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DILJA/03: Headhunter ( 1) - Zerstörte Hoffnungen (SB)


HEADHUNTER

Teil 1: Zerstörte Hoffnungen

Science-Fiction-Story


Langsamen Schrittes ging Mike Rosefield die alte knarrende Holztreppe hinab. Als er die Haustür erreichte, hielt er kurz inne, denn er meinte hinter sich ein Geräusch gehört zu haben. Dann aber umfaßte er kurzentschlossen den Türgriff und trat auf die Straße hinaus. Unwillkürlich blinzelte er im hellen Tageslicht mit den Augen. Es kümmerte ihn wenig, ob sich im Treppenhaus jemand verbarg oder nicht. Wer so dilettantisch vorging, konnte ihm kaum gefährlich werden. Daß hier jeder seiner Schritte beobachtet wurde, war selbstverständlich und vermochte ihn in diesem frühen Stadium seiner Arbeit nicht zu stören.

Die kleine Seitenstraße in einem Wohnviertel Nijmegens, einer Stadt in den ehemaligen Niederlanden, war kaum befahren. Nur wenige Passanten waren in den frühen Nachmittagsstunden des 14. Mai 2013 unterwegs, ein paar Kinder spielten am Straßenrand. Mike ging achtlos an ihnen vorüber und steuerte auf seinen Wagen zu, einen Ferrari XS 3000. Er schlug den Mantelkragen hoch, denn mittlerweile hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt. Mit einer Beiläufigkeit, die ihm längst zur zweiten Natur geworden war, sah er sich um. Er machte ganz den Eindruck eines wohlsituierten Geschäftsmannes, den es - aus welchen Gründen auch immer - in diese recht karge und ärmlich wirkende Wohngegend verschlagen hatte.

Mit derselben Selbstverständlichkeit überprüfte er den Sitz seiner Special K-27, einer Spezialanfertigung der Firma Smith & Wesson. Keiner der wenigen vorübereilenden Menschen würde später sagen können, er habe diesen Mann hier zu diesem Zeitpunkt gesehen. Das lag zum einen an dessen dezenter Unauffälligkeit und zum anderen auch daran, daß die Bewohner dieser Mietshäuser genug mit ihren eigenen Sorgen zu tun hatten. Unmerklich hatten sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren die Gepflogenheiten verändert. Längst war es hier nicht mehr üblich, daß Nachbarn sich grüßten. Wenn Menschen, manchmal ganze Familien, von einem Tag zum nächsten von der Bildfläche verschwanden - was immer mal wieder vorkam -, fragte niemand nach ihrem Verbleib.


*


In Corina, einer ca. 20 Kilometer nördlich von Padua gelegenen Kleinstadt, war seit drei Tagen Jahrmarkt. Auf dem im Inneren der Stadt gelegenen und normalerweise kaum belebten Rathausplatz herrschte ein heilloses Durcheinander. In der johlenden Menschenmenge bahnten sich Sergio und Clarissa Lampurtini mühsam ihren Weg. Ohrenbetäubender Lärm drang von einem Doppel-Looping zu ihnen hinüber und mischte sich mit den aus einer Multimedia- Horrorshow kommenden spitzen Angstschreien. Die Hitze des Tages hatte zwar etwas nachgelassen, dennoch blieb ihnen in dem dichten Gedränge kaum Luft zum Atmen.

Bei einem Autoscooter herkömmlicher Bauart war nicht ganz so viel los, dafür war der Syntho-Rock hier umso durchdringender. Der 43jährige Europäer italienischer Abstammung sah seine Frau verzweifelt an und wußte nicht recht, wie er anfangen sollte. Es würden so folgenschwere Worte sein wie nie zuvor. Zudem war es so laut, daß sie sich kaum verständigen konnten; doch gerade darin mochte ihre Chance liegen, der Akustiküberwachung zu entgehen.

"Nun sag schon, was los ist", forderte Clarissa ihren Mann auf, die sehr wohl bemerkt hatte, daß Sergio etwas auf dem Herzen hatte. Es entsprach auch so gar nicht seinen Gewohnheiten, einen Jahrmarktsbummel vorzuschlagen.

"Ich habe heute den Tip bekommen, daß unsere Wohnung übermorgen geräumt wird", sagte Sergio mit gepreßter Stimme und hoffte inständig, sie würde ob dieser Nachricht nicht die Fassung verlieren.

"Also doch", murmelte Clarissa, die nicht im mindesten überrascht zu sein schien, "das war ja vorherzusehen. Wir können froh sein, daß uns noch soviel Zeit bleibt."

"Deshalb wollte ich hier mit dir reden", fuhr Sergio erleichtert fort. "Ich habe Gerüchte gehört von Leuten, die in die Dürrezone geflohen sind. Natürlich kann es keine Nachrichten geben, ob sie überlebt haben und wie es ihnen dort ergangen ist. Aber das spielt für uns eigentlich keine Rolle, denn was uns hier blüht, ist ja klar ..."

"Hör bloß auf", schrie Clarissa ihm ins Ohr. "Denk doch nur an die Lucarnos, die an der Plaza del Grande wohnten! Verdammte Scheiße, ich hab' solche Angst."

Sergio nahm sie leicht am Arm. Sie gingen ein paar Schritte weiter, damit niemand auf sie aufmerksam würde. "Ich auch. Und deshalb habe ich mir gedacht, daß wir nicht warten, bis sie uns abholen. So wie's aussieht, wird uns hier niemand helfen, wir werden uns auch nicht verstecken können. Deshalb wollte ich dich fragen, was du davon hältst, wenn wir noch heute abend ..."

