Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REPORT


INTERVIEW/211: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 2 (SB)


5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl

Internationaler IPPNW-Kongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin

Teil 2 des Interviews mit Dr. Alfred Körblein: Über die Meßgrundlagen radioaktiver Dosisbestimmung


Im ersten Teil eines Gesprächs, das der Schattenblick am Rande des Internationalen IPPNW-Kongresses "5 Jahre Leben mit Fukushima - 30 Jahre Leben mit Tschernobyl" (26.-28.2.2016) mit Dr. Alfred Körblein führte, ging es um seine Kritik an der Beweisführung für die Behauptung, in der Präfektur Fukushima sei die Schilddrüsenkrebsrate unter Kindern und Jugendlichen nach der Zerstörung des Akw Fukushima Daiichi am 11. März 2011 um das 40fache gestiegen. Im zweiten Teil des Interviews legt Dr. Körblein dar, warum die Strahlenbelastung aufgrund der Explosion des Akw Tschernobyl am 26. April 1986 deutlich größer war als die nach der Fukushima-Katastrophe und was bei solchen Berechnungen beachtet werden muß.


Dr. Körblein mit Stift und Papier - Foto: © 2016 by Schattenblick

Berechnung der zu erwartenden Krebstoten aus Kollektivdosis und Risikofaktor
Foto: © 2016 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Immer wieder stößt man in der Presse auf den Vergleich von Fukushima mit Tschernobyl. Was schlimmer war, läßt sich für den Laien schwer einordnen. Können Sie sagen, was die gravierendere Katastrophe war?

Alfred Körblein (AK): Tschernobyl, ganz klar. Um die Effekte an Geschädigten zu bemessen, wird gewöhnlich die Kollektivdosis mal einen Risikofaktor genommen. Zum Beispiel gibt die Weltgesundheitsorganisation WHO den Risikofaktor für tödliche Krebsfälle mit 0,1 pro Sievert an. Die UNSCEAR-Werte [1] für die Kollektivdosis nach Tschernobyl und nach Fukushima sind bekannt. Die Kollektivdosis nach Tschernobyl ist sehr, sehr viel höher, nämlich 360.000 Personensievert [2], verglichen mit 48.000 Personensievert für Fukushima. Rechnerisch geht man von langfristig ca. 40.000 Krebstoten für Tschernobyl und 5.280 Krebstoten für Fukushima aus. Nimmt man die Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs - nicht nur die tödlichen -, ergeben sich für Fukushima gut 1000 zusätzliche Fälle, während man für Tschernobyl auf 22.000 Fälle kommt. Demnach rechnet man vom Ausmaß der Zahl an Todesfällen, die man von der Kollektivdosis her abschätzen kann, bei Tschernobyl ungefähr mit dem Achtfachen dessen, was man von Fukushima erwartet.

SB: Halten Sie den UNSCEAR-Report für die relevanteste Veröffentlichung dazu?

AK: Wir haben momentan keine andere offizielle Studie.

SB: Wie kommt es dann, daß die IPPNW ganz andere Zahlen errechnet hat? [3]

AK: Die Organisation stützt sich ebenfalls auf UNSCEAR-Daten. Ich habe sogar an der IPPNW-Untersuchung beratend mitgewirkt. Bei ihr wird nicht mit einem Risikofaktor von 0,1 pro Sievert, sondern mit höheren Risikofaktoren gerechnet. Wobei hier zunächst einmal zu bedenken ist, daß 0,1 pro Sievert sowieso schon das Doppelte von dem offiziell verwendeten Risikofaktor für Krebs darstellt. Der liegt nämlich nach der letzten verfügbaren ICRP-Vorschrift [4] bei 0,055 pro Sievert.

Bei diesem Wert wird jedoch mit einem sogenannten Dosiseffekt-Reduktionsfaktor von zwei gerechnet, was auf die Annahme zurückgeht, daß bei niedriger Dosisbelastung die Wirkung der Strahlung halbiert ist. Doch laut einer Neuauswertung der Daten aus den beiden Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki ergeben sich keine Hinweise darauf, daß bei niedrigen Dosen ein geringerer Effekt pro Dosiseinheit auftritt als bei hohen Dosen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat daraufhin erklärt, daß es inzwischen keine wissenschaftliche Grundlage für die Existenz eines solchen Reduktionsfaktors gibt und sie jetzt nicht mehr damit rechnet. Das haben wir für den IPPNW-Report bei der Abschätzung der Strahlungsfolgen berücksichtigt.

Laut dem IPPNW-Referenten Henrik Paulitz könnte der Risikofaktor sogar noch höher als der von der WHO angegebene Wert liegen. Er bezieht sich bei dieser Einschätzung auf neuere Studien - unter anderem zur Computertomographie -, die in die Richtung eines Risikofaktors um die Größenordnung von 0,2 pro Sievert gehen. Auch hier wiederum nur bezogen auf die Sterberate.

Wenn man also die Personensievert mit diesem Faktor multipliziert, kommt man auf höhere Zahlen als die WHO. Fragt man jetzt nicht nur nach der Mortalität, sondern auch der Inzidenz, also wieviele Krebsfälle insgesamt entstehen - wovon vielleicht die Hälfte nicht zum Tod führt -, dann verdoppelt sich nochmals der Risikofaktor von 0,2 auf 0,4. Das ist in wenigen Worten der Stand des Wissens.

SB: Niedrigdosenstrahlung wurde zur Zeit des Tschernobyl-Unglücks noch nicht als Gefahr angesehen. Könnte es sein, daß man Tschernobyl und Fukushima gar nicht miteinander vergleichen kann, weil bei Tschernobyl gewisse Daten, die man jetzt bräuchte, einfach noch nicht erhoben wurden?

AK: Sieht man von Ganzkörpermessungen ab, kann man die Strahlenbelastung sowieso nicht direkt messen, sondern nur berechnen. Deshalb nimmt man die Kollektivdosis. Allerdings bin ich auch der Meinung, daß solche Kollektivdosisschätzungen mit großen Fehlern behaftet sind. Aber die kann ich nicht überprüfen, darum kann ich nicht sagen, wie gut die sind. Daran arbeiten immer Hunderte von Experten, die mit Annahmen für den Transfer von Radionukliden von Boden zur Pflanze und von der Pflanze zur Milch und so weiter die Dosis berechnen. Zur Bestimmung der Lebenszeitdosis muss die ökologische Halbwertszeit bekannt sein. Das ist der Zeitraum, in dem sich ein radioaktives Element wie Cäsium in der Nahrung zur Hälfte abbaut.

Darüber hinaus gibt es noch die äußere Bestrahlung aufgrund der Bodenbelastung. Die sinkt ebenfalls, weil das Cäsium mit der Zeit tiefer in den Boden gewaschen und dadurch besser abgeschirmt wird. Das Risiko all dieser Faktoren versucht man so gut wie möglich abzuschätzen und grob in solche Modelle einzubeziehen. Aber was die Frage betrifft, wie gut die Modelle sind, habe ich meine Zweifel, daß die sehr gut sind, und gehe von einem großen Unsicherheitsfaktor aus.

SB: In seinem Vortrag hatte Ian Fairlie [5] mit nochmals anderen Werten gerechnet.

AK: Man nimmt für die Dosisbestimmung verschiedene Rechenmodelle. Da fließen Dinge ein wie Emissionen, Boden-Pflanze-Transfer, die biologische Wirkung im Körper und so weiter. All diese Schritte sind fehlerbehaftet, da hat Fairlie völlig recht. Wenn er aber die relativen Fehler aller einzelnen Schritte einfach multipliziert, kommt er auf einen unrealistisch großen Gesamtfehler. Nehmen wir mal an, für jeden Rechenschritt sei der Fehler plus oder minus Faktor 3. Nach 4 Rechenschritten, würde sich ein Fehler von plus oder minus 3 hoch 4, also 81 errechnen. In der Statistik lernt man aber, daß der Gesamtfehler die Wurzel aus der Summe der Quadrate der Einzelfehler ist. Damit kommt man im obigen Beispiel auf einen Gesamtfehler von plus oder minus einem Faktor 9. Der Grund ist, daß Fehler ja nicht immer in eine Richtung gehen, also, wie bei Fairlies Betrachtung angenommen, in Richtung auf eine Erhöhung. Aber für den Mittelwert gilt das nicht. Der Mittelwert ist viel genauer als die Betrachtung für den Einzelnen. Deshalb habe ich auch ein Problem mit manchen Berechnungen in dem Tschernobyl-Bericht aus Österreich. [6]

(wird fortgesetzt)


Fußnoten:

[1] UNSCEAR: United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, z. Dt.: Wissenschaftlicher Ausschuß der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der ionisierenden Strahlung. UNSCEAR wurde 1955 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen gegründet. Seine Aufgabe besteht darin, Ausmaß und Auswirkungen ionisierender Strahlung zu erfassen und darüber zu berichten. Die UNSCEAR-Reporte bilden weltweit die wissenschaftliche Grundlage zur Bewertung von Strahlenrisiken und für Vorschläge zum Strahlenschutz.

[2] Kollektivdosis ist das Produkt aus der Anzahl der Personen einer Radioaktivität ausgesetzten Bevölkerungsgruppe und der mittleren Dosis pro Person. Üblicherweise wird als Einheit für die Kollektivdosis "Personen-Sievert" gewählt.

[3] Die IPPNW kommt in einer Studie von April 2006 auf weltweit 28.000 bis 69.000 Krebs- und Leukämietote infolge der Tschernobylkatastrophe weltweit. Würde man die Krebserkrankungen hinzuzählen, käme man zusätzlich auf deutlich höhere Zahlen, heißt es.
https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Gesundheitliche_Folgen_Tschernobyl.pdf

Im aktuellen IPPNW-Report vom Februar 2016 werden Zahlen der IAEA/WHO wie, daß durch die Tschernobyl-Katastrophe 4000 zusätzliche Todesfälle auftreten werden, in Frage gestellt und mit eigenen Berechnungen und Zahlenangaben kontrastiert.
http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/IPPNW_Report_T30_F5_Folgen_web.pdf

[4] ICRP: International Commission on Radiological Protection - z. Dt.: Internationale Strahlenschutzkommission. Die 1928 gegründete und in Ottawa ansässige Fachkommission soll durch Empfehlungen und Richtlinien die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Strahlenschutz zum Nutzen der öffentlichen Gesundheit umsetzen.

[5] Dr. Ian Fairlie ist Strahlenbiologe aus Großbritannien, der für Umweltorganisationen, das Europäische Parlament sowie lokale und nationale Behörden in einer Reihe von Ländern als Berater zum Thema "Radioaktivität in der Umwelt" arbeitet. Dr. Fairlie hat auf dem IPPNW-Kongreß den Vortrag "30 Years Later: Health effects of Chernobyl" gehalten.
http://www.tschernobylkongress.de/fileadmin/user_upload/T30F5/F1_Fairlie_web_final.pdf

[6] "TORCH-2016. An independent scientific evaluation of the health-related effects of the Chernobyl nuclear disaster", von Ian Fairlie. Veröffentlicht von der österreichischen Umweltorganisation Global 2000.
http://tinyurl.com/hbs3z4c


Die Berichterstattung des Schattenblick zum IPPNW-Kongress finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT:

BERICHT/112: Profit aus Zerstörungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0112.html

BERICHT/113: Profit aus Zerstörungskraft - kein Frieden mit der Atomkraft ... (SB)
https://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0113.html

INTERVIEW/203: Profit aus Zerstörungskraft - nach unten unbegrenzt ...    Dr. Alexander Rosen im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0203.html

INTERVIEW/204: Profit aus Zerstörungskraft - Spielball der Atommächte ...    Dr. Helen Caldicott im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0204.html

INTERVIEW/205: Profit aus Zerstörungskraft - systemische Verschleierung ...    Tomoyuki Takada im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0205.html

INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ...    Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0206.html

INTERVIEW/207: Profit aus Zerstörungskraft - eine ungehörte Stimme ...    Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0207.html

INTERVIEW/208: Profit aus Zerstörungskraft - Empathie und Trauma ...    Tatjana Semenchuk im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0208.html

INTERVIEW/209: Profit aus Zerstörungskraft - so was wie Diabetes ...    Liudmila Marushkevich im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0209.html

INTERVIEW/210: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ...    Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 1 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0210.html

1. April 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang