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DILJA/04: Headhunter ( 2) - Vom Regen in die Traufe (SB)


HEADHUNTER

Teil 2: Vom Regen in die Traufe

Science-Fiction-Story


Commissioner Adriano Capertino fluchte laut und vernehmlich, nachdem er das Urgent-Fax überflogen hatte. Was sollte das nun wieder heißen? Warum bloß pfuschten ihm diese Behördenhengste dauernd ins Handwerk? Seufzend lehnte er sich im Sessel zurück und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Es war schon zum aus der Haut fahren! Der 53jährige Polizeichef von Corina trug zwar die Verantwortung für die - wie es so schön heißt - "öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie die reibungslose Durchführung aller erforderlichen Verwaltungsmaßnahmen" in dem ihm unterstellten Verwaltungsbezirk, doch zugleich hatte er jedweden Befehl, der von oben kam, "unverzögert und widerspruchslos" zu befolgen. Ob und wie sich das mit seinen eigentlichen Aufgaben vereinbaren ließ, war natürlich allein sein Problem.

Mit beiden Händen fuhr sich Adriano Capertino durch sein schütteres und inzwischen leicht ergrautes Haar. Er dachte wie so manches Mal an die Zeiten zurück, als er tatsächlich noch der Herr über sein kleines Reich gewesen war oder sich doch zumindest so fühlen konnte. Alle Anstrengungen hatte er unternommen und keine Mühen gescheut, um das kleine norditalienische Touristenstädtchen sauber zu halten und gegen obskure Elemente vorzugehen. Nicht, daß ihm heute daran nicht mehr gelegen wäre; doch was nützte sein unermüdliches Engagement, der unerbittliche Einsatz seiner Leute im Kampf gegen die rapide anwachsende Kriminalität, wenn sie - wie in diesem Fall - sogar Gewaltverbrecher laufen lassen mußten?

Der Polizeichef von Corina wußte, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als seinen Groll und das milde Unverständnis solcher Anordnungen hinunterzuschlucken, und zwar `urgently'. Schon die Tatsache, daß diese Order ihn als Dringlichkeitsfax erreicht hatte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie von weit oben kam und deshalb oberste Priorität genoß.

"Francesco!" brüllte er in Richtung der offenstehenden Bürotür. Und als ob er schon im Flur gelauert hätte, tauchte sein persönlicher Adjudant augenblicklich im Türrahmen auf.

"Ja, Sir?" fragte Francesco, dem die Neugierde ins Gesicht geschrieben stand, denn natürlich ahnte er, daß etwas Unvorhergesehenes im Schwange war.

"In der Sache Lampurtini", teilte der Commissioner seinem Untergebenen mit unbeteiligter Miene mit, "werden sofort alle Maßnahmen abgebrochen."

"Abgebrochen?? Wieso das denn?" begehrte Francesco auf. "Außerdem wird das schlecht möglich sein, denn sämtliche Kommandos sind schon auf ihren Posten, das Haus ist umstellt. Diese dubiose Ingenieur kann uns gar nicht mehr entkommen, er sitzt in der Wohnung fest. Wir warten nur noch, bis uns diese Frau in die Falle läuft, und dann - schwupps - holen wir uns die beiden."

"Hast Du vielleicht schlecht gehört? Oder habe ich mich unklar ausgedrückt?" fragte der Commissioner mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme und fuhr dann in voller Lautstärke fort: "Du ziehst sofort alle Einheiten zurück! Und zwar ein bißchen dalli!! Und wenn ich sage `alle', dann meine ich alle, also die im Haus, auf den Straßen, im Supermarkt und wo auch immer du sie noch hingeschickt hast!"

"Aber Sir", versuchte Francesco, der sich so leicht nicht einschüchtern ließ, nun auf die weiche Tour, seinem Chef Paroli zu bieten. "Entschuldigen Sie meinen Widerspruch - ich verstehe nur nicht, warum wir sie uns nicht einfach abgreifen und ..."

"Seit wann verstehst du irgendetwas?" unterbrach Adriano Capertino seinen Adjutanten und baute sich vor ihm auf. "Die Lampurtinis sind tabu, hast du das endlich kapiert?!" Der Commissioner wollte nun seinen cholerischen Ausbruch nicht mehr länger hinausschieben, und so brüllte er: "Und jetzt raus! Mach, daß die Leute da verschwinden, sonst, sonst ..."

Francesco Borgio trat den taktischen Rückzug an, denn er kannte seinen Chef gut genug, um zu wissen, wann der Bogen endgültig überspannt sein würde. Doch seine insgeheim gehegten Zweifel an der Loyalität seines Vorgesetzten gewannen durch diese Szene neue Nahrung. Die Lampurtinis, so schien es, standen unter dem persönlichen Schutz seines Chefs, und dafür konnte Francesco keine Erklärung finden. Wem aber hätte er sich in einer solch heiklen Angelegenheit anvertrauen können?

Mit wuchtigen Schritten ging Adriano Capertino in seinem Büro auf und ab. Die erste Zorneswelle hatte er auf dem Haupt seines Adjutanten abgeladen, doch das verschaffte ihm nur für einen kurzen Moment Erleichterung. Dem Commissioner wäre es im Leben nicht eingefallen, seinem Untergebenen gegenüber offenzulegen, wie sehr ihm diese ganze Angelegenheit mißfiel. Durch diesen widersinnigen Befehl würden seiner Abteilung die saftigen Prämien entgehen, die ihr für die Ergreifung einer Schwerkriminellen eigentlich zustanden - und dabei war es schon schwierig genug, sich im trostlosen Polizeialltag die nötige Anerkennung zu verschaffen.