Und bei diesen Worten sah er sich noch einmal vorsichtig um, holte tief Luft und fing an, Clarissa die Einzelheiten seines Fluchtplans auseinanderzusetzen.


*


Der Koordinator lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Wie immer, wenn er gerade einen Auftrag erteilt hatte, überfiel ihn eine gewisse Nervosität - dann also, wenn die Würfel endgültig gefallen waren und die Ausführung nur noch eine Frage der Zeit war. Hinzu kam, daß er diesmal seinen besten Mann losgeschickt hatte. Jack Clifton zündete sich eine Zigarette an und sah gedankenversunken aus seinem Bürofenster.

Er wußte, daß das Sicherheits- und Überwachungssystem so präzise, unbestechlich und konsequent seiner Programmierung folgen würde, wie es kein Mensch je in der Lage wäre zu tun. Dennoch oblag es ihm allein, auf der Basis der ihm vorliegenden Fakten den in solchen Fällen ausschlaggebenden Impuls zu geben. Warum diese Aufgabe nicht ebenfalls vom System erledigt wurde, war ihm nie so recht klar geworden. Es gab jedoch niemanden, mit dem er solche Fragen hätte diskutieren können. Zwar konnte er von Xavier, der zentralen Recheneinheit des Sicherheitssystems, alle verfügbaren Daten abrufen, doch mit dem Computer eine Diskussion über Sinn und Zweck seiner Programmierung zu führen, überstieg dann doch dessen Kapazitäten.

Wenngleich der Koordinator solche Aufträge gewissenhaft erteilte, verschaffte ihm diese Arbeit keinerlei innere Befriedigung. Sein leichtes Unbehagen wurde dadurch wieder wettgemacht, daß er von ihrer Sicherheitsrelevanz und deshalb unumstößlichen Notwendigkeit überzeugt war. Gern tat er es jedoch nicht.

Bis die Vollstreckungsmeldung dieses Auftrags eingehen würde, mochte noch einige Zeit vergehen. Mit einem Kollegen hätte er immerhin wetten können, wie lange Mike wohl diesmal brauchen würde. Aber so, wie die Dinge nun mal lagen, wußte außer dem Hunter und ihm kein Mensch etwas über diese Angelegenheit.

Nicht zuletzt aufgrund seines eigenen Sicherheitsbedürfnisses hatte der Koordinator es bislang tunlichst vermieden, den Headhuntern ihre Jobs persönlich zu übergeben - und das galt in besonderem Maße für Mike. Dieser Mann war wirklich unberechenbar und irgendwie unheimlich; Jack würde ihn nicht zum Feind haben wollen. Bisher war es ihm ein Rätsel geblieben, wie dieser Typ es fertigbrachte, sich der gezielten Überwachung immer wieder zu entziehen - mal für ein paar Stunden, manchmal sogar über mehrere Tage. Noch hatte das Überwachungsystem ihn im Visier und hätte jederzeit darüber Auskunft geben können, wo Mike sich gerade aufhielt und was er tat. Aus langjähriger Erfahrung wußte Jack allerdings, wie schnell sich das ändern konnte.

Um 14.53 MEZ hatte HY-C05 - so Mikes systeminterne Codebezeichnung - den Auftrag angenommen. Clifton wußte, daß das Leben der Zielpersonen von diesem Moment an keinen Pfifferling mehr wert war; ganz egal, was sie in ihren letzten Stunden oder Tagen noch unternehmen mochten. Seines Wissens nach - und als Koordinator der Verwaltungsregion Beta-Nord konnte er das sehr wohl beurteilen - war Mike der einzige Headhunter mit einer hundertprozentigen Erfolgsquote.


*


Clarissa schlenderte durch das Lebensmittel-Verwaltungscenter und bemühte sich, einen unbeteiligten oder gar gelangweilten Eindruck zu machen. Zuerst holte sie für sich und ihren Mann die Tagesrationen an Brot- und Milchersatzstoffen an der dafür vorgesehenen Ausgabestelle ab. Wie üblich herrschte hier eine rege Betriebsamkeit, doch länger als zehn Minuten mußte sie nicht warten. Der nächste Schritt war schwieriger, denn wie sollte sie soviel Lebensmittel wie möglich einkaufen, ohne dabei das Limit zu überschreiten?

Seit über zehn Jahren wurden alle Nahrungsmittel rationiert, dennoch gab es einen gewissen Spielraum. Hin und wieder konnte man bei Konserven sogar zwischen verschiedenen Geschmackssorten wählen. Die jeweils zugestandenen Lebensmittelmengen variierten ständig; so häufig, daß man unmöglich die jeweils gültigen Zahlen im Kopf haben konnte. Wer das Limit jedoch überschritt, konnte sehr schnell Schwierigkeiten bekommen. Ohnehin war es ihr bislang ein Rätsel geblieben, nach welchen Kriterien die Verwaltungsbehörden eigentlich vorgingen. Bei denselben Einkaufsmengen konnten zwei Kunden unterschiedlich behandelt werden - der eine wurde aufgegriffen, der andere konnte unbehelligt passieren.

