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BERICHT/128: Botanik 2017 - mundgerechtes Zählen ... (SB)


Wie viele Menschen hungern in der Welt? Wer diese Frage stellt, wird unvermeidlich auf Zahlen stoßen, die von der FAO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, zusammengestellt und veröffentlicht wurden. Ob Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft oder Zivilgesellschaft, sie alle berufen sich auf die regelmäßig veröffentlichten Berechnungen dieser UN-Institution. So auch Prof. Dr. Andreas Graner am 18. September 2017 in seinem öffentlichen Vortrag "Können wir mit unseren Nutzpflanzen in 20 Jahren noch die Welt ernähren?" auf der Botanikertagung 2017 an der Christian-Albrechts-Universität (CAU) zu Kiel. Dem jüngsten Welternährungsbericht zufolge hungern weltweit 815 Millionen Menschen.


Referenten auf dem Podium - Foto: © 2017 by Schattenblick

Von links: Prof. Dr. Friedhelm Taube, Prof. Dr. Andreas Graner, Prof. Dr. Karl-Josef Dietz, Prof. Dr. Andreas Weber, Stig Tanzmann, Dr. Frank Wolter
Foto: © 2017 by Schattenblick

Graner, der geschäftsführender Direktor und Leiter der Abteilung Genbank am Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK) in Gatersleben ist, nahm auch an einer Podiumsdiskussion teil, die sich seinem Vortrag anschloß. Unter der Moderation von Prof. Dr. Karl-Josef Dietz (Präsident der Deutschen Botanischen Gesellschaft) debattierten Prof. Dr. Friedhelm Taube (Institut für Pflanzenbau & Pflanzenzüchtung der CAU), Prof. Dr. Andreas Weber (Institut für Biochemie der Pflanzen an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), Dr. Frank Wolter (Norddeutsche Pflanzenzucht, NPZ Innovation GmbH, Hohenlieth, Holtsee) und Stig Tanzmann (Referent für Landwirtschaft der Organisation Brot für die Welt) über die Voraussetzungen, Erscheinungsformen, Verbreitungsgebiete und Folgen des Hungers.

Dabei legte Graner Wert auf die Feststellung, daß man sich in der Diskussion schon darauf einigen sollte, die FAO-Zahlen als Referenzgröße zugrunde zu legen. Er reagierte damit auf einen Einwand Tanzmanns, wonach die FAO vor einigen Jahren ihre Berechnungsgrundlage verändert habe und daß, würde man die ursprüngliche Berechnungsmethode beibehalten, die Hungerzahlen nicht zurückgehen, sondern ansteigen und wir heute nicht 815 Mio., sondern mehr als eine Milliarde Hungernde auf der Welt hätten.

Dieser Einwand bezieht seine Legitimation nicht zuletzt daraus, daß die FAO die Referenzwerte für den Welthunger liefert. Hinter der Zahl "815 Millionen" steckt eine Fülle an Informationen und auch Abschätzungen, die miteinander verrechnet werden müssen. Wenn sich nun durch eine Neuberechnung ein deutlich positiveres Bild ergibt, dann kann die Aufklärung über diesen Umstand durchaus zur Seriosität einer Diskussion beitragen.

Tanzmann dürfte sich nicht zuletzt auf ein von Brot für die Welt gemeinsam mit der Entwicklungsorganisation FIAN Deutschland herausgegebenes Hintergrundpapier bezogen haben, in dem unter Berufung auf FAO-Quellen kritisch untersucht wird, daß und in welcher Weise diese UN-Organisation im Jahr 2012 ihre Berechnungsmethode umgestellt hat. Einige der Kernthesen dieses Papiers [1] lauten:

- Für die Berechnung des Kalorienbedarfs eines Menschen nimmt die FAO einen "bewegungsarmen Lebensstil" wie beispielsweise Büroarbeit an. Doch ausgerechnet die Hungernden bewegen sich sehr viel. Sie sind nicht lethargisch, wie man es vielleicht von den Bildern über eine Hungersnot in Afrika her kennt, in denen Hungernde im Endstadium gezeigt werden. Viele Hungernde bewirtschaften kleinste Flächen und versuchen, ihnen Nahrung abzugewinnen. Andere befinden sich entweder auf der permanenten Suche nach Nahrung oder einer Verdienstmöglichkeit; manche schinden sich für einen sprichwörtlichen Hungerlohn im Bergbau oder bei der Plantagenarbeit ab. Würde man den Kalorienbedarf auch nur eines "moderaten Lebensstils" (z. B. Servicekraft) zugrundelegen, würde die Zahl der Hungernden um 50 Prozent von 842 Mio. auf knapp 1,3 Mrd. Menschen steigen.

