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INTERVIEW/250: Klima und Finanzen - was wachsen muß, das schwindet nicht ...    Thomas Hermann Meister im Gespräch (SB)


Deutlich unter 2 Grad - Konkrete Umsetzung nach Paris

Briefing vor der 22. UNFCCC-Klimakonferenz im Auswärtigen Amt am 27. September 2016

Thomas H. Meister über die Konsequenzen der Klimawandelfolgen in der Außenpolitik, Triumphe des Multilateralismus und warum der Weltklimavertrag auch fünf nach zwölf keine Abkehr vom Wirtschaftswachstum riskieren wird ...


Vor nicht ganz einem Jahr wurde das Pariser Klimaschutzabkommen ausgehandelt. Am 4. Oktober 2016, zehn Tage nachdem der Bundestag die Entscheidung über das historische Dokument endlich auf die Agenda hob und nachdem China, Mexiko, die USA und weitere 60 Staaten den Paris-Vertrag schon vorher in nationales Recht gefaßt hatten, haben sich nun auch am 4. Oktober - kurz vor Toresschluß - die Abgeordneten des Europaparlaments mit 610 von 679 Stimmen (mit 38 Neinstimmen und 31 Enthaltungen) für ein Inkrafttreten des Weltklimavertrags entschieden.

Nachdem kurz zuvor auch Indien die technische Deadline für die Ratifizierung geschafft hat, steht schließlich ab November nichts mehr im Wege, wenn die Ratifizierungsdokumente möglichst rasch ihren Weg nach New York finden, um dort bei den Vereinten Nationen hinterlegt zu werden, wie UN-Generalsekretär Ban Ki Moon unter dem Applaus der Abgeordneten im Europaparlament forderte. Und die Hoffnung, es nun endlich geschafft und die Chance ergriffen zu haben, die Weltgemeinschaft und vor allem die Weltwirtschaft auf den richtigen Kurs zu bringen, geht erneut um die Welt ...

Aufgrund der akuten und für alle Beteiligten überraschenden Beschleunigung des Tempos bei der Ratifizierung des UN-Klimaschutzabkommens in den letzten Monaten fragt keiner mehr, warum es beinahe ein Vierteljahrhundert an Verhandlungen brauchte, um überhaupt dahin zu kommen. Auch bei Thomas H. Meister, Referatsleiter Klima- und Umwelt-Außenpolitik, Nachhaltige Wirtschaft im Auswärtigen Amt, stieß die Frage, warum das Energiewende-Deutschland auch diesen letzten Akt erst kurz vor Toresschluß durchgebracht hat nach beinahe 60 anderen Ländern, auf diplomatisches Unverständnis. Man habe es schließlich noch rechtzeitig geschafft, und nur darauf komme es an, meinte er. Parlamentarische Verfahren, die eingehalten werden müssen und dafür eingehalten wurden, brauchten eben ihre Zeit.

"Rechtzeitig" darf hier aber nicht im Zeitverständnis des Klimas, hätte es denn eins, gesehen und verstanden werden. Was auch immer der Pariser Vertrag nun an umweltpolitischen Verpflichtungen für die Weltgemeinschaft mit sich bringen wird und wie schnell es die Länder auch tatsächlich schaffen werden, den Klimaschutz national und damit international zu verwirklichen, Klimaexperten wie Ottmar Edenhofer, Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), zweifeln stark daran, daß selbst die ambitionierteren Klimaschutzziele noch rechtzeitig kommen [*], um nur das wichtigste der in Paris beschlossenen Ziele, den Wärmezuwachs gegenüber der vorindustriellen Zeit noch "deutlich unter zwei Grad" zu stoppen. Um das zu erreichen, dürfte die Welt seinen Berechnungen nach nur noch 200 Gigatonnen CO2 in die Atmosphäre ablassen, was auch dann nicht zu schaffen wäre, wenn tatsächlich alle Vertragspartner ihre persönlichen Zusagen, die INDC (Intended Nationally Determined Contributions), verbindlich einhalten würden. Ob dafür bei den COP 22 Verhandlungen in Marrakesch überhaupt die nötige politische Entscheidungsgewalt entwickelt werden könnte, hält der Ökonom für fraglich.

Doch reicht dieses Ziel, würde es noch "rechtzeitig" geschafft, überhaupt noch aus, die zukünftigen Lebensbedingungen der Menschheit zu sichern und die weitreichenden Folgen der Erwärmung, die bereits in vielen Ländern im Ansatz spürbar geworden sind, entsprechend zu reduzieren? Als akutes Beispiel für die Vehemenz und Heftigkeit, mit der dies geschieht, überschattet derzeit die Katastrophe, die der Hurrikan Matthew, der Haiti und Kuba heimsucht, die Klima-Hoffnungsstimmung. Windgeschwindigkeiten mit mehr als 220 Kilometer pro Stunde, extreme Regenmengen mit 600 Milliliter pro Quadratmeter, Wellen von drei bis vier Meter Höhe, Überflutungen, Erdrutsche und die schlimmste humanitäre Krise seit der Erdbebenkatastrophe 2010 für die Region stellt der Klimawandel bereits in einem kleinen Teil der Erde in eine Rechnung, die der ambitionierteste Weltklimavertrag nicht mehr begleichen kann. Das gleiche gilt für viele Länder der Erde, in denen bereits Kippunkte oder Tipping Points überschritten wurden.

Darüber hinaus bedeutet selbst ein Ende des Temperaturanstiegs nicht, daß auch alle anderen Veränderungen im Klimasystem zum Stillstand gebracht werden können. Denn wie der Klimageograph Prof. Dr. Ben Marzeion, Universität Bremen, in einem Statement zum Weltklimavertrag schrieb [1], hat der CO2-Ausstoß der Vergangenheit längst Prozesse angestoßen, wie etwa der Schwund des Gletschereises, die die Menschheit noch viele Jahrhunderte beschäftigen werden - auch bei erfolgreichen Klimaschutzmaßnahmen.

Wie schnell das Eis verschwindet, hängt von vielen Bedingungen ab. Neben der Temperatur spielt die Größe des Eisblocks eine Rolle - und im Fall der Gletscher auch, wieviel Schnee im Winter noch fällt, der das Sonnenlicht und damit auch die Wärme reflektiert. Das Abschmelzen der Gletscher in den nächsten Jahrzehnten ist daher nur bedingt eine Folge der weiteren Erwärmung, sondern wurde bereits durch die klimatischen Veränderungen vor Jahrzehnten, als noch keiner von einem Klimawandel sprach, in Gang gesetzt. Selbst wenn die Erwärmung heute komplett stoppen würde - für alle Wissenschaftler eine physikalische Unmöglichkeit - würde der Abschmelzungsprozeß weitergehen und noch rund ein Drittel des in Gletschern gebundenen Eises in Wasser verwandeln. Würde die Menschheit durch entsprechenden Klimaschutz die globale Erwärmung auf zwei Grad begrenzen, dann wären schon rund zwei Drittel des Eises langfristig verloren.

Wenn also die Mühlen der Diplomatie und politischen Implementierung schon langsam mahlen, dann werden sie von der Trägheit der Natur und den Klimawandelfolgen noch bei weitem übertroffen. Über die Hoffnungen, die an den Weltklimavertrag geknüpft werden, vergißt man leicht, daß Klimafolgen langfristig festgeschrieben werden: Nicht nur mit dem weiteren Abschmelzen der Gletscher und dem damit verbundenen Verlust von Wasserquellen oder Ressourcen wird die Menschheit rechnen müssen, auch den Küstenregionen der Welt steht ein unaufhaltsam steigender Meeresspiegel bevor. Diese Folgen betreffen die zwei der Länder, in denen der deutsche Diplomat und Vortragende Legationsrat I. Klasse, Thomas Hermann Meister, lange Jahre als Botschafter tätig war. Im Anschluß an die Veranstaltung, die er moderierte, stellte er sich dem Schattenblick für einige Fragen zur Verfügung.


