der Gesellschaft hin zu einer klimaverträglichen Lebensweise gesprochen wird, um die globale Erwärmung zu bremsen. Dazu paßt, wie im Klimahaus versucht wird, einem breiten Publikum ein Bewußtsein für die Problematik zu vermitteln, und dazu passen der Einblick in die Arbeits- und Funktionsweise der Polarstern sowie in die Forschungsergebnisse, die teilweise mit diesem Schiff gewonnen wurden.

Es ist hinlänglich bekannt, daß die bei der Verbrennung fossiler Energieträger (Kohle, Erdöl, Erdgas) entstehenden Emissionen von Kohlenstoffdioxid (CO2) den Treibhauseffekt verstärken. Die Arktis zählt zu den Weltregionen, in denen der Klimawandel bereits die deutlichsten Spuren hinterlassen hat: Seit einigen Jahrzehnten schrumpft die sommerliche Meereisfläche und könnte in diesem Jahr, sollte der Trend anhalten, Ende August, Anfang September ein Rekordminimum erreichen; die Fließgeschwindigkeit vieler Gletscher hat enorm zugenommen; Permafrostböden tauen auf.

Auch am anderen "Ende" der Erde, auf der Antarktis, sind bereits regional extreme Veränderungen zu beobachten. So wird inzwischen vermutet, daß die Eis- und Gletscherschmelze auf der Westantarktischen Halbinsel nicht mehr aufzuhalten ist, selbst wenn die Menschheit schlagartig aufhörte, fossile Energieträger zu verbrennen. Darüber hinaus mehren sich in den letzten ein, zwei Jahren Berichte, wonach auch der riesige Eisschild der Ostantarktis, dessen Abschmelzen den Meeresspiegel weltweit um über 50 Meter anheben würde, nicht so stabil ist wie erhofft.

Es gibt also gute Gründe, Arktis und Antarktis näher zu untersuchen. Da kommt die Polarstern ins Spiel. Der 1982 in Dienst gestellte Eisbrecher bringt Jahr für Jahr Forscherinnen und Forscher in die unwirtlichen polaren Gebiete, so daß sie dort aktuelle Entwicklungen beobachten, aber auch in die sogenannten Klimaarchive schauen können. Anhand von Bohrkernen, die aus dem mehrere tausend Meter mächtigen antarktischen Eisschild gezogen werden, läßt sich auf vergangene Klimate schließen. Diese Daten fließen in die Modelle ein, mit denen Projektionen möglicher Klimaentwicklungen erstellt werden und in Verbindung mit vielen anderen Forschungen letztlich in Aussagen münden können wie: Wenn aufgrund der anthropogenen Treibhausgasemissionen die CO2-Konzentration der Atmosphäre auf über 450 ppm (parts per million - Teile pro Million) zunimmt, wird die globale Durchschnittstemperatur wahrscheinlich um mehr als zwei Grad Celsius steigen. Das würde Wetterextreme wie Dürren und Überschwemmungen weltweit verschärfen, die Klimazonen verschieben und den Meeresspiegel um vielleicht einen Meter steigen lassen. Eine naheliegende Konsequenz daraus: Rund 80 Prozent der bekannten Lagerstätten fossiler Energieträger sollten besser nicht angetastet werden. Sie müssen im Boden bleiben und dürfen nicht gefördert werden, sonst würde die 2-Grad-Schwelle überschritten.


Von innen erleuchtetes Zelt und Reisekoffer auf der 'antarktischen' Eisfläche im Klimahaus - Foto: © 2016 by Schattenblick

Bibberkalte "Antarktisstation" auf 8 Grad östlicher Länge
Foto: © 2016 by Schattenblick

Im ersten Vortrag an Bord der Polarstern berichtete Prof. Dr. Olaf Eisen, Glaziologe am Alfred-Wegener-Institut für Meeresforschung, über "die Suche nach dem ältesten Eis", weil man die Wechselwirkung von Treibhausgasen und Klima über die letzten 1,5 Millionen Jahre möglichst lückenlos kennen will. Von solch einem relativ detailgenauen Klimaarchiv verspricht sich die Forschung Erkenntnisse über plötzliche Erwärmungsphasen und Antworten auf Fragen wie, ob sich diese Warmphasen mit der CO2-Konzentration in der Atmosphäre korrelieren lassen oder ob es noch andere Faktoren gibt, an die man bisher gar nicht gedacht oder deren Klimawirkung man unterschätzt hat.

