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INTERVIEW/040: Arktis warm, Europa kalt - Dicke Luft und Schmelze satt (SB)


Pressekonferenz des KlimaCampus Hamburg:
"Negativ-Rekord in der Arktis - was bedeutet das Meereis-Minimum für unser Klima?"

Dr. Dirk Notz - "Welche Ursachen hat der Eisverlust und warum ist er erdgeschichtlich einmalig?"


Wenige, vereinzelte Eisschollen schwimmen in diesem Teil des Meeres - Foto: © National Snow and Ice Data Center (NSIDC) (mit Würdigung des Autors Patrick Kelley, U.S. Coast Guard)

Das Nordpolarmeer hat mehr als 30 Prozent seiner Eisdecke in den letzten dreißig Jahren eingebüßt.
Foto: © National Snow and Ice Data Center (NSIDC) (mit Würdigung des Autors Patrick Kelley, U.S. Coast Guard)

Unbestechliche Satellitenbilder der NASA und aktuelle, regionale Daten hatten Anfang September sowohl das Nationale Schnee- und Eisdatenzentrum (Natiaonal Snow and Ice Data Center - NSIDC) als auch führende deutsche Meeres- und Klimaforscher dazu veranlaßt, unabhängig voneinander eine in 34-jähriger Satellitenbeobachtung einmalige Entwicklung zu melden: Das arktische Packeis - ein erstrangiger Indikator des Klimawandels - war mit nur noch 3,52 Millionen Quadratkilometer Fläche in den Wochen und Tagen davor in einem Ausmaß geschmolzen, das nur wenige für möglich gehalten hätten, obwohl sich ein zunehmender Verlust in den letzten fünf Sommern bereits abgezeichnet hatte. Einer von ihnen, der Meteorologe Dr. Dirk Notz des Hamburger Max-Planck-Instituts sieht in dem neuen Rekord eine Bestätigung für die eigenen Simulationsmodelle wie auch allgemein für die Verläßlichkeit der Mathematik, mit deren Hilfe und entsprechender Formeln seine Forschungsgruppe "Meereis im Erdsystem" die Komplexität der Erdsystemeinflüsse auf das Meereis und umgekehrt so genau wie möglich auf den Punkt zu bringen sucht. Auf der Pressekonferenz des Netzwerks KlimaCampus der Universität Hamburg am 19. September 2012 [1, 2] sprach er zum Thema: "Welche Ursachen hat der Eisverlust - und warum ist er erdgeschichtlich einmalig?"

Blicken Klimaforscher in Eisbohrkerne und damit 50.000 Jahre in die Vergangenheit, scheint das Klima der Erde in den letzten 10.000 Jahren sogar ungewöhnlich stabil gewesen zu sein. Die gesamte zivilisatorische Entwicklung und heutige Infrastruktur sei an dieses Klima angepaßt worden. Angesichts solch erheblicher Änderungen im Klimasystem der Erde, wie sie der derzeitige Verlust an Eisfläche rund um den Nordpol anzeigt, würde sich laut Dr. Notz die Frage aufdrängen, ob wir möglicherweise schon an der Schwelle zu einem neuen Klimazustand stehen, der sich von den letzten 10.000 Jahren fundamental unterscheidet. Während nämlich vergleichbar gewaltige Meereisverluste in der Erdgeschichte zum Beispiel vor 5.000 Jahren auf eine verstärkte Sonneneinstrahlung zurückgingen oder noch in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts mit natürlichen Schwankungen zu erklären waren, ist die Wirkung der Sonneneinstrahlung in den letzten Jahrzehnten sogar rückläufig und auch andere mögliche, zufällige Einflüsse reichen nicht aus, um die Gesamtentwicklung zu erklären. Allein der beständig steigende Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre kann mit den Geschehnissen in Korrelation [3] gebracht werden. Und hier ist noch kein Ende abzusehen.

Der Schattenblick nahm die Gelegenheit wahr, den Wissenschaftler im Anschluß an die Pressekonferenz zu diesem Themenkreis noch eingehender zu befragen.

Dr. Notz auf der Pressekonferenz des KlimaCampus Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Dirk Notz
'Wir stehen möglicherweise an der Schwelle zu einem neuen Klimazustand, der sich von den letzten 10.000 Jahren fundamental unterscheidet'.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Herr Dr. Notz, Sie untersuchen in Ihrer Forschungsgruppe "Meereis im Erdsystem" die interne Struktur von Meereis. Was ist damit gemeint und warum halten Sie es für wichtig, genaueres darüber zu wissen?

Dr. Dirk Notz (DN): Meereis müssen Sie sich wie eine Art Schwamm vorstellen. Dieser Schwamm besteht nur zum Teil aus gefrorenem, reinen Wasser und zu einem anderen Teil aus bereits flüssiger Salzlake. In dieser Salzlake leben dann Algen und andere Mikroorganismen. Wenn wir jetzt einen bestimmten Bereich des Meereises betrachten, der schmelzen soll, dann muß nur noch der feste, gefrorene Anteil überhaupt schmelzen. Im Augenblick haben wir noch relativ wenig Wissen darüber, wieviel Meereis fest und wieviel flüssige Salzlake ist. Daher ist es für unsere Forschungsgruppe wichtig, mehr darüber herauszufinden, wie viel wirkliches Eis eigentlich dort oben ist.

SB: Sie und Ihr Kollege Jochen Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meterologie schrieben kürzlich in den "Geophysical Research Letters", daß weder die interne Variabilität noch ein sich selbst beschleunigender Prozeß den Rückgang des sommerlichen Meereises der letzten Jahre erklären könne, sondern daß Faktoren von außen dafür verantwortlich zu machen sind. Wie kommen Sie an dieser Stelle Ihrer Argumentation direkt auf den CO2-Gehalt der Atmosphäre als einzig mögliche Korrelation? [3] Setzen Sie diesen Faktor gewissermaßen mit der Erderwärmung gleich? Wäre nicht bereits der Temperaturverlauf ein ausreichender Faktor, der das Abtauen des Meereises erklärt?

DN: Ja, das wäre der deutlich direktere Weg. Wenn wir das machen, sehen wir auch da eine sehr klare Korrelation. Allerdings wird die Temperatur auf der Erde wiederum immer durch verschiedene Faktoren bestimmt. Wir versuchen noch einen Schritt hinter den Einfluß der Temperatur zurückzugehen und zu fragen, wer dafür verantwortlich ist, daß sich die Temperatur verändert hat. Das wäre dann der Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre, der sich indirekt auf die Temperatur auswirkt.

SB: Sie hatten in der heutigen Pressekonferenz verschiedene, für die Erderwärmung der letzten Jahrzehnte in Frage kommende Faktoren, wie eine zunehmende Sonneneinstrahlung oder den Faktor Zufall ausgeschlossen. Gibt es keine weiteren Fremdeinflüsse außer CO2?

DN: Ich bin vorhin nur beispielhaft auf diese drei Faktoren Sonne, Zufall und CO2 eingegangen. Unsere Gruppe hat in ihrem Paper natürlich noch eine Reihe weiterer Faktoren untersucht, zum Beispiel die Änderungen im Wärmeeintrag aus den Ozeanen. Da sehen wir bei unseren Meßdaten bisher aber keine. Wir haben auch die kosmische Strahlung teilweise angemerkt. Sie könnte eine Rolle spielen. Aber auch da sehen wir in den letzten Jahrzehnten keine klare Tendenz. Wir haben untersucht, ob es irgendwie Vulkanausbrüche gegeben hat. Auch da war in den letzten Jahrzehnten nichts, was diese Veränderung erklären könnte. Also im Prinzip haben wir alle uns bekannten Faktoren, die zu einer Klimaveränderung führen könnten, der Reihe nach untersucht, und sehen nur beim CO2 diesen sehr klaren Zusammenhang mit dem Abschmelzen des Meereises.

SB: Wäre es denkbar, daß Schwankungen in der Erdachse oder sogenannte Erdachsen-Verschiebungen [4], bei denen sich zum Beispiel der Nordpol stärker zur Sonne hin ausrichtet, möglicherweise eine weitere Rolle spielen könnten? Oder läßt sich auch das ausschließen?

DN: Genau das ist die anerkannte Ursache dafür, daß wir vor 5.000 bis 8.000 Jahren einen vergleichbar hohen Schwund an Eis in der Arktis hatten. Möglicherweise war dieser sogar noch größer als der, den wir heute haben. Aber seit dieser Zeit ist der Einfluß der Sonneneinstrahlung in der Arktis kontinuierlich zurückgegangen. Auch das hängt mit den Schwankungen der Erdachse zusammen. Genau genommen sehen wir daher in den Modellsimulationen eigentlich eine leichte Zunahme der Meereisausdehnung, weil die Erdachse sich im Moment so verändert, daß wir weniger Sonneneinstrahlung haben. Und das ist bezeichnend für den Einfluß der Sonne in den letzten 30 Jahren.

SB: Forscher sprechen von sogenannten Kipp-Punkten oder auch "tipping points" der Klimaentwicklung. Was ist damit genau gemeint?

DN: Es gibt verschiedene Definitionen für diesen Kipp-Punkt. Was ich persönlich unter einem Kipp-Punkt verstehe, ist eine Komponente im Klimasystem, die sich so stark verändert, daß sie anschließend nicht mehr reversibel ist. Das heißt sie wäre dann nicht wieder in ihren Ursprungszustand zurückzuführen, selbst wenn man die äußeren Voraussetzungen dafür schafft, also den CO2-Gehalt der Atmosphäre wieder runterfahren könnte. Man muß sich das in etwa wie bei einem Buch vorstellen, das ausbalanciert auf seiner Unterkante steht. Wenn man das anstößt, kippt es bei einer gewissen Stoßstärke um. Wenn ich aber mit der gleichen Kraft gegen das umgekippte Buch stoße, dann stellt es sich nicht einfach wieder hin.

Graphik: © National Snow and Ice Data Center (NSIDC) (mit Würdigung der Autoren M. Tschudi and J. Maslanik, University of Colorado Boulder)

Zwei graphische Darstellungen vergleichen das letzte Meereis-Minimum 2007 mit den Ausmaßen des Meereises im September 2012 (oben rechts).
Die Graphik unten zeigt, daß das mindestens fünfjährige Eis die stärksten Verluste zu verzeichnen hat. Die heutige Meereisbedeckung besteht im wesentlichen aus jungem einjährigem Eis (violet), das im Sommer leichter schmilzt und sich bei kälteren Temperaturen wieder neu aufbaut.
Graphik: © National Snow and Ice Data Center (NSIDC) (mit Würdigung der Autoren M. Tschudi and J. Maslanik, University of Colorado Boulder)

SB: Befürchten Sie das gegenwärtig schon für das Meereis?

DN: Unsere Studien deuten darauf hin, daß das Meereis in gewissem Sinne stabiler ist, als es möglicherweise im Moment den Anschein hat. Das heißt, wenn wir den Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre wieder absenken könnten, würde sich das Meereis auch sehr schnell wieder regenerieren. Das hängt damit zusammen, daß in den Gebieten des Nordpolarmeeres, die inzwischen eisfrei geworden sind, verhältnismäßig mehr Wärme aus dem Wasser an die Atmosphäre abgeben werden kann, was dazu führt, daß sich dort im Winter sehr schnell wieder neues Eis bildet.

SB: Gibt es noch weitere Beispiele aus der Erdgeschichte oder auch konkrete Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, in denen sich das Klima so rasant entwickelt hat?

DN: Wenn wir uns Eiskerne in Grönland ansehen und daraus die Temperaturentwicklung ableiten, stellen wir fest, daß sich das Klima in den letzten 50.000 Jahren immer wieder in Zeitspannen von etwa zehn oder fünfzehn Jahren total verändert hat. So hat es beispielsweise Temperaturanstiege, aber auch -einbrüche von etwa zehn Grad gegeben. Wir gehen im Moment davon aus, daß diese Umbrüche auf Änderungen in der Ozeanzirkulation zurückgehen, wenn beispielsweise größere Eismassen in den Ozean gelangt sind. Diese sehr schnellen Klimaschwankungen bilden sich im Eiskern ab, so daß wir sie erkennen können.

Modernes Camp von Inuit-Jägern auf dem Meereis - Foto: © 1995 by Ansgar Walk (mit CC-Lizenz über Wikimedia Commons zur Veröffentlichung freigegeben)

Selbst das ist bald nur noch Vergangenheit
Foto: © 1995 by Ansgar Walk (mit CC-Lizenz über Wikimedia Commons zur Veröffentlichung freigegeben)

SB: Wenn Grönland im Verlauf dieser Schwankungen immer mehr zu "Grünland" wird, inwiefern könnte sich das auch auf das Klima in Europa auswirken? Gibt es dazu bereits Berechnungen oder Überlegungen, wie sich das im einzelnen zum Beispiel auf die Wetterverhältnisse in Europa auswirken könnte?

DN: Wir verwenden diese Schwankungen der grönländischen Temperatur häufig in unseren Darstellungen, weil es sich dabei um sehr zuverlässige Messungen handelt. Wir finden genau die gleichen Schwankungen aber auch in den Bohrkernen, die wir beispielsweise dem Meeresboden europäischer Gewässer entnehmen. Auch dort können wir aus den Sedimentschichten mit recht hoher Wahrscheinlichkeit ableiten, wie warm das Wasser gewesen sein muß. Und diese Daten können wir vergleichen und sehen dann, daß in den Zeiträumen, in denen die Temperaturen in Grönland geschwankt haben, auch entsprechende Schwankungen in ähnlichem Maß in Europa stattgefunden haben müssen.

SB: Wird unter Meteorologen und Klimawissenschaftlern eigentlich auch die Möglichkeit erörtert, daß sich die verschiedenen klimatischen Kipp-Punkte, die an brisanten klimatischen Ereignissen in unterschiedlichen Regionen der Erde festgemacht werden [5] sich gegenseitig verstärken oder in ihrer Dynamik gegenseitig beschleunigen könnten?

DN: Ja diese Überlegungen gibt es durchaus. Im Moment ist unser eigenes Verständnis über die einzelnen Kipp-Punkte noch so rudimentär, daß es kaum Studien gibt, die mutig genug sind, sozusagen über ihren eigenen Tellerrand hinaus zu extrapolieren, welche Auswirkungen dieser Kipp-Punkt auf andere Kipp-Punkte haben könnte.

SB: Wenn man die realen Kurven betrachtet, die Sie und Ihre Kollegen heute gezeigt haben, und die aufgrund der verwendeten Ausgangsdaten im Abgleich durchaus plausibel erscheinen, dann bekommt man den Eindruck, als würde der Meereisverlust geradezu exponentiell zunehmen. Sind Sie als Forscher durch diesen exponentiellen, also besonders drastischen Verlauf beunruhigt?

DN: Ehrlich gesagt, beunruhigt mich der Verlauf aus wissenschaftlicher Sicht weniger, weil wir genau die gleiche Entwicklung auch in unseren Klimamodellen sehen. Es würde mich sehr viel stärker beunruhigen, wenn wir etwas in der Wirklichkeit sehen, das sich in unseren Modellen nicht nachbilden läßt. Aber da unsere Klimasimulationsmodelle offenbar genauso reagieren, daß es zunächst diese langsame, fast lineare Abnahme gibt und dann plötzlich so ein Abkippen, scheint das Phänomen wissenschaftlich grundsätzlich so gut verstanden zu sein, daß wir da keine allzu großen Überraschungen mehr erwarten müssen.

Ein ganz anderes Thema ist aber die persönliche Beunruhigung. Wenn man als Wissenschaftler dort oben vor Ort ist und mit den Menschen spricht, wenn man sich vorstellt, wie diese Menschen in den nächsten Jahren gezwungen sein werden, ihre Lebensweise fundamental zu ändern, wenn dort alle ihre Hundeschlitten-Gespanne abschaffen müssen, weil sie nicht mehr gebraucht werden, dann bekommt man tatsächlich ein Gefühl für die konkrete Bedrohung.

Dr. Dirk Notz - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Wenn man vor Ort mit den Menschen spricht, bekommt man ein Gefühl für die konkrete Bedrohung'.
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Trifft es zu, daß die Menschen in den nördlichen Regionen um den Polarkreis, die ja alle sehr vertraut mit dem Wetter sind, die Grundlagen ihrer eigenen Bewertungkriterien verlieren? Haben Sie auch festgestellt, daß bestimmte Anzeichen, die beispielsweise den Inuit vertraut sind, nicht mehr eintreten oder nicht mehr die Folgen nach sich ziehen, mit denen sie früher rechnen konnten?

DN: Das ist grundsätzlich richtig. Ich hatte, wenn ich mit Menschen in Grönland gesprochen habe, aber auch den starken Eindruck, daß dort eine sehr schicksalsergebene Einstellung vorherrscht: Das ist einfach so. Wir passen uns entsprechend an. Und wenn das Meereis im Winter halt nicht mehr kommt, dann schaffen wir unsere Hundeschlittengespanne ab und gehen Fische fangen. Daß wir dabei Fische fangen, für die wir keine Namen haben, weil das Wasser wärmer geworden ist, und plötzlich ganz andere Fische kommen, das ist einfach so. Das heißt, man paßt sich einfach ganz konkret und direkt an die Veränderungen an, und momentan ändert sich dort sehr viel.

Die traditionelle Lebensweise der Inuit dort oben ist zur Zeit vollkommen im Umbruch. So können sie beispielsweise ihr Fleisch nicht mehr einfach zum Trocknen draußen in die Luft hängen, weil es durch die wärmeren Sommer hier inzwischen auch Insekten und Parasiten gibt, die ihre Eier in das rohe Fleisch legen, so daß es verdirbt. Früher war es so kalt, daß Insekten hier nicht überleben konnten.

SB: Wie wird der Klimawandel von den Menschen dort wahrgenommen? Sehen Sie in den Veränderungen auch ein grundsätzliches Problem, wird dies als Bedrohung wahrgenommen?

DN: Die Mehrheit der traditionell lebenden Bevölkerung in Grönland nimmt die klimatischen Veränderungen offenbar einfach hin, ohne sie genauer zu hinterfragen. Bei den Menschen in den Städten stehen möglicherweise sogar eher die Vorteile des Klimawandels im Vordergrund. Sie erkennen hier insbesondere die Möglichkeiten, die in der Ölausbeutung der Vorkommen vor der grönländischen Küste liegen könnten. Von daher herrscht momentan in Grönland die Hoffnung vor, der aus diesen Ölquellen sprudelnde Reichtum könne auch bis nach Grönland gelangen, so daß dort dann zum einen der Luxus ausbrechen wird. Zum anderen hofft man, endlich selbst genug Geld zu haben, um sich von Dänemark unabhängig zu erklären. Darum ist auch Greenpeace in Grönland nicht sehr beliebt. Sie werden hier als diejenigen wahrgenommen, die den Grönländern den Reichtum wegnehmen wollen. Das birgt noch einiges an Spannungspotential.

SB: Sie sind hauptsächlich mit der mathematischen Verarbeitung und der Entwicklung von Klimasimulationsmodellen beschäftigt, haben aber auch die sozialen Auswirkungen des Klimawandels in Grönland gesehen. Wenn Sie mit Ihrem wissenschaftlichen Hintergrund und Ihren Erkenntnissen in der Regierung säßen und die zukünftige Klimapolitik bestimmen könnten, was würden Sie anders machen?

DN: Ich würde versuchen, vor allem der deutschen Bevölkerung bewußt zu machen, daß momentan die ganze Welt sehr gespannt auf Deutschland blickt, inwiefern wir die angekündigte Energiewende auch schaffen. Meist wird darüber geklagt, wie teuer und schwierig das alles ist. Wenn wir aber in Deutschland der Welt beweisen könnten, daß es durchaus möglich ist, einen geringeren Ressourcenverbrauch zu erreichen, ohne auf wirtschaftliches Wachstum zu verzichten, dann könnten wir damit ein wirklich starkes Signal aussenden. Ich glaube, daß es für uns als Deutschland sehr schön wäre, wenn wir dieser Vorbildrolle auch gerecht werden könnten.

SB: Würden Sie also sagen, daß der oft zitierte "Point of no Return", also der Punkt, an dem sich nichts mehr ändern läßt, noch nicht erreicht ist? Sehen Sie noch eine Chance zur Umkehr?

DN: Es gibt dafür eine wissenschaftliche Antwort und es gibt eine realistische Antwort. Unsere wissenschaftlichen Simulationen zeigen, daß es grundsätzlich möglich ist, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu halten. Das wäre dann gleichbedeutend damit, daß das Meereis in der Arktis dann unseren Berechnungen zufolge auch im Sommer erhalten bleibt. Dafür wären aber weltweit sehr große Anstrengungen notwendig. Das heißt, es ist wissenschaftlich möglich, das Zwei-Grad-Ziel zu halten. Wenn man sich den Verlauf der Klimaverhandlungen der letzten Jahre allerdings anschaut, dann müßte sich hier realistisch wirklich sehr viel mehr bewegen, als das in den letzten Jahren der Fall gewesen ist. Und das läßt sich momentan nicht absehen.

SB: Die Chance wäre also sozusagen schon verpaßt?

DN: Chance verpaßt - das würde ich aus wissenschaftlicher Sicht nach wie vor nicht sagen. Es gibt diese Chance immer noch. Man müßte sie nur sehr viel konkreter verfolgen.

SB: Vielen Dank Herr Dr. Notz.

Dr. Notz auf der Pressekonferenz des KlimaCampus Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Es gibt eine wissenschaftliche und eine realistische Antwort. Grundsätzlich gibt es noch die Möglichkeit, das Zwei-Grad-Ziel zu halten.'
Foto: © 2012 by Schattenblick

Anmerkungen:
[1] Näheres zur Pressekonferenz finden Sie unter UMWELT → REPORT
BERICHT/028: Arktis warm, Europa kalt - Eisschmelze im polaren Norden (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0028.html

[2] Die Referenten und ihre Vortragsthemen:

Einführung: Was geht das Arktiseis Europa an?
Prof. Peter Lemke, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven
siehe auch: http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0033.html

Das arktische Meereis im Jahresgang, aktuelle Zahlen
Dr. Georg Heygster, Universität Bremen

Welche Anomalien zeigt das Meereis 2012?
Dr. Lars Kaleschke, Universität Hamburg, KlimaCampus
siehe auch: http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0036.html

Welche Ursachen hat der Eisverlust - und warum ist er erdgeschichtlich bedeutsam?
Dr. Dirk Notz, Max-Planck-Institut für Meteorologie, KlimaCampus

Folgen: Beeinflußt das Meereis das Wetter in Europa?
Prof. Rüdiger Gerdes, Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven
siehe auch: http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0034.html

Was hat das mit dem Meeresspiegel zu tun?
Prof. Anders Levermann, Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
siehe auch: http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0035.html

Schifffahrt und operationelle Eisdienste
Dr. Jürgen Holfort, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie

[3] Korrelation, ein Begriff, den Wissenschaftler, die mit Simulationsmodellen und Grafiken arbeiten, immer wieder gerne benutzen, um zwischen verschiedenen Merkmalen, Ereignissen oder Zuständen künstlich eine Beziehung herzustellen, die nicht unbedingt kausal (ursächlich) begründet sein muß.

[4] Gegenüber einem mit der Erde verbundenen Koordinatensystem, in dem Nord- und Südpol unveränderliche Koordinaten haben, vollzieht die wahre Erdachse ebenfalls periodische Bewegungen. Sie sind aber relativ klein, werden Polbewegungen genannt und von internationalen Diensten überwacht. Sie werden vor allem durch Massenverlagerungen im Inneren der Erde, in den Ozeanen und in der Atmosphäre verursacht und betragen bis zu 0,25 Bogensekunden, was auf der Erdoberfläche etwa 9 Metern entspricht. Spontane Verlagerungen mit Amplituden von einigen Zentimetern wurden beispielsweise durch ein Seebeben ausgelöst, das am 26. Dezember 2004 im Indischen Ozean vor der indonesischen Insel Sumatra stattfand. Auch das Erdbeben in Chile 2010 soll möglicherweise eine Verschiebung der Erdachse um ca. 8 Zentimeter zur Folge gehabt haben, das Tohoku-Erdbeben von 2011 vermutlich sogar um 10 cm.

[5] Momentan werden von Klimawissenschaftlern die folgenden 16 Kipp-Punkte diskutiert:

01 Schmelzen des arktischen Meereises
02 Schmelzen des grönländischen Eisschilds
03 Zusammenbruch des westantarktischen Eisschilds
04 Methanfreisetzung durch tauende Permafrostgebiete, den Meeresboden und aus Kontinentalschelfen
05 Abtauen des tibetischen Hochlands
06 Unterdrückung der atlantischen Tiefenwasserbildung
07 Unterdrückung der antarktischen Tiefenwasserbildung
08 Schwächung der marinen Kohlenstoffpumpe
09 Änderungen von El Nino
10 Antarktisches Ozonloch
11 Ozonloch über dem Nordpol
12 Störung des indischen Monsuns
13 Störung des westafrikanischen Monsuns
14 Rückgang der borealen Wälder
15 Austrocknen des amazonischen Regenwalds
16 Ergrünung der Sahara und Versiegen der Staubquellen

Das Hauptgebäude der Universität Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schauplatz einer erdgeschichtlich einmaligen Enthüllung: Der diesjährige Meereisverlust soll ausschließlich auf den CO2-Gehalt der Atmosphäre zurückgehen.
Foto: © 2012 by Schattenblick

5. Oktober 2012