Bei der Moderation des Briefings zur COP 22 im Auswärtigen Amt - Foto: © 2016 by Schattenblick

Moderierte das Briefing und plädierte für Fakten und Expertise statt Bauchgefühl im vielzitierten "postfaktischen Zeitalter".
Thomas Herrmann Meister, Referatsleiter Klima- und Umwelt-Außenpolitik, Nachhaltige Wirtschaft im Auswärtigen Amt
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie waren ja einige Jahre als Botschafter und Diplomat in Staaten tätig, die bereits teilweise ganz besonders vom Klimawandel gezeichnet sind: Von 2009 bis 2012 in Wellington, Neuseeland, und damit verbunden den Pazifikinselstaaten, einer Region, in der schon viele kleine unbewohnte Inseln regelrecht verschwunden sind, und vor einigen Jahren in Island, das durch das Abschmelzen der Gletscher ebenfalls stärker als andere Länder betroffen ist. [2] Konnten Sie auch persönlich schon Zeichen des Klimawandels erkennen? Sie hatten vorhin in der Diskussion die Migration von Fischbeständen erwähnt ...

Thomas Meister (TM): In meiner Zeit in Wellington war ich doppelt akkreditiert, sowohl als Botschafter in Neuseeland als auch in den sechs Inselstaaten, Tonga, Samoa, Fidschi, Kiribati, Tuvalu und den Cookinseln. Tuvalu und Kiribati sind Atollstaaten, die natürlich vom Klimawandel ganz besonders betroffen sind. Das tragen ihre Vertreter auch an die Öffentlichkeit heran. Wir haben vor kurzem das 30jährige Jubiläum des Umweltministeriums hier im Gasometer Schöneberg gefeiert, also hier in Berlin. Einer der geladenen Gäste war auch Anote Tong, der bisherige Staatspräsident Kiribatis, einem ganz besonders betroffenen Land. Er wie auch der Premierminister von Tuvalu gehören zu den Aktivsten in der Gruppe derjenigen, die ihre Probleme in die internationale Gemeinschaft der Vereinten Nationen tragen. In diesen beiden Staaten ist es sicherlich fünf vor zwölf, das weiß man schon. In Neuseeland selbst wurde der Klimawandel seinerzeit weniger diskutiert, und die anderen Inselstaaten sind nicht so gefährdet, weil sie keinen so niedrigen Meeresspiegel haben wie die beiden Atollstaaten. Es gibt aber im Pazifik noch einige, die ebenfalls jetzt schon besonders bedroht sind.

In Island sind es in der Tat die Gletscher, die durch die Erwärmung abschmelzen. Man spürt es aber auch subjektiv. Der isländische Winter war früher ziemlich harsch. Die geschlossene Schneedecke blieb oft ein halbes Jahr lang und das ist heute ganz selten. Meine isländischen Freunde haben mir berichtet, dass es früher ganz andere Winter gab als in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren. Dort ist es also auch spürbar. Aber persönlich für den einzelnen ist es keine so besondere Belastung, wie das, was man jetzt in anderen Teilen der Welt mit Klimawandelfolgen erlebt.

Der andere Punkt, den ich vorhin in der Diskussion ansprach, betraf die Erwärmung der Meere. Da gibt es das Phänomen, dass einige Fischarten migrieren. Wenn die Gewässer beispielsweise in unserem Bereich der Nordsee zu warm werden, gibt es tatsächlich schon eine Migration in den Nordosten und in den Nordostatlantik. Dort herrschen für die Fische ideale Bedingungen, reichlich Nahrung, Phytoplankton en masse. Und nun gibt es im Nordosten Makrelen, die es früher gar nicht dort gab. Dementsprechend möchten nun die Küstenstaaten ihre Fangquote erhöhen. Dazu gibt es verschiedene Argumentationen. Wir sagen, den größten Teil der Zeit verbringt die Makrele in unseren Gewässern und die Staaten im Nordosten halten dagegen, dass die migrierenden Fischbestände ihre traditionellen Fischbestände dezimieren. Wie gehen Sie damit um? So ein Gerechtigkeitsproblem ist gar nicht so leicht zu lösen, weder für die Fischereiverantwortlichen noch für die anderen Akteure dort. Und das ist letztlich auch eine Klimawandelfolge, die man erst aus der Nähe als solche erkennt.

SB: Und die man noch nicht so auf dem Radar hat ...

TM: Ja, genau, das Thema ist in der Öffentlichkeit nur wenig behandelt worden.

SB: Hat dieser unmittelbare, hautnahe Kontakt mit den Veränderungen durch den Klimawandel Ihr persönliches Engagement beeinflußt?

TM: Selbstverständlich ja. Dinge, die man aus der Nähe erlebt, beeinflussen einen immer ganz besonders. Eine Sache jenseits des Klimawandels, aber trotzdem ein ganz schlimmes Naturereignis für die Region, war für mich dieses schreckliche Erdbeben in Christchurch, das vor fünf Jahren praktisch dreißig- bis vierzigtausend Gebäude zerstörte oder schwer beschädigte und dabei 300 Menschenleben kostete. Es war mit Abstand das größte Unglück, das Neuseeland jemals erlebt hat. Ich selbst war einen Tag vorher dort gewesen und wenn man dann tagelang die Live-Berichterstattung von den Rettungsaktionen verfolgt und dann die Zerstörungen sieht, an Gebäuden, in denen man noch kurz zuvor gewesen ist, oder die Trümmer, aus denen verzweifelte Menschen gerettet werden, dann muss man irgendwie auch helfen. Das ist dann wirklich, aber natürlich im negativen Sinne, ganz besonders beeindruckend. Für mich war es wohl das negativste Erlebnis meiner Zeit dort. Solche Naturereignisse nehmen einen besonders mit, wenn man sie hautnah erlebt und genau so ist es natürlich mit den Veränderungen durch den Klimawandel.

SB: Wer kein Experte ist, hat überhaupt längst den Überblick verloren, was seit 1992 bei den internationalen Klimaverhandlungen bis COP 21 alles beschlossen, besprochen und eingehalten oder verpasst wurde. Werden die Entwicklungen der einzelnen Klimakonferenzen in den vom Klimawandel am deutlichsten betroffenen Regionen genauer oder anders verfolgt als hierzulande?

TM: Ich glaube, jedes Land hat seine individuelle Perzeption der Klimaverhandlungen, aber gerade eben der große Erfolg von Paris wird meines Erachtens durchaus gemeinschaftlich wahrgenommen. Das genau ist ja der große Erfolg dieser letzten Verhandlungen. In der von der EU und den AKP-Staaten angeführten sogenannten "High Ambition Coalition" [3] sind die AOSIS-Inselstaaten [4] ebenso integriert wie die Amerikaner, große Schwellenländer und so weiter. Eine ganz beträchtliche Zahl von Staaten haben sich gegen Ende der Konferenz zusammengetan und sich vorgenommen, jetzt muss etwas passieren, wir müssen es schaffen, und es wurde geschafft. Dadurch wurden praktisch die letzten Dämme gebrochen, die dem Abkommen noch im Wege gestanden hatten. Und wo Sie hinschauen, wenn Sie die Medienresonanz von Paris verfolgt haben, dann war sie praktisch auf er ganzen Welt gut. Es gibt immer kritische Stimmen, weil man zu Recht sagen kann, es ist nicht genug. Aber das Pariser Abkommen ist als globaler Klimavertrag schon etwas ganz Neues. Es wurde sehr schnell beschlossen und ebenso überraschend ist auch, dass sehr viele Länder so zügig beigetreten sind und dass dieses Abkommen, was viele erst in späteren Jahren für möglich gehalten hätten, schon bald rechtsgültig werden kann. Und das ist ein sehr großer Erfolg, vor allem wenn Sie das im Kontext dessen betrachten, was 2015, also vom September zum Dezember, passiert ist: die Finanzbeschlüsse von Addis Abeba, [5] der Agenda 2030-Gipfel, auf dem sich über 190 Staaten auf einen Weltzukunftsvertrag verständigt haben, und danach dann auch noch das Klimaabkommen, das ist schon sensationell. Das ist auch ein Triumph des Multilateralismus in einer Zeit, von der wir eigentlich sagen, sie sei nur von Krisen geprägt und vor allem die Vereinten Nationen täten sich schwer, diese globalen Krisen zu bewältigen. Aber da haben wir drei Fälle von globalen Aktionen, die extrem erfolgreich waren und auf die wir, glaube ich, alle recht stolz sein können.

SB: Am Ende der Podiumsdiskussion wurde nach positiven Beispielen gefragt. Gab es in der Vergangenheit oder heute politische Maßnahmen oder auch Reaktionen auf den Klimawandel in den Ländern, in denen Sie diplomatisch tätig waren, die Sie beispielhaft oder vorbildlich fanden?

TM: Eine Sache, um die ich mich vor 10 Jahren einmal mit kümmern durfte, war die sogenannte IRENA, die "International Renewable Energy Agency." [6] Das ist eine Initiative, die ursprünglich vom deutschen Abgeordneten Hermann Scheer ausging, die wir dann 2009 von Berlin aus gestartet haben. Und im Nu gelang es uns, dafür mehr als 100 Mitgliedstaaten zu gewinnen. Jetzt zählen wir etwa 149 Mitgliedsstaaten weltweit, praktisch alle wichtigen Länder der Welt sind Mitglied der IRENA. IRENA ist eine Organisation, die die bedürftigsten Länder bei der Begründung von Energiepartnerschaften oder Energieprojekten unterstützt. Im beratenden Bereich der capacity building, im Erschließen von Ressourcen für die Finanzierung der Erneuerbaren und ähnlichem kann sie sehr, sehr gute Dienste leisten. [6] Ich habe zum Beispiel persönlich in meiner Zeit im Pazifik mitbekommen, wie sich einige Kollegen aktiv bemühten, um durch IRENA Unterstützung für Solarprojekte in Tonga zu erhalten. Und da ich das IRENA Projekt kenne, wurde ich darauf aufmerksam und sagte mir, okay, prima, es wird auch genutzt. Jetzt kann vielleicht jemand 17.000 Kilometer entfernt eine Solaranlage bauen. Das ist doch etwas sehr Befriedigendes. Ich habe mich darüber gefreut.

SB: Deutschland hat gewissermaßen kurz vor Toresschluß das Pariser Abkommen noch ratifiziert. Was, würden Sie sagen, hat bei der Entscheidung letztlich den Ausschlag gegeben: die aktuellen Klimaentwicklungen, die sehr dramatisch sind, oder die Befürchtung, dass der Zug abfährt und man in Marrakesch am Katzentisch Platz nehmen muß, wenn man jetzt nicht rechtzeitig ratifiziert oder die EU das nicht macht?

TM: Es war immer abgesprochen, dass die EU das Abkommen gemeinsam ratifiziert. Deutschland hat das Abkommen wie vereinbart fristgerecht ratifiziert.

SB: Hat Deutschland eigentlich seine Vorreiterrolle bei den Erneuerbaren Energien eingebüßt? Andere Länder haben uns inzwischen in absoluten Zahlen auf der Weltrangliste überflügelt.

TM: Eingebüßt, das klingt so, als wenn wir momentan nicht mehr so gut wären. Dabei ist es doch nur erfreulich, dass die Spanier in Sachen Windenergie viel vorhaben, dass die Texaner groß in die Windenergie eingestiegen sind und dass China, jetzt auch bei Solar- und Windenergie und bei Erneuerbaren generell gut unterwegs ist ... Wir sind immer noch in der "Pole Position", zusammen mit anderen, unabhängig davon, ob dann mal einer mehr Windenergie-Anlagen produziert oder nicht. Uns fällt es natürlich auch schwerer zu expandieren, weil wir schon auf einem sehr hohen Niveau sind. Besonders im Norden Deutschlands ist gar nicht mehr genug Fläche für Windenergie übrig, da muß man also bereits off-shore gehen, was wesentlich teurer ist als on-shore und andere Länder müssen das nicht.

Deswegen sind unsere Zuwachsschritte kleiner als bei anderen, die bei Null anfangen und dann natürlich dreistellige Zuwachsraten haben jedes Jahr. Damit können wir nicht konkurrieren. Aber es ist unser gemeinsames Interesse, dass alle Länder mit Renewables anfangen. Wir haben das "ErneuerbareEnergienGesetz" entworfen und das ist immerhin von 40 anderen Ländern dieser Welt übernommen worden. Es ist ja schon eine Erfolgsstory, dass 40 andere Länder inzwischen nach unserem Muster die Erneuerbaren fördern, weil sie erkannt haben: "Okay, das hat eigentlich ganz gut geklappt in Deutschland, warum sollen wir das nicht auch so machen?"

SB: In der Diskussion wurde viel über Beschleunigung bestimmter Prozesse gesprochen. Wie aber stellt sich die Bundesregierung eigentlich vor, den Gesamtprozess der Transformation einer ganzen Gesellschaft, der ja auch auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfinden muss, entsprechend zu beschleunigen?

TM: Ja, das ist ein Bohren ganz dicker Bretter, auch wenn bei uns das gesellschaftliche Bewusstsein für die Notwendigkeit von Klimaschutz ausgeprägt ist und auch der wissenschaftliche Nachweis für die Notwendigkeit der Bekämpfung des Klimawandels in weiten Teilen der Bevölkerung, in der Öffentlichkeit und in den Medien angekommen ist. Das sieht in bestimmten Ländern etwas anders aus, denn, wie Sie wissen, gibt es dort eine Diskussion über die sogenannten "Climate change deniers" [Klimaskeptiker, Anm. d. SB-Red.]. Ich glaube, hierzulande stellt das kein Problem dar. Kurz: das Bewusstsein ist grundsätzlich da, aber es muss natürlich gestärkt werden. Dafür veranstalten wir wie bei der Umsetzung der Agenda 2030, in der unter dem SDG 13 Klimaschutz ein großes Ziel ist, ganz vielfältige Aktivitäten, wozu auch der Dialog mit der Zivilgesellschaft gehört. Wir haben gerade unseren Nachhaltigkeitsstrategie-Fortschrittsbericht-Entwurf mit 40 zivilgesellschaftlichen Organisationen diskutiert. [7] Vom Bibliotheksverband bis zum Naturschutzbund, vom deutschen Jugendbund bis zu deutschen Menschenrechtsorganisationen waren sehr viele vertreten. Das sind sehr kritische Diskussionen, denen wir uns da stellen müssen. Aber wir profitieren auch durch jede Menge interessante Inspirationen, die wir dadurch erhalten. Es ist sehr spannend und vor allem aber sinnvoll, dadurch im Dialog mit der Zivilgesellschaft zu stehen, davon lernen wir alle. Es können nicht immer alle Wünsche erfüllt werden und es ist manchmal auch ein bisschen schwierig, zu erklären, warum manche Dinge eben nicht so schnell durchsetzbar sind wie andere. Aber es ist unsere Aufgabe, da arbeiten wir dran.

SB: Seit Jahren warnt die Klimawissenschaft mit wachsender Besorgnis und immer eindringlicheren Worten vor dem "business as usual". Bisher sieht man aber nur ein "Weitermachen wie bisher" mit etwas schonenderen, CO2-sparenden Mitteln. Müsste man nicht die Notwendigkeit des Wachstums gründlicher hinterfragen und sehen Sie persönlich noch realistische Chancen für eine rasche und entschlossene oder auch drastischere Abkehr vom Wachstumskurs?

TM: Wir streben ein nachhaltiges Wachstum an. Es ist nicht so, dass wir generell ein negatives Wachstum der Wirtschaft gutheißen. Wir möchten ein nachhaltiges Wachstum erzeugen und das unter der Notwendigkeit der Berücksichtigung aller SDGs [UN-Nachhaltigkeitsziele, Anm. d. SB-Red.]. Nachhaltigkeit betrifft nicht allein das Klimaziel, sondern wir müssen auch die anderen SDGs wie Wasserversorgung, Bildung oder Armutsbekämpfung bis hin zur Zusammenarbeit mit den schwächeren Staaten dieser Welt berücksichtigen. Das ist eine gewaltige Herausforderung, aber wir werden hart dran arbeiten.

SB: Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.


Anmerkungen:

[*] siehe Bericht des Schattenblicks zum Briefing vor der 22. UNFCCC-Klimakonferenz im Auswärtigen Amt am 27.9.16 "Deutlich unter 2 Grad - Konkrete Umsetzung nach Paris" unter:
Umwelt → Report
BERICHT/122: Klima und Finanzen - den Teufel mit Beelzebub ... (1) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umrb0122.html

Der zweite Teil zum Bericht und weitere Interviews folgen.

[1] http://www.deutsches-klima-konsortium.de/de/ueber-uns/positionen/kolumne-zur-sache.html?expand=3549&cHash=d3bd0d18bd3487b2530896a7e94e31b9

[2] Island liegt von der Südostküste Grönlands nur 280 km entfernt. - Wenige Tage vor dem Briefing wurde in den Medien berichtet, Eisverluste der Gletscher wären sehr viel größer als bisher gedacht, 20 Mrd. Tonnen, mehr als angenommen, sind im Zeitraum 2004 bis 2016 allein auf den Gletschern Grönlands pro Jahr abgeschmolzen. Besonders starke Abweichungen von bisherigen Prognosen fanden die Forscher im Nordwesten und Südosten Grönlands. Auch der Meeresspiegelanstieg überträfe die Vorhersagen. (NDR Info, Logo vom 23.9.16)

[3] "High Ambition Coalition" oder Allianz der Ehrgeizigen

[4] Die Alliance of Small Island States (AOSIS, Allianz der kleinen Inselstaaten) ist ein Bündnis kleiner Insel- und niedrig liegender Küstenstaaten auf der ganzen Welt, die alle ähnlichen Entwicklungsaufgaben gegenüberstehen und mit ähnlichen Umweltproblemen konfrontiert sind. Vor allem der steigende Meeresspiegel und andere Auswirkungen der Globalen Erwärmung machen den meisten AOSIS-Mitgliedern zu schaffen.

[5] Finanzbeschlüsse Addis Abeba, mehr dazu siehe:
file:///C:/Users/Birgitta/Downloads/Gesch%C3%A4ftsbericht_BR_2015_Band_II_DE.pdf

[6] IRENA mehr dazu:
http://www.irena.org/Menu/index.aspx?PriMenuID=53&mnu=Pri

[7] Nachhaltigkeitsstrategie-Fortschrittsbericht-Entwurf siehe:
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/Nachhaltigkeit/0Buehne/2016-05-31-download-nachhaltigkeitsstrategieentwurf.pdf?__blob=publicationFile&

7. Oktober 2016


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