Die Lampurtinis hatten sich auf dem Jahrmarkt nicht die Zeit genommen, die Einkaufsmengen genau zu besprechen. Deshalb mußte Clarissa sich nun auf ihren Instinkt verlassen, womit sie bislang recht gut gefahren war. Doch heute war eben nicht ein Tag wie jeder andere. Clarissa schob den Einkaufswagen vor sich her, den sie aus lauter Gewohnheit mit den üblichen Mengen füllte. Ihre Risikobereitschaft war mittlerweile auf Null gesunken, wußte sie sich doch von Kameras und Mikrophonen umgeben. Mit schweißnassen Händen drehte sie ihre Kennkarte in der Jackentasche hin und her. Sie konnte sich nicht sicher sein, ob ihr Notkredit noch so weit offen war, um die paar Lebensmittel - außer 50 g Käse, Kartoffeln, einem Pfund Rüben, ein paar Konserven und einer Dauerwurst hatte sie nichts eingesteckt - abzudecken.

Nichts wäre schlimmer, als an diesem Abend wegen Kreditüberziehung festgehalten zu werden. Mit wackeligen Knien steuerte sie auf die Buchungsstelle zu, denn jedes weitere Verweilen oder Zögern hätte als Verhaltensanomalie registriert werden können. Nachdem die Kassiererin die Waren schweigend gescannt hatte, schob sie Clarissas Kennkarte in den Verrechnungscomputer. Augenblicklich erscholl ein durchdringender Warnton, der Geschäftsführer sprang im nächsten Moment hinzu und ergriff Clarissa am Arm, die mit einem Schlag totenbleich geworden war.


*


Knapp drei Stunden später erreichte Mike die Rue Pascal in der Brüsseler Innenstadt. Nachdem er seinen Ferrari im Parkdeck eines Kaufcenters abgestellt hatte, schlenderte er auf das Sicherheitshauptamt zu. Hier gingen so viele Angestellte und Beamte ein und aus, hier und da auch einige Bittsteller, daß Mike keinerlei Aufsehen erregte. Zielstrebigen Schrittes durchquerte er die riesige Eingangshalle und steuerte die im hinteren Bereich gelegene Sicherheitszone an. Dort war es sehr ruhig. Die wenigen Menschen, die sich hier überhaupt aufhielten, waren unschwer als Security Guards zu erkennen, obwohl sie keine Uniformen trugen.

Seufzend näherte Mike sich einer der unscheinbaren Türen. Liebend gern hätte er sich diesen in seinen Augen unnötigen Aufwand erspart. Eine Jagd, die schwierig oder gar aussichtslos zu sein schien, reizte ihn ganz besonders. Doch er durfte den Bogen nicht überspannen. Seine Auftraggeber, dessen war er sich gewiß, erwarteten von ihm, daß er von dem reichhaltigen Informationsangebot auch Gebrauch machte. Mike befürchtete insgeheim, so viele Anhaltspunkte vorzufinden, daß dieser Job ein Spaziergang werden würde. Andererseits wußte er, daß mit diesen Leuten nicht zu spaßen war. Wenn ihnen etwas unverständlich oder gar unheimlich war, könnte das sogar für ihn unter Umständen gefährlich werden.

Bevor er den Fahrstuhl für den internen, das heißt öffentlich nicht zugänglichen, Bereich betreten konnte, mußte er sich in einem Vorraum der Überprüfung seiner Individualgehirnwellenmuster unterziehen. Seine Kennkarte identifizierte ihn zwar als einen der sehr wenigen Vollzugangsberechtigten. Doch die Null-Level- Karte allein reichte nicht aus, um die im obersten Stockwerk gelegene Nervenzentrale des Sicherheitshauptamtes zu betreten. Kaum ein Mensch ahnte etwas von der Existenz dieses Null-Levels, wie auch nur wenige überhaupt etwas vom A- und B-Level wußten. Obwohl diese Verwaltungsinterna keiner ausdrücklichen Geheimhaltung unterlagen, war in der Öffentlichkeit nichts darüber bekannt. In Informationssendungen und Medienreportagen wurde über solche Details der vor fünfzehn Jahren neuinstallierten weltweiten Verwaltungsordnung einfach nicht berichtet.

Als der Gehirnwellenscanner Mikes Identität als Null- Kartenträger bestätigt hatte, durfte er endlich passieren. Von zwei bewaffneten Sicherheitsoffizieren, die argwöhnisch jeden seiner Schritte beäugten, einmal abgesehen, war die hinter diesem Vorraum gelegene Sicherheitsschleuse menschenleer. Und es war mucksmäuschenstill. Im schallisolierten Fahrstuhl erreichte Mike schließlich das 20. Stockwerk, wo nur das leise Summen der Klimaanlage die Stille unterbrach. Hier oben hatte er noch niemals, in all den Jahren nicht, einen einzigen Menschen angetroffen.

Schon unzählige Male, genaugenommen vor jedem Auftrag, war der Headhunter hier oben gewesen. Längst hatte er es aufgegeben, sich über den Aufwand zu wundern, den man mit der Erteilung dieser Jobs betrieb. Warum wurde er nicht gleich hierherbestellt, um einen neuen Auftrag und die dazugehörigen Informationen in Empfang zu nehmen? Da seine Auftraggeber, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte, gewiß nichts ohne Grund taten, ließ sich das eigentlich nur mit derem enormen Sicherheitsbedürfnis erklären.

Daß er seine Waffe nicht abzulegen brauchte, hatte ihn anfangs leicht irritiert. Eine recht banale Erklärung mochte sein, daß er hier gar keinen Schaden hätte anrichten können, weil alles aus schußsicherem Material bestand. Hätte er von seiner Schußwaffe Gebrauch gemacht - und davon war Mike überzeugt -, er wäre nicht lebend aus diesem Trakt herausgekommen. Doch über solche Fragen hatte er sich bislang nur am Rande Gedanken gemacht. Wozu sollte er sich über die offenkundig etwas merkwürdigen Begleitumstände dieser Jobs den Kopf zerbrechen, wenn er doch gutes Geld verdiente - soviel wie sonst nirgends.

