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INTERVIEW/066: Fukushima - Schock und Gegenwehr, Sabu Kohso im Gespräch, Teil 2 (SB)


Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima. Was bedeutet Fukushima 3/11?

Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung am 22. November 2013

Gespräch mit Sabu Kohso und Marina Sitrin, Teil 2



Dies ist der zweite Teil eines Gesprächs, das der Schattenblick mit Sabu Kohso und Marina Sitrin vor einer abendlichen Veranstaltung des Bildungswerks Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema "Energie, Macht und soziale Kämpfe in Japan nach Fukushima" geführt hat [1]. Hier äußert sich der in Japan geborene und in New York lebende Sabu Kohso unter anderem zu der Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees, die Olympischen Spiele 2020 ausgerechnet in Tokio veranstalten zu lassen, sowie der Instrumentalisierung der 3/11-Krise - schweres Erdbeben und ein verheerender Tsunami am 3. März 2011 sowie anschließend eine dreifache Kernschmelze im Akw Fukushima Daiichi - durch die japanische Regierung zum Zweck, die in Frage gestellte staatliche Ordnung auf Kosten der Gesundheit und des Lebens der Menschen zu bewahren. Der "antikapitalistische und anarchistische Aktivist" lehnt Japan als Nationalstaat ab und spricht statt dessen von einem Archipel, das zu Asien gehört. Marina Sitrin wiederum, die an der Entstehung der Occupy-Bewegung in den USA und der Besetzung des Zuccotti Parks in New York beteiligt war, bringt im Laufe des Gesprächs immer wieder die übergreifende, globale Perspektive ein.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Sabu Kohso
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Worin besteht der Unterschied zwischen dem Umgang der japanischen Regierung mit der Fukushima-Katastrophe und dem Umgang der deutschen oder europäischen Regierungen mit dem Tschernobyl-GAU?

Sabu Kohso (SK): Die deutsche Regierung hat beschlossen, Atomkraftwerke abzuschalten, was eine wichtige Sache ist, und die Menschen in Italien haben gegen Atomenergie gestimmt. Mit Japan verhält es sich anders, was viele Gründe hat. Zum einen steht das Nachkriegsjapan zuallererst vollkommen unter der Kuratel des amerikanischen Kapitalismus und seines Militärs. Zwar ist die sogenannte Friedensverfassung eine großartige Sache - Japan kann kein fremdes Land angreifen -, aber auf dem Archipel wurden US-Militärbasen errichtet.

Zweitens unterliegt Japan in industrieller Hinsicht einer Art historischer Wiederholung. In Japan treten regelmäßig gewaltige Erdbeben auf. 1923 wurde Tokio von einem enormen Beben erschüttert und weitgehend zerstört. Damit besaß die Regierung ein neues, riesiges Projekt: Tokio sollte physisch wieder aufgebaut werden. Politisch war das der Moment, in dem versucht wurde, die gesamte revolutionäre Bewegung und auch Minderheiten wie die Einwohner koreanischer Herkunft zu eliminieren. Viele Anarchisten, Sozialisten und Aktivisten der Arbeiterbewegung wurden nach dem Erdbeben ermordet. Zu der Zeit begann Japan, sich in Richtung Eroberung Asiens zu entwickeln und ein militaristisches Regime aufzubauen. Zusammen mit dem urbanen Wiederaufbau fand also eine politische Reform statt.

Das nächste einschneidende Ereignis war der Zweite Weltkrieg mit den schweren Bombenangriffen auf Tokio und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Anschließend wurde Tokio wieder aufgebaut und entwickelte sich zu einer der größten Metropolen der Welt. Für mich ist Tokio eine Katastrophenmetropole, weil sie sich von Katastrophen nährt.