- In der Methodik der FAO werden die Kosten und Preisentwicklungen von Grundnahrungsmitteln kaum berücksichtigt. Dementsprechend haben sich Hungerrevolten in über 40 Ländern und Preisexplosionen bei Grundnahrungsmitteln von teilweise über 200 Prozent binnen weniger Wochen, zu denen es 2007/2008 weltweit kam, in der graphischen Darstellung der Hungerzahlen nicht niedergeschlagen. (Das räumt auch FAO-Generaldirektor Jose Graziano da Silva ein. Er schreibt: "Die Abschätzungen zur Unterernährung geben nicht die Auswirkungen der Preisanstiege 2007/08 und seit 2009 die wirtschaftliche Abschwächung in einigen Ländern vollständig wieder." [2])

- Die FAO rechnet nur diejenigen zu den Hungernden, die ein ganzes Jahr am Stück nicht genügend Nahrung zur Verfügung haben. Nicht dazugezählt werden die Landbewohner, die ihre Vorräte vom Vorjahr verzehrt haben, noch bevor die neue Ernte eingebracht ist. Das Phänomen ist in Afrika so weit verbreitet, daß es einen eigenen Namen erhalten hat: "lean season", z. Dt. "magere Jahreszeit". Ebenfalls durchs Raster fallen die Opfer von Extremwetterereignissen, deren Ernte durch Dürre, Überschwemmungen, Hagelschlag u. ä. vernichtet wurde.

Der Philosoph und Direktor des Global Justice Program der Yale University, Thomas Pogge, spannt den zeitlichen Bogen noch weiter. Er hat sich ebenfalls mit der Methodik, wie die FAO zu ihren Hungerzahlen kommt, näher befaßt und sagte 2015 in einem Interview mit Zeit online, daß die FAO im Laufe der letzten knapp zwanzig Jahre verschiedene Anpassungsmaßnahmen vorgenommen hat: "Auf dem Welternährungsgipfel 1996 wollten die Regierungen die Anzahl der hungrigen Menschen noch bis zum Jahr 2015 halbieren. Auf dem Millenniumsgipfel 2000 sollte nur noch ihr Anteil an der Weltbevölkerung halbiert werden." [3]

Dieser Wechsel von der absoluten Zahl zur Prozentzahl hat weitreichende Konsequenzen. Da die Weltbevölkerung wächst, kann jetzt auch die Zahl der Hungernden wachsen, denn es geht ja nur noch um ihren Anteil. Die Hälfte von 1.000 Mio. Hungernden ergibt 100 Mio. mehr Menschen als die Hälfte von 800 Mio. - in beiden Fällen ist jedoch von der Hälfte die Rede, als hätte sich nichts geändert. Das heißt, der permanente Anstieg der Zahl der Hungernden wird durch die bloße Prozentangabe unkenntlich gemacht.

Außerdem, so Pogge, hat die FAO das Basisjahr ihrer Berechnungen von 2000 auf 1990 vorverlegt. Diese Neuberechnung hatte zur Folge, daß 1990 mehr Menschen als bisher angenommen gehungert haben. Der höhere Ausgangswert sorgt nun für einen steileren Abfall der Kurve. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei die von der Staatengemeinschaft angestrebte Halbierung der Hungerzahlen bis 2015 beinahe erreicht worden.

Sogar Olivier de Schutter, ehemaliger UN-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung (2008 bis 2014), übt scharfe Kritik an der FAO-Methode zur Berechnung des Hungers. Er schätzte die Zahl der Hungernden im Jahr 2014 auf 1,2 bis 1,3 Mrd. Menschen. [4]

Die FAO begründet die Überarbeitung ihrer Erfassungsmethode mit Verweis auf die zunehmenden Schwankungen der Weltmarktpreise in den zurückliegenden fünf Jahren, neuen Datenquellen für den Zugang zu Nahrung und der expliziten Aufforderung des Committee on World Food Security (CFS) im Jahr 2010 und eines Runden Tischs von Experten im Folgejahr. [5]


Kurvendiagramm mit Vergleich der Hungerzahlen nach der alten und der neuen FAO-Methodik - Schaubild: Weltagrarbericht, CC BY-NC-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/]

Zahl der Hungernden (in Mio.) zwischen 1991 und 2012
Schaubild: Weltagrarbericht, CC BY-NC-SA 3.0 DE [https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/]

Bis heute wurde noch keine nennenswerte Trendwende in der Vernachlässigung des ländlichen Raums und damit der Regionen, in denen die Nahrung auch für die Stadtbevölkerung produziert wird, eingeleitet. Als typischen Ausdruck dessen könnte man ansehen, daß zwischen 1980 und 2004 der Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe für die Landwirtschaft von 18 auf vier Prozent gesunken ist. Und das, obwohl drei von vier Hungernden und Mangelernährten auf dem Land leben. Unter anderem in Folge dieser Politik der Entwicklungszusammenarbeit hält die Landflucht ungebrochen an, so daß seit 2008 global mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben. In seinem Vortrag zählte Prof. Graner Landflucht bzw. in ihrer Folge die Urbanisierung zu einem der Faktoren, die sich negativ auf die Nahrungsversorgung auswirken. Denn die Städte breiten sich mehr und mehr in den ländlichen Raum aus, häufig ausgerechnet auf Kosten der landwirtschaftlich ertragreicheren Flächen.

Der Hinweis Stig Tanzmanns bei der Podiumsdiskussion der Botanikertagung in Kiel auf die Modifikationen der FAO beim Erstellen der Hungerzahlen ist also nachvollziehbar. Auch wenn die Debatte um diese statistischen Anpassungsmaßnahmen inzwischen einige Jahre zurückliegt, bleibt das Thema globaler Hunger und die Frage, wie er berechnet wird, aktuell. Denn die internationale Staatengemeinschaft hat sich mit der Verabschiedung der 17 SDGs, der Nachhaltigkeitsziele, vorgenommen, bis zum Jahr 2030 unter anderem den Hunger in der Welt zu beenden. Bisher ist nicht zu erkennen, wie dieses Ziel erreicht werden könnte - sieht man einmal davon ab, daß sich rein statistisch sicherlich noch einiges deichseln ließe ...

In Anbetracht der verschiedenen Anpassungsmaßnahmen zur Methodik der Hungerberechnung wundert es nicht, daß der FAO der Vorwurf gemacht wurde, sie beschönige die Hungerzahlen, der reale Mangel sei viel größer. Denn den hinter der UN-Organisation stehenden Staaten dürfte ein gehöriges Legitimationsproblem drohen, würde sich offenbaren, daß sie noch viel weitreichender als angenommen an der existentiell wichtigen Frage der Nahrungsversorgung scheitern. Die Menschen könnten fragen, wozu sie sich Staaten zugehörig fühlen sollten, wenn diese sie hungern lassen, und sich Ideen, Konzepten und Mitteln des Sozialkampfs zuwenden. Ebensowenig dürfte den Staaten an einer öffentlichen Debatte darüber gelegen sein, ob das vorherrschende Wirtschaftssystem überhaupt darauf ausgerichtet ist, den globalen Hunger zu beenden, da darin prinzipiell nur dann etwas einen monetären Wert hat, wenn daran Mangel herrscht. Das gilt auch für Lebensmittel. Von daher besteht ein reges Interesse seitens der Profiteure der vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung, die globale Nahrungsnot nicht allzu drastisch erscheinen zu lassen.


Fußnoten:


[1] http://www.fian.de/fileadmin/user_upload/dokumente/shop/hunger/13_10_11_FAO_Hungerzahlen.pdf

[2] tinyurl.com/y86wh23b

[3] http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-06/thomas-pogge-armut-bekaempfung-nachhaltige-entwicklung/komplettansicht

[4] https://www.tni.org/files/download/transcript_speech_olivier_de_schutter.pdf

[5] http://www.fao.org/fileadmin/templates/es/SOFI_2012/sofi_technical_note.pdf


Bisher zur öffentlichen Abendveranstaltung der Botanikertagung 2017 in Kiel im Schattenblick unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT erschienen:

BERICHT/127: Botanik 2017 - Agrarpfründe, Agrarsünde ... (SB)
INTERVIEW/261: Botanik 2017 - Nahrungsquellen nicht grenzenlos ...     Prof. Dr. Andreas Graner im Gespräch (SB)


27. September 2017


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