Er mußte grinsen, als er den schlichten Hinweisschildern zu besagtem `Informationsbüro' folgte. Der Begriff `Geld verdienen' war nämlich genauso antiquiert wie manch andere auch, die er mit einem gewissen Trotz nach wie vor verwendete. Sein Persönlichkeitsdiagramm würde auch diesen Hang zur Querulenz aufweisen, doch das tat nichts zur Sache. Besondere Aufgaben erforderten eben auch besondere Qualitäten - und seine Jobs waren schon immer ganz `besondere Aufgaben' gewesen.


*


Stirnrunzelnd sah sich Sergio Lampurtini in seiner kleinen Keller- Werkstatt um. Er grübelte einerseits darüber nach, welche Werkzeuge, Meßinstrumente und Ersatzteile er brauchen würde, um seinen aus Verzweiflung geborenen und im Kern aberwitzigen Plan auszuführen. Auf der anderen Seite konnten sie ihren Wagen, einen Fiat Fitore, auch schlecht in die mobile Werkstatt eines Hochenergie-Monteurs verwandeln - da würden sie nicht weit mit kommen. Diese beiden Aspekte waren indes kaum miteinander in Einklang zu bringen, und einen goldenen Mittelweg gab es nicht.

Sergio wischte sich den Schweiß von der Stirn, dabei war es in der kleinen Kammer angenehm kühl. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, er mußte sich so oder so entscheiden - und das bei einer Frage, die im wahrsten Sinne des Wortes lebenswichtig sein konnte. `Ich darf mich jetzt nicht kirre machen lassen, ich tu' einfach mal so, als wär' das ein ganz normaler Reparaturauftrag', murmelte Sergio vor sich hin in dem vergeblichen Bemühen, sich Mut zu machen.

Der 43jährige ehemalige Hochenergie-Ingenieur riß sich zusammen und packte eine Mindestmenge an Werkzeugen, Instrumenten und Materialien ein. Wenn keine unerwarteten Schwierigkeiten auftauchten, würde dies zwar ausreichen, aber wann gab's das schon mal? Auf der anderen Seite konnte er nicht gegen jede denkbare Komplikation Vorsorge treffen. Die Risiken mußten sorgsam gegeneinander abgewogen werden, damit sie nicht am Ende scheiterten, nur weil eine Lüsterklemme fehlte.

Ein Blick auf die Uhr, und Sergio wußte, daß ihm nur noch zehn Minuten blieben, wollte er den Zeitplan nicht gefährden. Heute abend noch würden sie ihre Wohnung, ihre vertraute Umgebung, ihre Heimat verlassen - und zwar für immer. Der seit zehn Jahren arbeitslose Ingenieur packte kurzentschlossen noch ein paar kleinere Ersatzteile und zwei Meter Hyperkabel ein und sah sich noch ein letztes Mal in seiner Hobbythek um. Er widerstand erfolgreich der Versuchung, noch einmal alles aufzuräumen und Abschied zu nehmen. Schließlich sollte die Wohnung so aussehen, als wären sie nur mal auf einen Sprung ins Viertel gegangen oder vielleicht ins Kino. Sergio ließ noch einmal wehmütig den Blick über all die ihm so liebgewordenen Utensilien schweifen; schließlich hatte er hier viele, viele Stunden damit verbracht, an technischen Problemen zu tüfteln.

Nun dachte er mit Grauen an die Zukunft, die so ungewiß war wie nie zuvor. Was in den nächsten Stunden oder gar Tagen sein würde, konnte er unmöglich voraussehen. Sergio zog diese Unabsehbarkeit allemal der Gewißheit vor. Es ging ums nackte Überleben, und ihre Chancen lagen im Grunde bei Null. Doch solange sie noch `on the run' waren, war ihr Schicksal nicht besiegelt. Bislang allerdings waren sie noch nicht einmal losgefahren! Wäre er religiös gewesen - er hätte sich nicht geschämt, sich an seinen Schutzpatron zu wenden oder gar zu beten. Doch er war seit langem desillusioniert genug, um zu wissen, daß Clarissa und er ganz auf sich allein gestellt waren.

Als er aus dem Keller wieder heraufkam und die kleine Zwei- Zimmer-Wohnung betrat, wußte er sofort, daß seine Frau noch nicht zurückgekehrt war. Dabei war es schon Viertel nach fünf. Was mochte geschehen sein, weshalb hatte sie sich verspätet? Sergio ging nervös im Zimmer auf und ab und spähte vorsichtig aus dem Fenster, um die Straße zu überblicken. Da er sie nirgends entdecken konnte, überlegte er, ob er ihr ins Geschäft folgen oder hier auf sie warten wollte.

Eine panische Angst befiel ihn, daß Clarissa nicht mehr wiederkommen würde. Seit vielen Jahren verschwanden Menschen sang- und klanglos, von einem Tag auf den nächsten, und tauchten nie wieder auf. Dafür mochte es vielerlei Gründe geben, sie könnten einem Verbrechen oder Unfall zum Opfer gefallen sein, einen Herz- oder Schlaganfall erlitten haben oder sonst etwas Erklärbares ... so jedenfalls die offiziellen Verlautbarungen. Doch daran glaubte wohl niemand mehr, denn in solchen Fällen hätten doch zumindest die Leichname gefunden werden müssen. Die allermeisten Menschen verschwanden, ohne daß ihr Schicksal je aufgeklärt wurde.