Jedes der letzten drei Jahrzehnte war an der Erdoberfläche sukzessive wärmer als alle vorangehenden Jahrzehnte seit 1850, berichtete Eisen. Aus den bisher von der Wissenschaft gewonnenen Eisbohrkernen geht hervor, daß die Konzentrationen der drei wichtigsten Treibhausgase - Kohlendioxid, Methan und Lachgas - auf Werte angestiegen sind, die zu keiner Zeit in den letzten 800.000 Jahren vorkamen. Aber wie ist es mit der Zeit davor? Und warum besaß die natürliche Schwankung der CO2-Konzentration in der Vergangenheit einem Rhythmus von rund 40.000 Jahren und ging vor einer Million Jahren in eine Schwankungsdauer von 100.000 Jahren über? Verbirgt sich die Antwort auf diese Frage vielleicht im ältesten Eis, nach dem man jetzt fahndet?

Im zweiten Vortrag auf der Polarstern ging es dann von der Süd- auf die Nordhalbkugel der Erde. Prof. Dr. Torsten Kanzow, der ebenfalls am AWI forscht, fragte: "Welche Rolle spielt die Atlantikwasserzirkulation für den Rückgang des arktischen Meereises und der marinen Auslaßgletscher Grönlands?" Er wolle Einblick in aktuelle Arbeiten geben, "anstatt fertige Antworten zu präsentieren, die wir nicht haben", sagte er und erklärte, daß die Frage zu Beginn seines Vortrags am Ende stehen bleiben wird.

Auch wenn nicht jede Schwankung in der arktischen Meereisfläche als Trend für oder gegen den Klimawandel gedeutet werden sollte, sei in den letzten rund 30 Jahren ein dramatischer Eisschwund zu erkennen. Seegebiete von der Barentssee bis nördlich von Spitzbergen werden von der atlantischen Warmwasserzirkulation beeinflußt und sind im Unterschied zu früheren Jahren inzwischen komplett eisfrei.

Da auch die Mächtigkeit des grönländischen Eisschilds, dessen Gletscher im direkten Kontakt mit dem Meer stehen, vor allem im Randbereich abnimmt, vermutet die Wissenschaft, daß dort nicht nur ein atmosphärischer, sondern auch ein ozeanischer Einfluß vorliegt. Hier liegt einer der Forschungsschwerpunkte des AWI. Es unterhält Dauermeßstationen in der Framstraße, um den Warmwassereintrag aus dem Atlantik in das Nordpolarmeer zu vermessen. Wieviel Wärme wird dorthin transportiert? Was richtet sie dort an? Wieviel Wärme wird über andere Äste der Meeresströmung wieder zurück in den Atlantik gefördert?, lauten einige Fragen dieses Forschungsvorhabens.

Zusammen mit russischen und amerikanischen Kollegen hat Kanzow nördlich des arktischen Kaps eine ähnliche Meßreihe aufgebaut, wie sie das AWI bereits in der Framstraße betreibt, und noch in diesem Jahr sollen auf einem ostgrönländischen Schelfeis Messungen durchgeführt werden, um unter anderem zu prüfen, ob eine rund 500 Meter mächtige und mit Ozeanwasser gefüllte Kaverne unterhalb eines Gletschers einen Wärmezustrom aus dem Meer erfährt und von der Unterseite angeschmolzen wird.


Der Referent mit Zeigestock vor Power-Point-Darstellung - Foto: © 2016 by Schattenblick

Prof. Kanzow stellt das ozeanographische Meßsystem des AWI vor
Foto: © 2016 by Schattenblick

"Wie geht es dem Golfstrom?" lautete der Titel des Vortrags von Prof. Monika Rhein, und gegen Ende ihrer Ausführungen beantwortete sie diese Frage wie folgt: "Danke der Nachfrage, ausgesprochen gut. In den letzten 20 bis 30 Jahren stark wie immer." Die Leiterin der Arbeitsgruppe für Ozeanographie an der Universität Bremen trat der wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen These entgegen, daß der Golfstrom versiegt und eine starke Abkühlung Europas bevorsteht. Letzteres würde zwar bei einem langfristigen Trend sicherlich eintreten, doch daß es überhaupt so einen Trend gibt, könne sie nicht bestätigen. Das Transportvolumen des Golfstroms unterliege sehr starken Schwankungen, deshalb sollte man aus einer Abschwächungsphase noch nicht auf einen langfristigen Trend schließen.

Bei 40 Grad nördlicher Breite, was ungefähr der Linie New York-Lissabon entspricht, trägt die Meeresströmung des Atlantiks nur zu zehn Prozent des Wärmetransports nach Europa bei. Eine größere Bedeutung haben dagegen die Windsysteme, berichtete Rhein über die Ergebnisse der gemeinsamen Forschung von MARUM, dem Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen, und dem Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie (BSH).

