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INTERVIEW/136: Kohle, Gifte, Emissionen - Logistik guten Rechts, Thomas Puls im Gespräch (SB)


Repression gegen sozialökologische Bewegungen

Interview in Bergheim-Rheidt am 24. Mai 2014



Thomas Puls ist beim Rechtshilfebüro Hamburg und dessen Projekt Störfaktor aktiv. Beim Widerstand gegen Stuttgart 21 und im europäischen Netzwerk gegen Großprojekte konnte er einschlägige Erfahrungen mit der gegen soziale Bewegungen gerichteten Repression sammeln. Am Rande des Netzwerktreffens diverser Gruppen und Organisationen des Braunkohlewiderstands beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Praxis und zum Ausmaß staatlicher Repression.

Im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Thomas Puls
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick: Thomas, könntest du die Arbeit des Rechtshilfebüros einmal vorstellen und erklären, warum du heute bei dem Netzwerktreffen bist?

Thomas Puls: Wir engagieren uns seit anderthalb Jahren im Braunkohlewiderstand, ich persönlich sogar seit zweieinhalb Jahren. Wir haben Anfang des Jahres eine Kampagne zur Stärkung des Versammlungsrechts unter dem Namen Störfaktor initiiert. Von der Bewegungsstiftung erhalten wir eine Förderung, die es uns ermöglicht, darauf mehr Zeit zu verwenden. Der Braunkohlewiderstand liegt uns sehr am Herzen, und deswegen nehme ich regelmäßig an den Treffen und auch an der Klimacampvorbereitung teil. Aktiv werden wir hier vor allem bei Anmeldungen. So hatten wir die Wiederbesetzung des Hambacher Forstes am 26. April sowie im letzten Jahr den Tag zur Schienenbesetzung auf dem Klimacamp als Demonstration angemeldet.

Neben dem Eintreten für das Versammlungsrecht wollen wir den Widerstand insgesamt stärken, weil die Menschen auf dem Klimacamp, der besetzten Wiese und im Wald mittlerweile stark mit Repressionen überzogen werden. Seitens der Polizei findet hier viel Gewalt statt, und von den Gerichten hagelt es Anklagen. Vor Gericht unterstützen wir die Personen in der Antirepression und bieten Rechtsberatung an, wenngleich wir bisher keine Prozeßführung gemacht haben. Ferner haben wir einmal für die Wiese einen Workshop eingerichtet. Dabei waren Fragen zu klären, wie weit RWE Eigentum vereinnahmen darf. Seit Anfang des Jahres sind wir auch in der Werkstatt für Alternativen und Aktionen (WAA) in Düren aktiv, wo wir ein Büro haben.

SB: Ihr leistet konkrete Rechtshilfe. Arbeiten bei euch praktizierende Rechtsanwälte oder juristische Experten mit?

TP: Wir haben in dem Sinne kein Netzwerk und sind daher nicht so organisiert wie die Rote Hilfe, die eine juristische Vermittlung anbietet. Bei uns sind Rechtsanwälte tätig, die vor allem Leute hier aus der Besetzerszene von Wald und Wiese unterstützen bzw. die rechtlichen Formalitäten für die Anmeldung des Klimacamps erledigen. Unsere Aufgabe ist die Begleitung eines kompletten Prozesses von Anfang bin Ende. Das heißt, wir schreiten nicht erst ein, wenn ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft hereinflattert oder eine Anklage eine Rechtsvertretung vor Gericht erfordert, sondern sind von Beginn des Widerstands an dabei.

Ende März wurde die Baumbesetzung im Hambacher Forst zum dritten Mal geräumt. Wir waren als Rechtshilfebüro vor Ort und kamen relativ gut durch die Polizeiabsperrungen, wurden aber nicht bis zum Platz der Räumung durchgelassen. Offenbar hatten sie bis dahin unsere Daten gecheckt und festgestellt, daß wir keine normalen Anwälte sind und uns auf der Seite der Aktivistis oben auf den Bäumen positionieren. Nach der Räumung mußten wir die Vorfälle bei der Durchsuchung der Projektwerkstatt in Saasen, die am Tag davor stattgefunden hatte, sowie die Polizeikontrolle auf der Wiese die Woche davor, bei der den Bewohnern der Wiese Dinge entwendet wurden, aufarbeiten. Dabei ging es um die Frage, wie man taktisch vorgeht, um die entwendeten Gegenstände in Zusammenarbeit mit einem Anwalt aus dem Revier in Aachen zurückzufordern.

Unter den BesetzerInnen gab es die Losung: Sobald geräumt wird, gibt es einen Tag X, der als vierter Samstag nach der Räumung definiert wurde, für die Wiederbesetzung. Wir wurden von den Wiesenbesetzern angesprochen, sie bei der Wiederbesetzung im Wald zu unterstützen. Im Vorfeld war zunächst jedoch eine Demo in Düren geplant. Als Rechtshilfebüro haben wir sowohl als Anmelder als auch als Berater fungiert und verschiedene Strategien zur Auswahl gestellt. Die Entscheidung trifft letzten Endes immer die Initiative oder die Gruppe, die uns engagiert. Anhand der Routenführung haben wir den Aktivistis mehrere Demonstrationsmöglichkeiten vorgeschlagen und ihnen klargemacht, daß es immer die Wahl zwischen einer eskalierenden und einer deeskalierenden Demonstration gibt. Die Wiesenbesetzer haben sich dann für eine Deeskalationslinie entschieden, um die Bürgerinitiativen mit hineinzunehmen. Dementsprechend haben wir daraus eine Anmeldung und das Thema der Demo formuliert. Im Vorfeld des Protestzuges saßen wir in den sogenannten Kooperationsgesprächen mit den Leitern vom Ordnungsamt, Polizeipräsidium und von der Einsatzhundertschaft zusammen am Tisch. Dies und die Nachbearbeitung fällt in unser Aufgabenfeld. Die Rote Hilfe fängt im klassischen Sinn erst an, wenn die Post kommt. Wir dagegen setzen viel früher in der Beratung an.

SB: Wie beurteilst du aus deinen Erfahrungen heraus die Strategie des Staates, verstärkt mit strafrechtlichen und repressiven Mitteln gegen Protestbewegungen vorzugehen?

TP: Aus den Verhaltensweisen von Behörden, Polizei und RWE läßt sich schließen, daß die Repression in den letzten Jahren zunimmt. Gleichzeitig ist zu beobachten, daß der Widerstand ernst genommen wird. Die Widerstände durchlaufen in der Regel verschiedene Phasen. Am Anfang werden sie gar nicht beachtet, dann belächelt und irgendwann bekämpft. Es gibt noch eine vierte Ebene, und zwar, wenn wir den Kampf gewonnen haben. Aber soweit sind wir noch nicht. Jetzt sind wir gerade auf der dritten Ebene angelangt, wo wir massiv bekämpft werden, zumeist durch Repression, und die hat sich letztes Jahr deutlich gesteigert.

SB: In Form von Polizeibrutalität in der konkreten Auseinandersetzung oder durch Drangsalierungsversuche im Vorfeld?

TP: Da gibt es die verschiedensten Ebenen. Die Gewaltschiene der Polizei hat sich am deutlichsten nach der Räumung des Hambacher Forstes und vor der letzten Wiederbesetzung gezeigt. So ist die Polizei wenige Tage vor der Wiederbesetzung und bei der Räumung der zwei Komposttoiletten mit äußerster Brutalität vorgegangen. Das ist die eine Ebene. Wir haben letztes Jahr in der Klimacampvorbereitung die Situation gehabt, daß die Anmeldungen mit unmöglichen Auflagen versehen worden sind. Zum Beispiel hat die Versammlungsbehörde in Kerpen - die gleichzeitig die zuständige Polizeibehörde ist - erklärt, daß Versammlungszelte bzw. Workshopzelte nicht versammlungsimmanent wären und daher nicht zugelassen werden. Das gleiche gilt übrigens auch für die Versorgungszelte der Küche. Das war neu.

Dann gibt es subtilere Ebenen. Dadurch, daß das Grundwasser ziemlich tief abgetragen werden muß, ist eine künstliche Wasserversorgung nötig, die in den Händen von RWE liegt. Zum Klimacamp im letzten Jahr hat der Energiekonzern das Wasser erst zwei Tage vorher freigegeben. Aber es gibt noch anderes zu berichten. So gab es im letzten Jahr eine Mobilisierung zum Klimacamp durch die Reclaim Power Tour. Unterwegs waren eine Ost- und eine Südkarawane. Ich selber war in der Südkarawane und habe sie mit organisiert. Wir sind von Stuttgart aus abgefahren und hatten ab dem zehnten Kilometer ständig Polizeipräsenz. Ich wurde im Vorfeld immer wieder gedrängt und massiv unter Druck gesetzt, die Karawane anzumelden. Wenn Menschen sich in diesem Land zusammentun, um gemeinsam Fahrrad zu fahren, bedarf es dazu keiner Anmeldung. Das steht jedem Menschen frei, egal, wie groß die Menge ist. Wir sind daher auf die Anmeldung nicht eingegangen.

Auf der Tour hat sich uns sogar die Kripo vorgestellt und gemeint, sie müßte uns schützen. Da fing es langsam mit der Repression an. Wir waren in der ersten Nacht auf dem Demeter-Hof einer Bauersfamilie mit drei kleinen Kindern untergebracht. Während des Frühstücks ist die Kripo mit Einsatzwagen einfach auf den Hof der Familie gefahren und hat sich nach uns erkundigt. Übers Handy haben wir von der Gruppe aus Freiburg und der Lausitz erfahren, daß sie das gleiche erlebt hatten. Inhalt der Tour war, an bestimmten Punkten Veranstaltungen zu machen. Unter anderem waren wir in Hessen am Atomkraftwerk Biblis und haben dort Aktionen durchgeführt. Dort haben sie sogar einen Polizeihubschrauber gegen uns eingesetzt. Außerdem wurde unser Fahrradkonvoi vorne und hinten von Motorrädern eingekeilt. Gleichzeitig erreichte uns die Meldung, daß die Zelte im Klimacamp nicht aufgebaut werden dürften. Die Aktivisten dort wurden ständig durch Beamte vor Ort drangsaliert, die Zwangsmaßnahmen durchsetzen wollten.

Eine weitere Ebene ist die Pressearbeit. Wie weit beherrscht der Konzern die Presse und kann so erreichen, daß nur RWE-freundliche Meldungen herausgegeben werden? Wir hatten jedenfalls große Schwierigkeiten, unsere Tour in den üblichen Medien darzustellen. Unser einziger Trumpf war damals, daß wir gleich auf die Polizeischikane reagiert haben und von unserem Rechtshilfebüro aus die Polizei unter Druck setzten. Sie könnten das Klimacamp verbieten, aber aus dem Osten und dem Süden würden Dutzende Menschen heranradeln. Wir waren mittlerweile zusammen mit der Gruppe aus Freiburg über 30 Leute. Bis Bonn steigerte sich der Korso auf 40, 50 Leute. Mit unseren Fahrrädern waren wir schon zehn Tage unterwegs, die aus dem Osten sogar seit vier Wochen. Wir ließen durchblicken, daß wir nicht zehn Kilometer vor dem Camp abbrechen und wieder nach Hause zurückfahren würden. Wir waren mit allem ausgerüstet, mit Verpflegung, Zelten und Schlafsäcken. Da die Polizei keine Gegenvorschläge machte, mußte sie damit rechnen, daß wir uns jederzeit und an jedem Ort niederlassen. Das war natürlich nicht im Sinne der Polizei, die immer alles unter Kontrolle halten will. Damit konnten wir schließlich Druck ausüben. Als wir im Klimacamp eintrafen, war zum Glück Ruhe, und weil wir mittlerweile soviele Menschen waren, hatten sie sich einen Einsatz offenbar nicht mehr zugetraut. Das sind so die verschiedenen Ebenen der Repression und auch der Grund dafür, warum wir uns hier als Störfaktor engagieren. Der Widerstand ist bereit, den Kampf aufzunehmen, und läßt sich nicht einschüchtern. Er geht mit der Situation sehr kreativ um. Von daher macht es viel Spaß, mit den Leuten hier zusammenzuarbeiten.

SB: Wo liegt deines Erachtens das Interesse der Behörden, einen durchaus begründeten Protest auf diese Weise zu unterdrücken und damit einem Energiekonzern Hilfestellung zu leisten?

TP: Wir arbeiten nicht nur hier im Rheinischen Braunkohlerevier, sondern sind in den letzten Jahren auch bei Blockupy in Frankfurt sehr aktiv und engagiert gewesen. Ob Stuttgart 21, im Wendland, bei den Castor Südblockaden, in Hamburg bei der letztjährigen Hafenblockade, in Büchel oder wenn Lebenslaute Aktionen macht, wir sind überall mit dabei.

Allgemein können wir schon die Tendenz erkennen, daß der Staat immer strikter wird und eine andere klare Position immer weniger zulassen möchte. Demokratie funktioniert für diesen Staat immer nur so lange, wie er die Übersicht darüber behält. Sobald es deutlich darüber hinaus geht, wechselt die Strategie massivst und der Staat setzt Repression und Gewalt ein. Der Kessel in Frankfurt mit knapp 1000 Menschen im letzten Jahr hat verdeutlicht, daß die Eskalation immer von der Seite des Staates ausgeht. Hätten sie uns zur EZB und weiter Richtung Paulsplatz laufen lassen, wäre überhaupt nichts geschehen. Vielleicht wären ein paar Farbbeutel geflogen, aber bei 10.000 Demonstranten ist das nicht weiter erheblich. Unter denen, die ihren Protest zeigen wollen, sind immer ein paar Radikale dabei. Frankfurt, aber auch die Rote Flora im Dezember in Hamburg haben gezeigt, daß Polizeieinsätze und Eskalation gewollt sind. Und das nimmt immer mehr zu. Man könnte zugespitzt sagen: Anders denken ist in diesem Land nicht mehr en vogue. Bei unserer Tour im letzten Jahr hatten wir unterwegs den Attac-Mitgründer Werner Rätz getroffen. Er hatte damals die Friedensdemo in Bonn angemeldet. Auch Werner Rätz formuliert es mittlerweile ziemlich klar: Es ist eine deutliche Tendenz innerhalb dieses Staates zur Gewalt erkennbar.

In den letzten Wochen standen mir in verschiedenen Bundesländern ziemlich viele Wasserwerfer gegenüber. Ich habe mich damit beschäftigt und weiß jetzt, daß die einzelnen Länder und der Bund als Gesamtes über 76 neue Wasserwerfer geordert haben. Pro Stück kosten sie zwischen 900.000 und einer Million Euro. Polizei und Staat rüsten massiv auf. Es ist klar, daß Gewalt immer Gegengewalt erzeugt. Und wir befinden uns bereits in dieser Eskalationsspirale. Die Rote Flora in Hamburg hat zudem gezeigt, daß eine Absicht hinter dem Einsatz steckte. Die Polizei konnte über die Innere Sicherheit schnell eine Rechtfertigung dafür finden, warum sie waffentechnisch hochrüsten muß und Elektro-Taser braucht. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden kann. Denn wozu sonst werden im Gefechtsübungszentrum in der Altmark in Sachsen-Anhalt urbane Kämpfe trainiert. Sie sind nicht für Teheran oder Bagdad gedacht, sondern für Madrid, Mailand und Athen und übermorgen für Berlin und Hamburg und vielleicht auch für den Hambacher Forst. Wie weit die Konzerne darauf Einfluß nehmen, weiß ich nicht, aber hier hält der Energiekonzern unstrittig die Zügel in den Händen.

SB: Habt ihr als Rechtshilfebüro auch mit Fragen in bezug auf die Verfolgung nach Paragraph 129b zu tun?

TP: Als Störfaktor treten wir im allgemeinen für soziale Bewegungen auf. Paragraph 129b geht deutlich über Klima- oder Energiekämpfe hinaus. Wir waren allerdings bei der Räumung von Flüchtlingslagern am Oranienburger Platz in Berlin dabei und sind in diese Thematik eingeweiht. Wir haben auch schon einige Treffen gehabt und werden eine Kooperation mit den Roma anstreben. Migration ist ein sehr weites Spektrum. Der Grund dafür, daß wir die Schengener Grenzen und Frontex in Europa haben, wird mir dadurch noch bewußter, zumal wir wissen, daß mehrere hundert Menschen jedes Jahr durch europäische Politik gezielt in den Tod getrieben werden und in diesem Land Menschen tagtäglich Rassismus erleben, aber auch politische Verfolgung erfahren, denn es gibt auch politisch Inhaftierte in Deutschland.

In diesem Thema sind wir nicht so tief drin, mehr dagegen im Migrationskomplex. Wir haben zum Beispiel auch eine Anfrage von Lebenslaute, die in Eisenhüttenstadt protestieren wird. Außerdem leisten wir Rechtshilfe für einen besonders harten Abschiebeknast, in dem mit den Leuten unmenschlich umgegangen wird. Im Bericht des Grundrechtekomitees habe ich nachgelesen, daß es im letzten Jahr bei Demonstrationen in Frankfurt zu zehn Festnahmen zum Teil unter heftiger Polizeibrutalität gekommen ist. Der Bericht stellt eine Gemeinsamkeit bei den Betroffenen fest: Es handelte sich dabei immer um Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Das ist in zunehmendem Maße in diesem Land zu beobachten.

Darüber hinaus haben wir auch Kontakte ins Ausland, zum Beispiel nach Griechenland. Ich selber war lange in Italien bei No TAV aktiv. Auch dort erleben wir, daß Aktivistis in Prozessen mittlerweile unter Terrorverdacht gestellt werden, also Menschen, die sich politisch engagieren, beispielsweise gegen eine Hochgeschwindigkeitsstrecke, das sogenannte Betongold. Die Mafia ist in dieses Geschäftsfeld stark verstrickt. Auch in Deutschland ist die Mafia sehr aktiv, bloß läßt man hier den Gedanken nicht in dem Maße zu. In dieser Woche hat in Mailand der Prozeß gegen vier Aktivistis wegen angeblicher Sabotage begonnen. Auch sie werden unter Terrorverdacht gestellt. Italien ist beileibe kein Einzelfall. Leute, die hier in Deutschland in sozialen Bewegungen arbeiten, werden jetzt wie Terroristen behandelt. Soweit sind wir in Europa wieder.

SB: Der staatsrechtliche Umgang mit dem sogenannten Ausnahmezustand sieht vor, daß in besonderen Fällen innerer wie äußerer Bedrohung Rechte außer Kraft gesetzt werden können und die Exekutive im Gegenzug mit Sonderrechten ausgestattet wird. Hältst du es für möglich, daß eine solche Situation zum Beispiel im Falle einer sozialen Krise auch in Deutschland eintreten könnte?

TP: Leider muß man heute schon sagen, daß Tendenzen dafür erkennbar sind. Ob das jetzt politisch umgesetzt wird, ist schwer abzuschätzen, aber ich befürchte, daß sich dieser Trend nicht entschärft, sondern eher zuspitzt. Ich selber äußere in Vorträgen öfter, daß von Gewaltenteilung in Deutschland nicht die Rede sein kann, sondern daß sich die Gewalt nur aufteilt. In Stuttgart laufen bereits über 5000 Prozesse gegen Aktivistis. Was dort vor Gericht stattfindet, schreit nach Unrecht. Grundrechte werden überhaupt nicht mehr berücksichtigt. Die Pressefreiheit wird, wo es nur geht, eingeschränkt.

Vor zwei Jahren habe ich einen Prozeß beobachtet, in dem es so grotesk wurde, daß das Publikum forderte, das Verfahren endlich einzustellen. Selbst die Staatsanwältin war damit einverstanden, aber die Richterin sagte: Es geht nicht. Wir haben dann nach dem Grund gefragt. Sie erwiderte darauf: Weil sie gestern einen Zettel vom Oberstaatsanwalt bekommen habe, auf dem die Verurteilung schon draufstand. Das ist Gleichschaltung, wie es sie schon einmal in diesem Land gegeben hat. Ich war schockiert und bin aus dem Gerichtssaal gegangen. Wie kann es sein, daß eine Richterin zu einem Prozeß erscheint und die Verurteilung schon feststeht? Dann zählt eine Zeugenaussage und Verteidigung überhaupt nichts mehr. Das Bemerkenswerte daran war, daß der Vorfall in der Tageszeitung abgedruckt war, weil eine Journalistin im Gerichtssaal gewesen war. Dennoch kam es zu keiner Empörung. Daran kann man erkennen, daß in diesem Land immer noch ein unwahrscheinliches Vertrauen in Menschen in Roben gesetzt wird wie bei den sprichwörtlichen Göttern in Weiß. Richter können sich in diesem Land so ziemlich alles leisten.

Ich war letztes Jahr im Dezember auch in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Garzweiler II gewesen. Es ist schon kraß, wie dort alles dem Kapitalismus untergeordnet wird. Es war ein ganz klares Wirtschaftsurteil, das dort gefällt wurde. Die Urteilsverkündung hat 85 Minuten gedauert, aber erst nach 70 Minuten sind zum ersten Mal die Begriffe Umwelt und Klima gefallen. Schließlich ging es um den Braunkohleabbau. Vorher wurde ausgiebigst über Arbeitsplätze gesprochen, was mich sehr gewundert hat, denn ich hatte angenommen, daß die Bundesverfassungsrichter und Bundesverfassungsrichterinnen nach dem Grundgesetz urteilen und sich nicht mit dem Thema Arbeitsplätze auseinandersetzen. Wir haben hier eine Tendenz, die erschreckenderweise dazu führt, daß wir tatsächlich irgendwann Einsätze der Bundeswehr im Innern erleben werden. Von Aufständen will ich noch gar nicht reden, aber daß die Meinung von Andersdenkenden mit Gewalt unterdrückt wird. Solche Dinge passieren in Südeuropa schon massenhaft. Da ist Deutschland keine Insel der Glückseligen, an der das vorbeizieht. Die sozialen Kämpfe werden sich immer mehr zuspitzen und damit auch die Radikalisierung. Doch die Gewaltspirale geht aus meiner Sicht vom Staat aus und findet auf allen Ebenen statt, sowohl im Parlament wie bei der Polizei und in den Gerichtssälen.

SB: Thomas, vielen Dank für das Gespräch.

Postkarte: 'Wessen Versammlungsrecht - unser Versammlungsrecht! www.stoerfaktor.org' - Grafik: © Rechtshilfebüro

Grafik: © Rechtshilfebüro


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17. Juli 2014