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INTERVIEW/039: Down to Earth - Rat der Weisen? (SB)


Dr. Martin Lees, ehemaliger Generalsekretär des Club of Rome, nimmt Stellung



Als ehemaliger Generalsekretär des Club of Rome [1] und Rektor der UN-Friedensuniversität von Costa Rica sowie bis heute von Regierungen und Unternehmen gern in Anspruch genommener Berater kennt Dr. Martin Lees das Geschäft. Er bewegt sich seit langem an der Schnittstelle zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft und ist internationalen Institutionen eng verbunden. Der 1941 geborene Schotte hat an der Universität von Cambridge studiert und dort in Ingenieurwissenschaften abgeschlossen. Zudem hat er ein Diplom in European Studies vom College of Europe in Brügge.

Am Dienstag, den 28. August 2012, hielt Lees auf dem 32. Weltgeografenkongreß in Köln eine von zwei Schlüsselreden, den sogenannten Keynote Speeches. [2] Im Anschluß an die gut besuchte Veranstaltung, mit der sich die Kölner Universität auch nach außen präsentierte, stellte sich Lees dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.

Interviewpartner nebeneinander in Sitzreihe - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Martin Lees und SB-Redakteur
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Lees, Sie haben Ihre Rede heute mit der Erklärung eröffnet, daß noch Hoffnung besteht, den gegenwärtigen Kurs der Erde zu ändern. Würden Sie dafür die Einrichtung einer globalen Regierung bevorzugen und wenn ja, wie könnte sie aussehen?

Martin Lees (ML): Die kurze Antwort darauf lautet: Ich favorisiere keine globale Regierung. Aus mehreren Gründen. Wie ich erklärt habe, stehen wir vor dem Problem, daß die Welt sehr komplex ist. Wollten Sie nun eine globale Regierung haben, bedeutete das, daß an der Spitze der Pyramide Leute sitzen müßten, die fähig sind, ausreichende Informationen vom übrigen System zu verarbeiten und zu begreifen. Und dann, wenn sie dazu fähig wären, die gleichen Leute ebenfalls fähig sein müßten, Entscheidungen zu treffen und dafür zu sorgen, daß diese nach unten gelangten. Die Probleme müßten also an der Basis gelöst werden. Deshalb halte ich ein Modell, bei dem die Hoffnung besteht, daß man globale Entscheidungen trifft, um alle Probleme zu lösen, für eine Schimäre, ein Trugbild. Dennoch schließt das nicht aus, daß bestimmte Dinge auf globaler Ebene getan werden müssen. Und wer wie ich ein systematischer Mensch ist, weiß, daß man effektiver arbeitet, wenn man bestimmte Probleme auf der jeweils angemessenen Ebene löst.

In der Systemanalyse gibt es die Idee der 'Suboptimierung'. Damit wird gesagt, daß nicht immer alle Probleme nach ganz oben gebracht werden müssen. Ich glaube, wir haben diesen Fehler in unserer Welt unter dem Eindruck der Globalisierung und weltweiten Finanzströme gemacht. Durch all diese gewaltigen Erscheinungen haben wir uns nun in eine Position manövriert, in der wir die Probleme sprichwörtlich nicht begreifen und nicht vom Zentrum aus handhaben können. Die Schlußfolgerung dazu lautet: Entweder scheitern wir an der Aufgabe, mit den Problemen fertig zu werden, oder wir entwickeln eine neue Verhaltensweise.

Auf der ganzen Welt hört man jetzt das Argument, insbesondere hinsichtlich der Banken: Too big to fail. [3] Kann man eine Bank führen, die so groß ist wie Goldman Sachs? Die Antwort darauf lautet tatsächlich Nein. Wir sehen, daß riesige Probleme entstehen, weil sie einfach nicht genügend informiert sein können, um das Geschäft zu betreiben. Deshalb kommt der Punkt, an dem man sich fragen muß: Können wir die Dinge aufbrechen, um sie kleiner zu machen und zu optimieren? Und wenn das der Fall ist - wir befinden uns hier ja in einem akademischen Umfeld -, so könnte man beinahe sagen, das ist der Unterschied zwischen Dinosauriern und Säugetieren. Die Dinosaurier wurden größer und größer und größer, doch dann waren sie nicht mehr in der Lage, sich anzupassen. Wohingegen diese kleinen, schlauen, schnellen Säugetiere umherflitzten und die Probleme vergleichsweise leicht lösten. Ich glaube, wir bewegen uns auf eine Zeit zu, in der wir ein bißchen schlauer und nachdenklicher werden und anfangen müssen, uns zu überlegen, wie wir das Ausmaß unserer Probleme auf ein Niveau bringen, auf dem sie handhabbar werden.

SB: Eine Milliarde Menschen haben nicht genug zu essen. Sind die Grenzen des Wachstums für diese Menschen überschritten?

ML: Das halte ich für eine zu einfache Schlußfolgerung. Zur Zeit können wir noch genügend Nahrung produzieren, um jeden zu ernähren. Deshalb ist es nicht einfach eine objektive Frage, ob wir bestimmte physikalische Grenzen überschritten haben. Das heißt aber nicht, daß das auch für die Zukunft gilt. Mit dem Klimawandel und ähnlichen Entwicklungen werden wir meiner Ansicht nach die Grenzen schon bald überschreiten, bis zu denen wir genügend Nahrung produzieren können. Das Problem ist also mehr eines der Organisation und Verteilung als der absoluten Grenzen. An dieser Stelle sagt der Club of Rome aber nicht, daß wir das Tempo des Wachstums bremsen müssen. Denn wir müssen ja in Zukunft den Bedarf von neun oder zehn Milliarden Menschen erfüllen - man kann nicht einfach die Maschine abstellen, nicht wahr?

Auf der anderen Seite muß man anfangen darüber zu sprechen, was man meint, wenn man von "Wachstum" spricht. Ist damit mehr und mehr Verbrauch physikalischer Dinge gemeint oder wird man davon abweichende Arten von Wachstum herausfinden? In den sechziger Jahren hatte es darüber eine legitime ökonomische Debatte gegeben, die jedoch durch unseren neokonservativem Marktmechanismus zerstört wurde. Aber wir kommen wieder auf die Frage zurück: Was ist mit "Wachstum" gemeint? Kann man auf eine Weise wachsen, die auf menschliche Bedürfnisse und nicht auf menschliche Gier ausgerichtet ist? Ich glaube, diese Frage steht nun an.

SB: Vor vierzig, dreißig, zwanzig und auch vor zehn Jahren haben vermeintlich kluge Köpfe "Lösungen" für globale Gefahren präsentiert. Doch die Gefahren haben zugenommen. Ist es nicht an der Zeit, daß die sogenannten Denker ihre eigene Fähigkeit, mit den globalen Problemen fertig zu werden, überdenken?

ML: Die Frage ist schwierig zu beantworten. Wenn Sie sich die Konferenzen und zwischenstaatlichen Diskussionen auf der ganze Welt anschauen, würde ich vermuten, daß 90 Prozent der Zeit mit der Debatte darüber verbraucht wird, was die Probleme sind und wie die Analyse davon, was die Probleme sind, aufpoliert werden kann. Wenn Sie Glück haben, werden vielleicht 10 Prozent für die Frage verwendet, wie man in der wirklichen Welt eine echte Veränderung erzielen kann. Wir besitzen die Fähigkeit, die Probleme intellektuell, technologisch, einfach in jeder Hinsicht zu lösen. Das könnten wir. Das Problem besteht aber darin, daß wir unsere Energien nicht dafür einsetzen, um das zu versuchen, und insbesondere gehen wir nicht an, was ich die Ingenieursaufgabe bezeichnen würde, wie die Probleme zu lösen sind. In der realen Welt lautet die Frage: Wie bringt man eine Idee voran? Wie verändert man die Meinung der Menschen? Wie strukturiert man etwas so um, damit das Problem gelöst wird? Es ist das "Wie", das fehlt. Wenn Sie das Ergebnis der Rio+20-Konferenz [4] gelesen haben - was ein schreckliches Dokument ist, ich glaube, es hatte 283 Paragrafen -, so enthielt es nichts darüber, wie wir tatsächlich irgend etwas tun können.

SB: Glauben Sie, daß die Probleme innerhalb der jetzigen Gesellschaft gelöst werden können?

ML: Ich habe 1972 bei der OECD [5] angefangen, mich mit solchen Fragen zu befassen. Damals hatte man voller Überzeugung sagen können: Ja, wenn wir ernsthaft daran arbeiten, können wir die Probleme lösen. In jener Zeit waren sie vergleichsweise bewältigbar. Die Probleme von heute fangen an, sich unserer Fähigkeit, sie noch in den Griff zu bekommen, zu entziehen. Wir stehen am Rande des Abgrunds. In meinen Augen könnten wir sicherlich die Probleme lösen, doch erforderte das ein Ausmaß an Intelligenz, Engagement und Einsatz von vielen Leuten, einschließlich der Regierungen, von dem nicht das geringste zu erkennen ist.

Wenn Sie sich nochmal Rio+20 anschauen. Da stoßen Sie auf eine Masse an klugen, engagierten Leuten aus Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen. Alle arbeiten daran und haben sich verpflichtet, die Probleme zu lösen. Wenn Sie aber den Regierungen zuhören, fragen Sie sich: Worüber reden diese Leute eigentlich? Auf dem zwischenstaatlichen Niveau herrscht nicht jene Dringlichkeit vor, die Probleme zu lösen, und ohne sie wird es für andere Leute sehr schwierig, das zu tun.

SB: Herr Lees, herzlichen Dank für das Gespräch.

ML: Gern geschehen.


Fußnoten:

[1] Der Club of Rome stellte 1972 die Studie "Die Grenzen des Wachstums" vor und erlangte damit weltweit große Beachtung.

[2] Näheres zu Martin Lees' Vortrag unter UMWELT, REPORT:
BERICHT/031: Down to Earth - Rechnung ohne Wirt (SB)

[3] Wörtlich: Zu groß, um zu scheitern. Ein Argument, mit dem die Regierungen Hunderte von Milliarden Dollar bzw. Euro an Steuergeldern zur "Rettung" von Banken ausgegeben haben. Die von der deutschen Regierung verwendete Begründung hierfür lautete, die Banken seien "systemrelevant".

[4] Mit Rio+20 wird die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (UNCSD - United Nations Conference on Sustainable Development), die vom 20. bis 22. Juni in Rio de Janeiro stattfand, bezeichnet.

[5] OECD - Organisation for Economic Cooperation and Development (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Zusammenschluß von 34 Ländern mit zumeist hohem Pro-Kopf-Einkommen, die die Marktwirtschaft und Demokratie fördern wollen.

2. Oktober 2012