Nach Eis und Meeresströmungen ging es im vierten Vortrag hinauf in die Atmosphäre. Prof. Dr. Martin Riese, Direktor des Forschungsbereichs Stratosphäre am Forschungszentrum Jülich, berichtete von der großen Klimawirksamkeit der Tropopause, einer in den Tropen 18 Kilometer, in außertropischen Bereichen 10 Kilometer hohen, relativ kalten Grenzschicht zwischen der Troposphäre (untere Atmosphäre) und Stratosphäre (obere Atmosphäre). In der Tropopause wirken sich Änderungen von Spurengasen stark auf die Bodentemperatur aus. In dieser Grenzschicht hat ein Wassermolekül eine fünfmal so große Wirkung auf die Bodentemperatur wie eines in der unteren Atmosphäre.

Solche wissenschaftlichen Beobachtungen mögen sich für den Laien abgehoben anhören. Tatsächlich hat diese Forschung auch etwas mit "Abheben" zu tun, wenngleich nicht im übertragenen Sinn: Flugzeuge, die auf Langstreckenflügen in eben jener Tropopause ihr Ziel anstreben und hier Wasserdampf und andere Abgase hinterlassen, beeinflussen das Klima. Ein eigentlich wolkenfreier Himmel, auf dem sich zahlreiche Kondensstreifen kreuzen, hat eine nachweisbare Klimawirkung. Der Erwärmungseffekt durch Kondensstreifen gilt als größer als der durch die CO2-Emissionen von Flugzeugen.

Sehr geringe Wasserdampfänderungen in der sich der Tropopause nach oben anschließenden Stratosphäre üben ebenfalls einen starken Einfluß auf das Bodenklima aus. Warum es dort zu deutlichen Schwankungen der Wasserdampfkonzentration kommt, ist laut Riese noch weitgehend unverstanden. Die Vorgänge seien sehr komplex, man brauche aber ein umfassendes Bild auch von den Prozessen in der Stratosphäre, um zuverlässige Modelle für das Klima am Boden zu erstellen. Deshalb arbeitet das Jülicher Forschungszentrum an einem dreidimensionalen, räumlich hochaufgelösten Meßverfahren, das eines Tages auf einem Satelliten installiert werden soll, um laufende Messungen vornehmen zu können. Zur Zeit beruhten die Modelle noch im wesentlichen auf punktuellen Untersuchungen.

Lückenhafte Klimaarchive aus dem Eis ... ein zu kurzer Zeitraum, um aus den Schwankungen des Golfstroms einen Trend herzuleiten ... noch viel zu wenig erforschte Auswirkungen des marinen Wärmetransports auf grönländische Gletscher ... bislang unverstandene Ursachen für den Einfluß von oberer Troposphäre und unterer Stratosphäre auf das Erdklima ... mit diesen vier Fachvorträgen von der aktuellen Klimaforschungsfront an Bord der Polarstern haben DPG und AWI einen eher nachdenklich machenden Kontrapunkt zum Besuch des Bremerhavener Klimahauses gesetzt, das zumindest in dem Ausstellungsbereich "Reise" vornehmlich erlebnisorientiert ausgerichtet ist. Ohne hier der Beliebigkeit das Wort reden zu wollen, wurde auf der Recherche-Reise zur Umweltphysik deutlich, auf welch unsicheren Füßen die Klimaforschung insbesondere an den Grenzbereichen des Wissenschaffens nach wie vor steht. Wird sie in der Lage sein, die an geologischen Zeiträumen gemessen rasanten Veränderungen, die zur Zeit in einer Reihe von Erdsystemen parallel auftreten, rechtzeitig zu erfassen?

Die Schattenblick-Redaktion setzt die Berichterstattung über die Recherche-Reise mit einer Reihe von Interviews mit den Referenten sowie dem Kapitän der Polarstern fort.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Kapitän Thomas Wunderlich erläutert auf der Brücke der Polarstern, wie das Schiff im Auftrag der Forschung auch dickes Eis durchbricht
Foto: © 2016 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Die Berichterstattung des Schattenblick zur "Pressereise zur Startvorbereitung für den Wendelstein 7-X & Plasmaphysik im All und auf der Haut" aus dem Jahr 2015 finden Sie unter INFOPOOL → NATURWISSENSCHAFTEN → REPORT unter den Rubriken BERICHT und INTERVIEW, jeweils mit dem kategorischen Titel "Kernfusion und Plasmaforschung" versehen.


10. Juni 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang