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TIPS/048: Käse-Kuriositätenkabinett - Maden, Milben, Schimmel und ein penetrantes Aroma (SB)


Maden, Milben, Schimmel und dazu recht penetrantes Aroma: Käse vom Feinsten...



Insbesondere für die jüngere, an Mikrowelle und Fertigprodukte gewöhnte Generation ist es oft eine Überraschung, was sich genau hinter eigentlich recht vertrauten Nahrungsmitteln verbirgt. Wer zum Beispiel heute die schön verpackten erlesenen Sorten in der Käsetheke des Supermarktes oder im Feinkostgeschäft sieht, vermag beim Anblick kaum noch die Brücke zu schlagen zu den meist aus der Not geborenen Zubereitungsmethoden, mit der diese Kultur ihren Anfang nahm. Und das ist vielleicht gar nicht einmal das Schlechteste, könnte dieses Wissen darum sensibleren Gemütern doch glatt den Appetit verderben.

Der Begriff "Käse" bedeutet von seiner Wortwurzel her "Gärung, Gärmittel"; franz. "fromage" und ital. "formaggio" stammen von lat. "coagulum formatum", und das heißt "geformtes Gerinnsel". Bei der Gerinnung von Milch trennt sich der Käsestoff Kasein von der klaren, leicht gelblichen Molke. Nach Abrinnen dieser Flüssigkeit beginnt der Reifungsprozeß, meist in einem Salzbad.

Diese Form der Lebensmittelverarbeitung ist das ideale Beispiel für die einst schlichten Methoden früherer Zeiten, als Vorratshaltung ohne Hilfsmittel wie Elektrizität oder aufwendige hygienische Verfahren betrieben werden mußte. Auch wirft sie ein Licht auf ein weit weniger distanziertes Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, mußte doch zumindest das einfache Volk aus dem etwas machen, was es unmittelbar bei sich hatte.

Dazu gehörte beispielsweise auch die Ausnutzung der Exkremente der Tiere als Brennmaterial - oder als Gärungshilfe für Käse. So soll es früher einen "Mistkäse" gegeben haben, der seinen "würzigen" Geschmack und die Wärme für einen beschleunigten Reifungsprozeß aus dem Pferde- oder Kuhdung bezog. Dazu läßt sich ahnen, daß man dieses wertvolle Lebensmittel womöglich dort versteckt hielt, weil Diebe so etwas an einem solchen Ort sicherlich am wenigsten vermuteten.

Ungeziefer wurde in früheren Zeiten nicht mit einem angewiderten "Igitt" abgelehnt, sondern als wertvolles Eiweiß mitverspeist, wie es bei dem (übrigens heute noch produzierten und als Spezialität gehandelten) sardinischen Madenkläse namens "Casu Marzu" der Fall ist. Hierbei handelt es sich um einen sehr reifen Schafskäse, der so lange gelagert wird, bis Käsefliegen (Piophila casei) ihre Eier hineinlegen. Die Maden schlüpfen, dringen ein und ernähren sich von der Käsesubstanz. Durch ihren Verdauungsprozeß bekommt diese eine cremige Konsistenz, ein kräftiges Aroma und sondert eine Flüssigkeit ab, die "lagrima" ("Träne") genannt wird. Beim Verzehr befinden sich die lebenden Maden im Käse. Sie können, je nach Vorliebe, mitgegessen oder aber außen vor gelassen werden.

In Deutschland findet diese Produktionsweise ihre Entsprechung im Milbenkäse. Hier wird der Rohkäse in Holzkisten mit unzähligen Milben gelegt. Die Milben verdauen in diesem Fall nicht die Käsesubstanz sondern in den Kisten ausgestreutes Roggenmehl. Ihre Ausscheidungen und Fermente aus dem Speichel sind es, die den Käse reifen lassen und für Haltbarkeit sorgen. Verzehrt wird der Milbenkäse ebenfalls nach Belieben mit oder ohne diesen tierischen "Bewuchs". Im sachsen-anhaltischen Würchwitz wird mit einem Milbenkäse-Museum und einem Milbenkäse-Denkmal ein regelrechter Kult um dieses seit Generationen ausgeübte Verfahren betrieben.

Eine weitere Spezialität in diesem Kuriositätenkabinett stammt aus Frankreich, der Feinkostnation schlechthin: der "Mimolette". Es ist ein kugelförmiger Schnittkäse aus Kuhmilch mit einer im fortschreitenden Alter recht dicken Rinde, die einer mit Kratern übersäten Mondlandschaft ähnelt. In diesen "Kratern" siedeln Milben, denen der Käse seine löchrige Oberfläche und seinen besonderen Geschmack verdankt.

Das Hervorrufen der Milchgärung mit dem Enzym Lab aus dem Kälbermagen wird gewiß darauf zurückzuführen sein, daß man beim Schlachten der sehr jungen Rinder in deren Mägen solch gegorene Milch fand und diese überraschenderweise nicht nur genießbar sondern geradezu äußerst bekömmlich war und vorzüglich schmeckte. Die Käseherstellung mit Lab wurde dann zu einer bewährten Alternative zur Produktion mit eigens dafür gezüchteten Milchsäurebakterien. Durch dieses Enzym verdickt sich die Milch binnen 30 Minuten zu einer gallertartigen Masse, welche anschließend mit einem speziellen Schneideinstrument, der Käseharfe, zum Bruch zerkleinert wird. Die Zeit von der Labzugabe bis zum Schneiden wurde übrigens früher mit dem Aufsagen einer bestimmten Anzahl des "Vater Unsers" gezählt. Das Enzym Lab stammt zwar vorwiegend aus dem Magen von Kälbern, aber es gibt auch pflanzliches Lab, oder Lab aus dem Saft des Feigenbaumes, aus Labkraut, verschiedenen Distelarten und mikrobielle Labe (Schimmelpilze).

Schließlich und endlich wird auch der Schimmelkäse selbst seine Ursprünge im zunächst ungewollten mikrobiellen Befall bei der Lagerung haben. Dieser beeinträchtigt aber überraschenderweise weder Geschmack noch Gesundheit (was allerdings nicht bei jedem Schimmel der Fall ist!).

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Feinschmecker, die möglichst nah am Ursprünglichen sein möchten, dürfen somit beim Genuß dieses uralten Kulturguts nicht zimperlich sein. Angesichts solch uriger Methoden nun abwehrend die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen wäre Fehl am Platze, ist die geschmackliche Vorliebe doch stets eine Frage der Sozialisation: Diejenigen Lebensmittel, die einem von Kindesbeinen an vertraut waren, schmecken einfach am besten. Den gleichen Widerwillen könnte sonst auch das Essen von Krabben oder das Schlürfen von Austern hervorrufen - sofern man nicht daran gewöhnt ist. Und überhaupt: Weiß man denn genau, was in manchem steril verpackten, maschinell geformten und mit Farbstoffen geschönten, aber ansonsten undefinierbaren Lebensmittel wirklich drin ist?

13. Juli 2012