In den ersten Jahren nach der Großen Verwaltungsreform hatten sich noch manche Verwandte, Nachbarn, Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen an die Behörden gewandt, doch diese Nachforschungen waren immer im Sande verlaufen. Mehr als ein paar hinhaltende Floskeln und nichtssagende Antworten hatte keiner je zu hören bekommen. Und inzwischen war das Interesse an solchen Fragen erlahmt, denn wer konnte schon sicher sein, ob nicht ein allzu hartnäckiges Nachfragen der eigenen Gesundheit abträglich sein könnte? Wie eine stillschweigende Übereinkunft lag dieses Tabu, dieses Schweigen, auf der Bevölkerung der norditalienischen Kleinstadt.

Auch großangelegte Suchaktionen, von privater Seite in den ersten Jahren initiiert, mit Vermißtenanzeigen in Presse und Rundfunk, hatten nie zu konkreten Hinweisen geführt. Ja, es wäre sogar ein recht schwieriges Unterfangen gewesen, daß Ausmaß dieses `Menschenverschwindens' genau zu beziffern, denn offizielle Statisiken waren nicht verfügbar, und in den Medien tauchte dieses Thema, von vereinzelten Suchanzeigen einmal abgesehen, überhaupt nicht auf. Tatsächlich gab es kaum einen Bewohner, der nicht direkt oder indirekt betroffen war; entweder, weil ein ihm nahestehender Mensch zu den Verschwundenen gehörte oder weil er jemanden kannte, in dessen Bekanntenkreis es einen oder gleich mehrere Vermißte gab.

Die Erklärungen - wollte man nicht an UFOs glauben, was vor ein paar Jahren einige Wissenschaftler ernsthaft diskutiert hatten -, waren so ungeheuerlich wie naheliegend und hatten in kürzester Zeit zu einem Klima der Angst und des Schweigens geführt. Inzwischen wurde um dieses Verschwinden kein Aufhebens mehr gemacht, die Hinterbliebenen zogen sich nur noch mehr in sich zurück und gingen mit einer im Grunde unheimlichen Gleichmütigkeit zur Tagesordnung über. Oft war es so, als hätte es den Verschollenen nie gegeben, als wäre seine Existenz von einem Moment zum nächsten so vollständig ausgelöscht worden, daß nicht einmal in den Gesprächen und Träumen früherer Freunde oder Familienangehöriger eine Erinnerung blieb.

Sergio wußte genau, daß es nicht anders sein würde, wenn Clarissa und er für immer und ewig aus diesem Haus verschwinden würden. So ungewiß und unvorhersehbar ihre Zukunft auch sein mochte - eines war gewiß: Hierher könnten sie niemals zurückkehren, selbst dann nicht, wenn ihnen ihr aberwitziges Vorhaben gelingen sollte.


*


Der Geschäftsführer baute sich vor Clarissa auf. "Es tut mir leid, Frau Lampurtini, aber die Sicherheitsbehörden werden gleich eine Eskorte schicken, um Sie zur Überprüfung ins Ordnungshauptamt zu bringen. Bis dahin bin ich für Sie verantwortlich, also machen Sie keine Sperenzien. Sollte sich Ihre Kontoüberziehung als Buchungsfehler herausstellen, haben Sie nichts zu befürchten, und wenn nicht", fügte er mit einem süffisanten Lächeln hinzu, "haben Sie sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben". Clarissa wußte, daß es keinen Zweck hatte, mit diesem Menschen zu diskutieren oder ihn gar zu bitten, sie doch einfach laufenzulassen. Dennoch galt es, in dieser Situation die Nerven zu behalten, wollte sie nicht von vornherein ihren verzweifelten Plan zum Scheitern verurteilen. Verstohlen sah sie auf ihren Handchronometer. Es war schon zehn nach fünf, sie war längst überfällig. Inständig hoffte sie, Sergio möge zu Hause bleiben, denn hier könnte er ihr ebensowenig helfen wie sie sich selbst. `Ebensowenig wie ich mir selbst?', sann sie über ihren letzten Gedanken nach, `das wollen wir doch mal sehen.'

"Wie kommen Sie darauf, daß ich mir Sorgen mache?" Mit diesen Worten wandte sie sich an den Geschäftsführer. "Für mich ist es nur ärgerlich, diese Überprüfung abzuwarten. Schließlich habe ich heute abend Spätschicht und wollte bis dahin noch einiges erledigen", fügte sie so selbstsicher, wie sie eben konnte, hinzu. Jählings durchzuckte sie eine wahnwitzige Idee, und ohne zu zögern holte sie mit ihrer Einkaufstasche Schwung, um sie ihrem Gegenüber an den Kopf zu schleudern. An der Schläfe mußte sie ihn getroffen haben, denn er sank benommen in seinen Schreibtischsessel nieder. Sie sprang auf ihn zu, betätigte an der Konsole einige Tasten - und die elektronisch gesteuerte Außentür glitt geräuschlos auf. Ohne sich noch einmal umzusehen, rannte sie auf die Straße hinaus.


*


Nachdem Mike die letzte Überwachungsprozedur an der für ihn vorgesehenen Zugangsstelle zum internen Informationsnetz hinter sich gebracht hatte, konnte er endlich mit der Arbeit beginnen. Seit Jahren kam es ihm so vor, als wäre dieser extrem ungemütliche und fensterlose Raum extra für ihn eingerichtet worden. Besonders logisch war diese Annahme allerdings nicht. Zwar hatte er hier niemals eine einzige Menschenseele angetroffen - nicht einmal einen simplen Reinigungsrobot -, doch das ließ eigentlich keine Rückschlüsse darüber zu, was hier in der Zwischenzeit geschehen mochte. Mike wußte um seinen Hang zur Irrationalität, den er sich in Situationen wie dieser durchaus zugestand.

Kahle Wände, ein nackter Schreibtisch, ein Lesegerät mit Tastatur - das war alles, was diese Kammer zu bieten hatte. Auch der in einem blassen Grau gehaltene Teppichboden vermochte an diesem öden Outfit nichts zu ändern. Mike war sich darüber im klaren, daß diese Wirkung gezielt eingesetzt wurde, um auch solche Handlager wie ihn fühlen zu lassen, mit wem sie es hier zu tun hatten.

Daß er nicht der einzige seiner Art war, ließ sich schon aus dem Umfang der zu bewältigenden Aufträge schließen; er konnte unmöglich der einzige Aufräumer sein. Doch noch nie hatte sich ein anderer `Nuller' ihm gegenüber zu erkennen gegeben; ebensowenig, wie er es je tun würde. Dennoch gab es so etwas wie einen Ehrenkodex unter Headhuntern, der im wesentlichen zum Inhalt hatte, sich niemals und keinen Umständen von der Ausführung eines einmal angenommenen Jobs abhalten zu lassen. Und ohne daß Mike jemals mit einem Kollegen in Kontakt getreten wäre, wußte er, daß jeder Hunter es als persönliche Ehrverletzung ansehen würde, sollte ein Unbeteiligter ihm bei der Vollstreckung zuvorkommen.

Mike ließ sich am Schreibtisch nieder und aktivierte die Syntronanlage. Ein klein wenig neugierig war er nun schon auf das Profil der Zielpersonen, wenngleich er wußte, daß die Informationserfassung und -wiedergabe bei aller Ausführlichkeit ihre systemimmanenten Schwächen hatte und immer haben würde.

Ihn interessierten die Details nur in bezug auf die Frage, ob er wohl diesmal auf einen annähernd gleichwertigen Gegner treffen würde. Würden die Zielpersonen ihm und seinen Methoden zumindest im Ansatz etwas entgegenzusetzen haben? Wenn nicht, könnte der Reiz der Jagd für ihn nur noch darin bestehen, die Zeitspanne bis zur Vollstreckung aufs Minimum zu reduzieren und einen neuen persönlichen Rekord aufzustellen. Dieser sportliche Ehrgeiz half ihm, sich die Zeit zu vertreiben; eine tiefere Befriedigung konnte er sich damit nicht verschaffen.

Daß er sich überhaupt die Mühe machte, seine Rekorde zu verzeichnen, rechnete Mike ebenfalls seiner irrationalen Ader zu, denn genaugenommen waren die Aufträge nicht vergleichbar. Die Dauer hing ganz einfach davon ab, wie weit der Aufenthaltsort der Zielpersonen von dem seinem entfernt lag bzw. von dem Aufwand, der erforderlich war, um deren Spur aufzunehmen. Ob die Opfer sich in der Todeszone aufhielten oder nicht, spielte dabei noch nicht einmal eine wesentliche Rolle, denn er bewegte sich auf beiden Seiten mit derselben Effizienz und Zielstrebigkeit.

Von seinem neuesten Auftrag wußte er bislang nur, daß es sich um einen ehemaligen Hochenergieingenieur und dessen Frau handelte, die wohl im Begriff standen, sich dem - wie es so treffend hieß - `ultimaten Verwaltungszugriff' zu entziehen. Sollte dieser Mann technisch versiert sein, bestand zumindest die vage Hoffnung, daß es eine interessante Jagd werden könnte.

Das Informationssystem hielt eine wahre Datenflut für ihn bereit. Das meiste war allerdings für seine Zwecke unbrauchbar: die vollständigen Lebensläufe der beiden Zielpersonen, sämtliche schulischen Daten, alle Krankenakten sowie Ergebnisse gesundheitsamtlicher Untersuchungen, ein detailliertes und breitgefächertes Psychogramm mit Persönlichkeitsprofil, Charakterstudien und Verhaltensdiagramme; weiterhin Akten zur außerschulischen Ausbildung und dem beruflichen Werdegang, dann zum Freizeitverhalten sowie sonstigen Aktivitäten und Interessen. Solche Akten hatte Mike schon zu Hunderten studiert. Anfangs hatte ihn die akribische Sammelwut der Überwacher fasziniert, doch mittlerweile langweilten ihn diese Berichte, zumal er längst die Erfahrung gemacht hatte, daß der durch diese Fülle und Komplexität erweckte Eindruck, das Verhalten der Zielpersonen sei berechen- und vorhersagbar, nicht mehr als ein bloßes Versprechen darstellte.

Es kostete ihn einiges an Geduld, die wesentlichsten Files wenigstens zu überfliegen. Ihm war klar, daß er sonst die Aufmerksamkeit des Systems auf sich lenken würde, das er als zweischneidiges Schwert empfand. Denn über die bloße Informationsvermittlung hinaus - und daran hegte er keinen Zweifel - erfüllte das System den Zweck, jeden seiner Schritte zu beobachten, seine Tätigkeiten und Vorgehensweise zu kontrollieren und unter Überwachung zu halten. Selbstverständlich würde registriert und ausgewertet werden, welche Dateien er abfragte und wie lange er sie einsah. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und die Aufzeichnungen über Telefonate, über in Wohnungen wie auch im Freien geführte Gespräche, über tägliche Auto- sowie Urlaubsfahrten wenigstens zu sichten; fast sämtliche Aktivitäten und Lebensumstände der Zielpersonen, bis in Kindheitserlebnisse hinein, standen ihm zur Verfügung.