Jetzt steht ein weiteres Großereignis bevor, die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Das halte ich für eine völlig verrückte Idee, denn im Nordosten und im Westen der Stadt gibt es sogenannte Hot Spots, in denen die Radioaktivität sehr hoch ist. Premierminister Shinzo Abe hat von Beginn der Fukushima-Katastrophe an mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten; jeder weiß das, von ihm war nichts anderes zu erwarten. Aber was uns wirklich einen Schock versetzt hat, war die Wahl Tokios durch das Internationale Olympische Komitee. Wir interpretieren das so, daß die internationale Gemeinschaft ihr Einverständnis dazu gibt, daß die Bevölkerung weltweit künftig in höherem Maße radioaktiver Strahlung ausgesetzt wird.

Bereits jetzt werden in Tokio riesige Bauvorhaben in Angriff genommen, beispielsweise wird ein neues Olympiastadion gebaut. Das ist wirklich inhuman. Die berühmte und "hippe" Architektin Zaha Hadid hat die Ausschreibung gewonnen. Das alte Olympiastadion im Stadtteil Yoyogi wird ersetzt. Ich habe einige Genossen in der Obdachlosenbewegung im Yoyogi-, Meiji- und weiteren Parks. Den Obdachlosen im Meiji-Park wurde gesagt, daß sie schon im Dezember wegziehen müssen. Inzwischen wurde schon eine Anti-Olympia-Koalition gegründet.

Der entscheidende Punkt ist, daß all diese Entwicklungen in Japan miteinander verbunden sind. Wir können nicht mehr einfach nur gegen Atomstrom sein, denn alles ist mit der Ausbreitung von Strahlung verbunden in diesem postnuklearkatastrophischen, ordnungspolitischen Klima.

SB: Wie sieht die Stromversorgung in Japan aus? Wenn man ein Projekt wie die Olympischen Spiele in Angriff nimmt, braucht man sehr viel Energie. Sollte man da nicht eigentlich annehmen, daß der Energieverbrauch vernünftigerweise gesenkt statt gesteigert wird?

SK: Gegenwärtig ist in Japan kein Atomkraftwerk in Betrieb, alle sind wegen der Sicherheitstests vom Netz. Mitte September wurde das letzte abgeschaltet. Als das Atomkraftwerk in Oi im Juni 2012, also ein Jahr und drei Monate nach der Fukushima-Katastrophe, wieder hochgefahren wurde, löste das riesige Proteste aus. Bis zu dem Zeitpunkt und danach wurde keine Atomenergie produziert, was wirklich kein Problem darstellt.

Die Atomkraftbefürworter behaupten, der Strom wird gebraucht, deshalb müsse man die Atomkraft behalten. Aber mehr als um die Atomenergie scheint es um das gebundene Kapital, um die enormen Investitionen der Elektrizitätsunternehmen, der Regierung und riesiger Konzerne wie Hitachi, Toshiba, Mitsubishi, all diese Produzenten der Nuklearindustrie, zu gehen. Für die Unternehmen wäre es das Aus ihrer Geschäfte, wenn sie das konstante Kapital nicht nutzen könnten. Es geht also eher um die Frage, was man macht, wenn ein Teil des riesigen Apparats brachliegt.

Ich habe im Fernsehen ein Interview mit einem Vertreter von KEPCO, der Kanzai Electric Power Company, geführt. Er hat zugegeben, daß sie Atomkraftwerke nicht deswegen wieder starten wollen, weil die Energie knapp ist, sondern weil sie sonst Bankrott machen würden. Dann sagte er: Wenn wir pleite gehen, folgt uns ein großer Teil der Industrie in den Bankrott, weil die Elektrizitätsunternehmen so mächtig sind, daß sie beispielsweise dreißig Prozent der Medien besitzen. Und auch riesige Unternehmen wie Toshiba, Mitsubishi und Hitachi sehen sich gezwungen, weiter Nukleartechnologie zu verkaufen - an Vietnam und an andere Länder.

Das ist wirklich abstoßend. Es geht gar nicht um die Behebung eines Energiemangels, es ist auch keine Rede von Sicherheit oder Gesundheit, sondern sie müssen schlicht ihre Maschine weiterlaufen lassen! Und die Regierung ist Teil dieser Maschine. Ich habe den Eindruck, daß es in ihr kein normal denkendes Subjekt mehr gibt, das so denkt wie wir, eher handelt es sich um einen Automatismus. Und den müssen wir irgendwie brechen, das ist mein Gefühl. Es geht nicht um Vernunft, denn sie hört gar nicht zu. Für die Katastrophe mit den zerstörten Reaktoren gibt es keine Lösung, sie ist außer Kontrolle.

SB: Ich möchte noch einmal auf die Olympischen Spiele zurückkommen. Wie steht die Bevölkerung im allgemeinen dazu? Unterstützt sie die Regierung in ihrem Vorhaben?

SK: Im Fernsehen treten eine Menge Leute auf, die anscheinend begeistert davon sind. Aber das glaube ich nicht, ich halte das für ein inszeniertes Medientheater. Vielleicht gibt es ja einige Menschen, die das großartig finden, aber die meisten, die ich kenne, sind fassungslos, nicht nur Japaner. Viele meiner Freunde sind der Meinung, daß Ausländer ihrer Gesundheit zuliebe nicht nach Japan kommen sollten. Osaka im Süden ist noch in Ordnung, dort ist es im Moment vielleicht noch ein bißchen sicherer, und auch der Westen Japans, aber nicht Tokio.

SB: Ist der Wiederaufbau nach dem Tsunami abgeschlossen oder gibt es noch Gegenden, in denen das nicht der Fall ist? Sollte das für die Olympischen Spiele benötigte Geld in dem Fall nicht besser in den Wiederaufbau investiert werden?

SK: Die Regierung ist im Grunde genommen für den Wiederaufbau. Aber das, was sie darunter versteht, ist kein Wiederaufbau in einem positiven Sinne. Sie sorgt für das Erstarken der Industrie und die Wiedererschließung nach Fukushima, während die Katastrophe weiter fortschreitet, und ignoriert Gesundheit und Sicherheit der Menschen vollkommen. Und dann stimmt die internationale Gemeinschaft dem auch noch zu: USA, Frankreich, Israel, all die Pro-Atomstaaten.

SB: Ist es vorstellbar, daß das Internationale Olympische Komitee Tokio ausgewählt hat, weil sowieso schon auf der ganzen Welt Strahlenpartikel verbreitet sind?

SK: Ja, möglicherweise. vor Fukushima hatte ich überhaupt kein Interesse am Thema Atom. Als Anarchist war ich mehr mit lokaler Organisation und globaler Revolution beschäftigt, doch dann mußte ich mich plötzlich mit der Atomfrage befassen. Dabei habe ich gelernt, daß Fukushima kein Einzelfall ist, kleine "Fukushimas" hat es überall gegeben. Da wäre beispielsweise die Geschichte des Uranbergbaus zu nennen. In Kanada, den USA, Australien und auch Afrika waren und sind Menschen radioaktiver Strahlung ausgesetzt. Darüber hinaus benutzt insbesondere das US-Militär zunehmend Waffen mit abgereichertem Uran, beispielsweise in Afghanistan. An vielen Orten sind die Menschen radioaktiver Strahlung ausgesetzt, Fukushima ist so gesehen kein Einzelfall, und wir sollten eine weltweite Bewegung zur Messung der Radioaktivität ins Leben rufen.

Marina Sitrin (MS): Das halte ich für absolut richtig. Ich denke, die Regierungen weltweit stehen bezüglich Fukushima vereint hinter der japanischen Regierung. Es geht dabei um die Frage der Atomnutzung und Kontamination und alles, was weltweit damit verbunden ist. Ich glaube allerdings, daß die Unterstützung Japans auch damit zusammenhängt, daß in wachsendem Maße globale Bewegungen entstehen und die Menschen sich gegen ihre Regierungen stellen oder zumindest überzeugt davon sind, daß sie nicht ihre Interessen vertreten. Deshalb meine ich, ist es den Regierungen sehr wichtig, eine gemeinsame Front zu bilden. Damit wollen sie deutlich machen: Es darf keine Absage an den Staat geben, insbesondere darf man nicht sagen, daß der Staat nicht die Menschen vertritt. Die japanische Regierung vergiftet die Menschen und läßt sie sogar sterben, indem sie den Schutt aus Fukushima im ganzen Land verteilt. Das ist ein Extremfall, aber er steht in einer Art Kontinuität.

SK: Du hast Recht, die Regierungen wissen, daß die Menschen gegen sie aufbegehren.

MS: Wenn deutlich wird, daß die japanische Regierung nicht die Interessen der Menschen vertritt, könnte eine Bewegung entstehen, aus der heraus es möglich wird zu fragen: Was ist mit Portugal, was mit Spanien? Wie steht es mit Griechenland und all den anderen Ländern, in denen eine Krise herrscht, die Menschen hungern und keine Gesundheitsversorgung haben? Deren Regierungen kontaminieren sie vielleicht nicht radioaktiv, aber es ist Bestandteil einer Kontinuität einer sich verschärfenden Krise, mit Japan als Extrem. Das macht es so wichtig für die Regierungen, sich hinter Japan zu stellen und deshalb ist es auch so wichtig, daß globale Bewegungen die Gemeinsamkeit mit Japan sehen, was aus meiner Sicht unglücklicherweise nicht geschieht. Das ist sehr ärgerlich. Man hört: Ja, Griechenland! Antiausteritätsproteste! Portugal! Spanien! Und Japan ist entweder zu beängstigend oder eine zu hohe Anforderung, oder es kommt das Stereotyp, daß die japanische Bevölkerung keinen Widerstand leistet und es deshalb etwas anderes ist. Ich finde es aber sehr wichtig, daß wir alles, was mit den Regierungen und auch mit der Bevölkerung geschieht, in unserer Analyse miteinander verbinden.

SK: Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt.

SB: Sogar in Brasilien wird gegen die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 wegen des ganzen Geldes, das in die Stadien gesteckt wird, protestiert.

SK: Ja, ich war in Amsterdam und habe dort Favela-Aktivisten aus Rio getroffen, die gegen die Austragung der Olympischen Spiele kämpfen. Man kann auch zu ihnen eine Verbindung herstellen.

Menschentrauben im Park - Foto: David Shankbone, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Zuccotti Park, New York, Versammlungsplatz der Occupy Wall Street, 17. November 2011
Foto: David Shankbone, freigegeben als CC-BY-3.0 Unported via Wikimedia Commons

SB: Vor zwei Jahren war die Occupy-Bewegung in den USA und auch in Europa am Wachsen und Wachsen. Und jetzt - was wurde aus ihr?

MS: Es gibt sie. Die Occupy-Bewegung findet allerdings nicht auf den Plazas oder im Zuccotti Park statt, in den meisten Städten gibt es sie nicht auf den öffentlichen Plätzen. Occupy ist eine Art der Vernetzung, eine bestimmte Art von Politik. Sie hat damit zu tun, daß die Regierung nicht die Interessen der Menschen vertritt, es geht um Selbstorganisation auf horizontale Weise in unterschiedlichen Formen direkter Aktion. All das geht weiter, nur auf andere Art. In den USA gibt es beispielsweise eine wachsende Bewegung für Wohnraum und gegen Zwangsräumung, dann die Organisationsformen während des Hurrikans Sandy vor einem Jahr. An einigen Orten sind es nur wenige Menschen, aber die Art, sich zu organisieren, bleibt erhalten. Wer behauptet, daß Occupy tot ist, erzählt Märchen.

Es ist sehr wichtig, Occupy in den USA als etwas zu sehen, das weltweit mit vielem in Verbindung steht, das davor geschehen ist und das danach weitergeführt wird. Wie die zapatistische Bewegung und andere unterschiedliche Organisationsformen und Ideen in ganz Amerika. In Asien gibt es das Phänomen nicht so sehr, in Osteuropa inzwischen jedoch etwas mehr.

Ein Beispiel ist die Art, wie sich die Menschen in Brasilien gegen die Buspreiserhöhung zusammengetan haben. Diese Organisationsform entstand in den frühen 2000ern, als wir realisierten, daß wir auf die Regierung nicht zählen können, und auf direkte Aktionen zurückgriffen. Das setzt sich mittlerweile weltweit als Organisationsform fort. Wenn man davon spricht, daß eine Bewegung lebt oder tot ist, spiegelt das nur eine Art wider, über soziale Bewegungen zu denken, die auf die Bewegungen der letzten rund fünfzehn Jahre nicht zutrifft. Diese als "soziale Bewegungen" zu bezeichnen, ist vielleicht auch nicht der richtige Ansatz - es ist eine andere Art von Bewegung.

SK: Sogar die japanische Antiatombewegung ist nach Fukushima eine ganz andere als davor. Es stimmt, was Marina gesagt hat, sie empfindet sich selbst als Teil einer globalen Strömung. Vor Fukushima gab es den Arabischen Frühling, viele Menschen waren begeistert und versuchten etwas ähnliches. Dann kam Fukushima dazwischen. Danach war die Situation deprimierend. Schließlich kam Occupy auf, das Phänomen der öffentlichen Plätze in ganz Europa, in Südeuropa, was die Menschen sehr ermutigt hat. Es verschaffte ihnen auf gewisse Weise einen Antrieb.

MS: Ich sehe die Formen, wie sich insbesondere Frauen in Japan organisieren, als Teil desselben globalen Phänomens: Sie schließen sich nicht zusammen, um an die Regierung oder welche Autorität auch immer zu appellieren. Und zwar nicht etwa, weil sie nicht wollen, daß die Regierung etwas übernimmt, sondern meiner Meinung nach weil man überall auf der Welt gleichermaßen überzeugt ist, daß sie nichts unternehmen wird. Also blickt man nicht auf den Staat, weil der Staat sowieso nicht reagieren wird. Die Menschen nehmen es selbst in die Hand und dazu insbesondere in Japan auf eine andere Weise als in der Vergangenheit. Sie folgen keinem hierarchischen Modell. Es geschieht etwas ganz anderes, das dem, wie in Griechenland, Spanien, den USA, Portugal, Brasilien und der Türkei mit Krisen umgegangen wird, ähnelt.

SB: Würdest du sagen, daß das sehr harte, repressive Vorgehen der US-Regierung gegen die Occupy-Bewegung - es gibt hohe Haftstrafen, einige Menschen müssen für viele Jahre ins Gefängnis - ein Indiz für die Stärke der Occupy-Bewegung ist? Daß also die Antwort der Regierung so extrem ausfällt, weil sie die Occupy-Bewegung fürchten muß?

MS: Ja, genau. Sie haben in den USA unterschiedliche Formen der Unterdrückung ausprobiert. Es gibt die Repression auf der Straße mit reiner Gewalt, wo sie Tränengas einsetzen und Menschen verprügeln. Die Städte haben hohe Versicherungspolicen aufgenommen, weil sie wußten, daß man sie später wegen des ganzen Schadens, der den Menschen zugefügt wird, verklagen würde. Sie gehen so vor, weil es besser für sie ist und es sie in sozialer Hinsicht wenig kostet, wenn Menschen Angst haben und organisiert sind. Eine Taktik ist also die Repression auf der Straße und dann setzen sie auch die Gerichte ein. Wobei hier erwähnt werden muß, daß es auf der Straße nicht so schlimm ist, wie es in den USA schon einmal war. Ich glaube, die Repression könnte noch wesentlich heftiger ausfallen.