Nach einer guten Stunde hatte Mike endgültig die Nase voll; er verließ kurzentschlossen das Programm, zog seine Kennkarte heraus, stand auf und eilte hinaus. Er wußte, was er wissen wollte und hatte es nun eilig, das Sicherheitshauptamt zu verlassen. Sein Jagdinstinkt war erwacht, und das bedeutete vor allem, daß er keine Zeit mehr verschwenden wollte.


*


Clarissa sah sich wie gehetzt auf der Straße um. Um Himmels willen, was nun? Sie eilte in die nächste Seitenstraße hinein und steuerte auf eine kleine Parkanlage zu. Ein älterer Mann saß auf einer Parkbank, ein kleines Mädchen spielte in seiner Nähe, es mochte seine Enkelin sein.

Fieberhaft überlegte Clarissa, ob sie es wagen konnte, noch einmal in ihre Wohnung zurückzukehren. Würde sie Sergio damit gefährden? Andererseits konnte ihrer beider Lage kaum noch schlimmer werden, und wie sie ihren Mann einschätzte, würde er nicht ohne sie losfahren. Also mußte sie so schnell wie möglich nach Hause, denn früher oder später, wohl eher früher, tauchten Fahndungsbeamte dort auf, um sie festzunehmen. Sergio würden sie auf jeden Fall mitnehmen, und sei es, um sie unter Druck zu setzen. Sollte noch eine gewisse Restchance einer nie existierenden Fluchtmöglichkeit bestehen, konnte sie nur im schnellstmöglichen Aufbruch liegen.

Als Clarissas Blick den des älteren Mannes kreuzte, wandte sie sich sofort ab. Sicherlich standen ihr Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben, und da konnte ihr jeder Passant zum Verhängnis werden, der auf sie aufmerksam wurde. Sie wandte sich zügigen Schrittes dem Parkausgang zu, und noch während sie sich bemühte, einen übereiligen Eindruck zu vermeiden, hörte sie, wie der alte Mann das kleine Mädchen zu sich rief und ebenfalls aufbrach.


*


Auf der EURO-2, einer Autobahn, die quer durch Europa vom ehemaligen Dänemark bis in die Region Norditalien reichte, raste Mike mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 230 km/h dahin. In einer knappen Stunde würde er Corina erreicht haben, denn was lag näher, als die Fährte der Gesuchten an ihrem letztbekannten Aufenthaltsort aufzunehmen. Bislang waren siebeneinhalb Stunden vergangen, seit er in Nijmegen den Auftrag erhalten hatte. Der Abstecher nach Brüssel hatte doch viel zu viel Zeit gekostet.

Die Fahrt auf der kaum befahrenen Schnellstrecke ermüdete seine Augen, zumal sein Fahrvermögen kaum beansprucht wurde. Diese Straße war im Verhältnis zu den Autobahnen des 20. Jahrhunderts stark begradigt, die angrenzende Landschaft egalisiert. Selbst von den Alpen nahm der Fahrer kaum etwas wahr, was allerdings ebenso gut an den niedrighängenden Nebelbänken liegen konnte.

Als der Signalgeber seines Autocom ein Null-Gespräch anmeldete - also eins, das ihn in seiner Identität als Headhunter betraf und deshalb striktester Geheimhaltung unterlag -, war Mike mit einem Schlag hellwach. In seiner bisherigen Laufbahn hatte es solche Gespräche nur in Ausnahmefällen gegeben, wenn etwa ein bereits erteilter Auftrag nachträglich noch leicht modifiziert werden sollte. Normalerweise gab es zwischen Auftragserteilung und Vollzugsmeldung keinerlei Kontakte zwischen ihm und der Koordinationsstelle.

Mike stellte den Com auf akustische Wiedergabe, und eine wohlmodulierte Synthesizer-Stimme erklang im Innern des Wagens: "Mitteilung an HY-C05. Nach Sicherheitsstufe X-Alpha ist jede unautorisierte Wahrnehmung auszuschließen ..." Mike seufzte, denn die umständlichen Verwaltungswege waren ihm zuwider. Hätte sich eine, wie es so schön hieß, `unautorisierte Person' im Wagen befunden hätte, wäre die Akustikwiedergabe nie erfolgt. Das System sorgte in perfider Weise für die eigene Sicherheit, die an Verfolgungswahn erinnern würde, wenn es sich um einen Menschen gehandelt hätte. Mike ließ den weiteren Text an sich vorbeirauschen und wurde erst wieder hellhörig, als es endlich zur Sache ging:

"... wird hiermit mitgeteilt, daß Zielperson Beta zur regulären Fahndung ausgeschrieben wurde aufgrund des Verdachts mehrerer Straftaten, in numerischer Aufzählung: 1. Schwere Körperverletzung, da die Verdächtigte einen öffentlichen Angestellten mit einer Waffe angriff und schwer verletzte, 2. Privatkreditüberziehung, da die Verdächtige in betrügerischer Absicht versuchte, Waren ohne ausreichende Kreditverfügung zu erstehen, 3. Entziehung vor dem administrativen Verfügungszugriff, indem sie im Anschluß an die ihr in 1. und 2. zur Last gelegten Straftaten sich den Ermittlungsbehörden entzog, des weiteren ..."

Mike stellte den Ton leiser, denn er hatte fürs erste genug gehört. Ihm war klar, daß es in Corina Schwierigkeiten geben würde. Daß sein Auftrag gegenüber sämtlichen Verwaltungs- und Strafverfolgungsbehörden absolute Priorität genoß, nützte ihm paradoxerweise in solchen Fällen wenig. Die Geheimhaltungsstufe des Null-Levels brachte es nämlich mit sich, daß außer seinen Auftraggebern - eben jener mysteriösen Koordinationsstelle - niemand, keine einzige Behörde des vielschichtigen Verwaltungsapparats, etwas über seine Existenz, seine Funktion oder seinen Auftrag wußte oder wissen durfte. Die Fahndungsmaschinerie würde also anlaufen, ungeachtet dessen, daß für diese Zielperson längst eine andere Endlösung vorgesehen und in die Wege geleitet war.

Dieser hohe Geheimhaltungsgrad mochte wohl auch der Grund dafür sein, daß die Koordinationsstelle in solchen Fällen nicht aus eigener Initiative die Verwaltungstätigkeit niederer Behörden unterband. Mike mußte also damit rechnen, daß ihm eine Meute Fahnder und Kriminalbeamter ins Handwerk pfuschten und womöglich sogar wertvolle Spuren in der Wohnung der Gesuchten vernichteten.


*


Jack Clifton schlenderte über den Narotow-Boulevard der Brüsseler Altstadt. Seit drei Tagen war er zum ersten Mal wieder draußen, um frische Luft zu schnappen und einen Cappuccino in einem der vielen Strafencafés zu trinken. Meistens blieb der Koordinator bis zur Ausführung eines solchen Auftrags in seinem Büro- und Wohntrakt, doch eine unumstößliche Notwendigkeit war das nicht. Über seinen am Armband befestigten Minicom war er direkt mit dem Sicherheitssystem verbunden, so daß er jederzeit erreichbar war. Seine übrigen Tätigkeiten bestanden aus Routineaufgaben, die `Überwachung der Überwacher', wie er sie spaßeshalber nannte, die seine ständige Anwesenheit ebenso wenig erforderten. Jack blinzelte mit den Augen, denn die fahle Frühlingssonne warf ein unangenehm gleißenden Licht.

Der Koordinator sah sich um, ohne auf die vielen Passanten zu achten. Schließlich schlenderte er auf ein kleines Café zu, in dem er schon oft seine `Mittagspause' verbracht hatte. Auf ihn und seine Arbeitsbedingungen traf dieser Begriff eigentlich nicht zu, denn es gab keinen Menschen, dem er rechenschaftspflichtig gewesen wäre, und keine Arbeitszeiten, die er einhalten mußte. Jack gab sich gerne den Anschein, als sei er einer der unzähligen Büro- und Bankangestellten, die neben den vielen Touristen um diese Zeit die Brüsseler Innenstadt bevölkerten. Ein Verwandlungskünstler brauchte er deswegen nicht zu sein, denn er entsprach voll und ganz dem Durchschnittstyp eines eher unscheinbaren, dezent gekleideten Mitteleuropäers mittleren Alters. Kaum daß Jack sich auf einem der im Halbschatten gelegenen Plätze seines Lieblingscafés niedergelassen und seinen obligatorischen Cappuccino bestellt hatte, sprach sein Minicom an.

Der Koordinator war einigermaßen überrascht, als er sah, daß es ein Gespräch auf der den Headhuntern vorbehaltenen Null- Leitung war. Was hatte das zu bedeuten? Für eine Vollzugsmeldung war es nun wirklich noch zu früh, so schnell konnte selbst Mike nicht sein, und sonst war keiner seiner Jäger im aktiven Einsatz. Kurz entschlossen nahm der Koordinator das Gespräch an. Die Bildwiedergabe ließ er desaktiviert, so daß der Miniaturbildschirm dunkel blieb. Und dann erklang eine Stimme, die er gerade in dieser synthetisch leicht verzerrten Form schon so oft gehört hatte:

"Hier HY-C05, Identifikation bitte bestätigen."

Ohne zu zögern, gab Jack seiner Neugier nach, stellte den Com auf Sprachwiedergabe und flüsterte ins Mikro: "Hier Zentrale 25-DX. Was gibt's?"

`Will der mich verarschen, der weiß doch ganz genau, was los ist', dachte Mike und runzelte die Stirn. "Wenn du die Geier nicht in zehn Minuten zurückgepfiffen hast, rühr ich keinen Handschlag mehr", sagte er leise und unterbrach die Verbindung, ohne eine Antwort abzuwarten.

Jack Clifton blieb gelassen, denn er hatte in dieser Hinsicht schon so einiges erlebt und wußte, was für schräge Typen diese Jäger waren. Nichtsdestotrotz stellte er sofort eine Verbindung zu seiner Zentrale her, und als er sich die entsprechenden Daten der letzten Stunde herausfiltern ließ, verstand er auch, was es mit diesem Anruf auf sich hatte.

(Ende des 1. Teils)


*


Wird den Lampurtinis ihre verzweifelte Flucht noch gelingen, oder werden sie bald verhaftet? Oder fallen sie, was wohl noch schlimmer wäre, dem Headhunter an Ort und Stelle in die Hände?

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 2: Vom Regen in die Traufe


Erstveröffentlichung am 13. Mai 1995

15. Dezember 2006