Die Unterdrückung hat bei den Menschen ein gewisses Ausmaß der Demobilisierung zur Folge, aber zur gleichen Zeit riskieren andere in der Bewegung für Wohnraum und gegen Zwangsräumungen erheblich mehr als das, was ihnen bei einer solchen Strafanzeige passieren kann. Wird jemand angeklagt, weil er auf der Straße demonstriert hat, ist das dann so etwas wie ein Aufstand und ein minderes Vergehen - wobei es bei einer Anklage wegen Aufstandes noch davon abhängt, was genau man getan hat. Im allgemeinen wird es als eine Art ungebührliches Benehmen bewertet. Aktionen auf der Straße sind jedenfalls ein geringfügigeres Vergehen als eine Hausbesetzung, weil die Frage des Besitzes in den USA sehr viel wichtiger genommen wird.

Die Bewegung für Wohnraum in den USA setzt sich aus Menschen zusammen, die nicht einfach nur vorher inaktiv waren, sondern es sind Familien und Nachbarn beteiligt. Als Occupy anfing, haben sich die Menschen in vielen großen und kleinen Städten absichtlich auf den Plätzen versammelt, um an der Bewegung teilzunehmen, und sie hatten keine Erfahrungen damit.

In Bundesstaaten wie Minnesota und Iowa gibt es in fast jeder Stadt, die ich besucht habe, eine Gruppe für Wohnraum: Es sind einfach Nachbarn, die ihr Haus verlieren und keine Alternative haben, die sich mit anderen Nachbarn zusammentun. Es ist eine Art Politik des täglichen Überlebens, aber indem sie mit ihrem Körper Wohnungen blockieren und Zwangsräumungen verhindern, riskieren sie potentiell höhere Strafen als Leute bei Occupy, die einen Platz besetzten.

Ich halte die Repression nicht für effektiv. Es erregt Aufsehen, wenn man hört, daß die Leute möglicherweise ins Gefängnis geworfen werden und es zum Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen gekommen ist. Auf Außenstehende wirkt das ziemlich einschüchternd, nicht aber auf Menschen, denen es ums Überleben oder die Bewahrung ihres Zuhauses geht. Es ist einfach sehr elementar, daß du das Haus deiner Nachbarn verteidigst, damit sie nicht obdachlos werden.

SB: Verhält sich das in Japan ähnlich?

SK: Ja. Marina hat über die Selbstorganisation gesprochen. Das ist eine sehr wichtige Entwicklung in Japan nach Fukushima und ein Lernprozeß. Halb im Scherz gesagt hat "Apokalypse" zwei Bedeutungen: Das Ende der Welt, aber auch Offenbarung, das heißt, die Wahrheit ans Licht bringen. Viele Japaner befinden sich in einem Lernprozeß, es ist eine Enthüllung und es wird offenbar, wer wirklich die Gesellschaft trägt: die reproduktiven Arbeiterinnen. Einfach gesagt, die Frauen zuhause. Deshalb wurden sie nach Fukushima die Radikalsten. Es ist kein politisches Thema, aber sie sind wirklich wütend, weil man ihre Kinder, Nachbarn und Verwandten sterben läßt. Deshalb sind sie auch am ehesten bereit, ihre Lebensweise und Ernährung zu ändern und sogar eine Evakuierung in Kauf zu nehmen.

Es gibt nicht genügend Unterstützung von Seiten der Regierung für Menschen, die fortziehen sollten, insbesondere nicht aus dem Nordosten Japans. Deshalb muß eine wachsende Zahl von Menschen auf sich gestellt an einen sicheren Ort ziehen, Arbeit finden und viele Härten durchstehen. Und so wächst natürlich die Unterstützerbewegung für diese Neuankömmlinge in verschiedenen Landesteilen. Aber von der japanischen Gesellschaft im allgemeinen werden sie hart verurteilt, weil man den Älteren in der Gemeinschaft gehorchen soll, die gewöhnlich der Frau ihres Sohnes nicht beistimmen wollen. Die Frauen sollen zuhause gehorsamer sein, doch statt dessen rufen sie: "Wir müssen ausziehen!" Und sie haben die Ernährung, das tägliche Essen umgestellt.

Es ist ein Stereotyp, aber produktive Arbeiter, die jeden Tag zur Arbeit gehen, sind in der Regel Männer, zumindest in Japan. In Tokio und Osaka, in den großen Städten, arbeiten auch Frauen, aber auf dem Land machen sie in der Regel die Hausarbeit. Nun haben sie angefangen, ihre Stimme zu erheben und laut zu werden. Das halte ich für einen enormen sozialen Wandel. Das müssen wir wirklich anerkennen.

MS: Und es ist radikal. Ich meine, bei langfristig erfolgten Entwicklungen denkt man nicht über Radikalität nach, aber sich gegen all diese jahrtausendealten Strukturen in Japan gleichzeitig zu stellen, ist nun mal sehr radikal. In anderen Teilen der Welt ist die zu überbrückende Zeitspanne kürzer.

In den Vereinigten Staaten herrscht eher die Vorstellung vor, daß man, wenn man hart arbeitet, ein Haus haben, für seine Familie sorgen, das Kind aufs College schicken und ein Auto besitzen kann. Doch im wachsenden Maße leben die Menschen von ihren Kreditkarten und werden aus ihrem Haus geworfen. Es handelt sich um dieselbe Ebene wie in Japan, aber kulturell gesehen darfst du nicht zugeben, daß der amerikanische Traum für dich nicht funktioniert. Und irgendwie ist es passiert und passiert in wachsendem Maße immer breiteren Teilen der Gesellschaft, daß sie ihr Zuhause verlieren, kein Auto haben, das Kind nicht das College besucht, und so weiter. Die Menschen leben mit einer Verschuldung von mindestens einem Monatseinkommen, bei einigen ist es noch sehr viel mehr, besonders bei Studenten, und oft sind es Schulden wegen einer medizinischen Behandlung.

Vor Bewegungen, die sagen, wir organisieren uns mit dir und verteidigen dein Zuhause, braucht sich niemand zu schämen. Man kann etwas gegen eine Zwangsräumung tun. Die Schuldenstreik-Bewegung - eine Bewegung gegen Verschuldung und dafür, Schulden nicht zu bezahlen - sagt nicht, es sei irgendwie deine eigene Schuld, sondern sieht es als illegitim an, daß man überhaupt Schulden im Krankenhaus oder bei einer Versicherung anhäufen muß, weil es keine soziale Unterstützung gibt. Diese Veränderung im Denken der Leute, wer die Schuld hat und verantwortlich ist, halte ich für sehr bedeutend.

Wir haben das auch bei unserem Aufenthalt in Griechenland erlebt. Die Menschen erzählen, daß das Denken darüber, wie man einander helfen sollte, sich verändert hat. Es ist nicht Mildtätigkeit zu überlegen, wie man dem Nachbarn helfen kann. Die Bitte um Hilfe ist eher eine politische Frage als eine der Wohlfahrt. Ich denke, das alles ist Teil dieses Phänomens, das alle Bewegungen weltweit miteinander teilen. Japan ist jedoch in allem das Extrem: in Bezug auf die Krise und auf das, womit die Menschen brechen.

Angestrahlte Freiheitsstatue bei Nacht - Foto: Oscar Urdaneta, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons

Die Freiheitsstatue, Symbol des vorgefertigten amerikanischen Traums - damit die Menschen immer im Blick haben, wer ihnen die Freiheiten gewährt ...
Foto: Oscar Urdaneta, freigegeben als CC-BY-SA-3.0 Unported via Wikimedia Commons


Fußnoten:

[1] Ein zweiteiliger Bericht zu der Veranstaltung, ein Interview mit Marina Sitrin und den ersten Teil des Interviews mit Sabu Kohso finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/060: Fukushima - Kondolation der Profite, Teil 1 (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0060.html

BERICHT/061: Fukushima - Kondolation der Profite, Teil 2 (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umrb0061.html

INTERVIEW/064: Fukushima - Vorabend der Chancen, Gespräch mit Aktivistin Marina Sitrin (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0064.html

INTERVIEW/065: Fukushima - Schock und Gegenwehr, Sabu Kohso im Gespräch, Teil 1 (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0065.html

16. Dezember 2013