*


Mike hatte die Alpen hinter sich gelassen und konnte seinen Ferrari nun endlich voll ausfahren. In einer Viertelstunde würde er Corina, das heißt sein erstes und vielleicht auch letztes Etappenziel, erreicht haben. Sollten sich die Lampurtinis noch in ihrer Wohnung aufhalten, wäre dieser Job das reinste Kinderspiel. Er brauchte bloß hineinzuspazieren und zack - Ende. So einfach wäre das Ganze allerdings nur, wenn die örtlichen Sicherheitskräfte ihm dabei nicht in die Quere kämen.

Für einen kurzen Augenblick überließ der Headhunter die Steuerung des Wagens der Automatik. Eigentlich widersprach das seinen Gepflogenheiten, denn er verließ sich ungern auf technische Systeme. Doch er wollte in aller Ruhe noch einmal seine Waffen überprüfen, und dafür nahm er dieses kleine und doch schlecht kalkulierbare Risiko gern in Kauf.

Seine K-27, eine Spezialanfertigung der Firma Smith & Wesson, stand längst auf `letal', sein Kombimesser steckte wie immer im rechten Stiefelschacht. `Spezialanfertigung' klang noch recht harmlos, und äußerlich entsprach die K-27 durchaus einer der heutzutage gebräuchlichen automatischen Schnellfeuerwaffen. Doch das war Tarnung, denn in Hinsicht auf die damit erzielbare Wirkung suchte dieser Waffentyp vergeblich seinesgleichen. Sollte Mike eines Tages, unter welchen Umständen auch immer, auf einen Gegner mit einer vergleichbaren Schußwaffe treffen, würde es sich mit fast hundertprozentiger Sicherheit ebenfalls um einen Headhunter handeln. Das lag daran, daß die K-27-Waffen nur an `Nuller' - wie Mike die Träger des Null-Levels nannte - ausgegeben wurden und in ihrer Funktionsweise an deren Individualgehirnwellenmuster gebunden waren.

Mike Rosefield konzentrierte sich wieder auf die Straße und schaltete auf manuelle Steuerung. Seine Waffen waren in einwandfreiem Zustand, der Ausführung seines Auftrags stand von daher nichts im Wege. Skrupel hatte Mike schon lange nicht mehr, zumal er solche Jobs so blitzschnell ausführte, daß den Betroffenen nur Bruchteile von Sekunden blieben, um überhaupt zu begreifen, was los war. Mike ahnte, daß nicht alle Headhunter das so handhabten. Die Auftraggeber ließen ihnen insofern völlig freie Hand, denn ihnen war nur am Ergebnis gelegen - und zwar je schneller, umso lieber.

Sollte er die beiden nicht mehr in ihrer Wohnung erwischen, könnte es noch eine etwas längere und vor allem interessantere Jagd werden. Der Headhunter ging davon aus, daß die Lampurtinis zumindest ahnten oder sogar wußten, was ihnen blühte. Ihre Psychogramme sowie einige Randbemerkungen in den Info-Files legten den Schluß nahe, daß sie alles dran setzen würden, um dem drohenden Unheil zu entgehen. Darunter würden die beiden allerdings nur die ihnen tatsächlich auch bevorstehenden Verwaltungsmaßnahmen im Zuge der `ultimaten Lösung' verstehen, denn von seinem Spezialauftrag konnten sie beim besten Willen nichts wissen. Doch was hieß schon `nur' angesichts dessen, daß das Resultat in beiden Fällen letztlich dasselbe wäre ...

Die Initiative der Lampurtinis, so aussichtslos sie auch sein mochte - und wer hätte das besser zu beurteilen vermocht als er? -, nötigte dem Headhunter einen gewissen Respekt ab. Die meisten Menschen ließen mit einer geradezu perversen Passivität alles, aber auch wirklich alles mit sich geschehen. Mike hatte das oft genug und immer wieder erlebt, und es war ihm zutiefst zuwider. Die Zeiten, in denen er noch ein leises Bedauern mit Menschen aufgebracht hatte, denen die `ultimate Lösung' bevorstand, waren längst vorüber. Diese Aufträge bereiteten ihm keinerlei Gewissenskonflikte, denn er wußte, daß er den Leidensweg seiner Opfer nur verkürzte. Und außerdem stellte ein `Gewissen' in Mikes Augen einen Luxus dar, den sich nur verträumte Menschen mit blühenden Phantasien und fundamentalen Illusionen leisten konnten.

Als die Silhouette der Stadt sich gegen das milchige Grau des Horizonts abzeichnete, reduzierte der Headhunter die Geschwindigkeit auf ca. 170 Stundenkilometer, und nur wenige Minuten später erreichte er den städtischen Zubringer. Obwohl er noch nie in Corina gewesen war, würde es für ihn kein Problem sein, binnen kurzem die Straße zu finden, in der die Lampurtinis wohnten. Das Verkehrsleitsystem auf seinem Borddisplay zeigte ihm nicht nur die direkteste Verbindung, sondern berücksichtigte dabei auch eventuell bestehende Hindernisse wie Staus, Unfälle oder ähnliches. Nach nur sieben Minuten Fahrzeit im innerstädtischen Verkehr bog er fast im Schrittempo in die Rue de Chassol ein, eine kleine Gasse im Bahnhofsviertel. Sollte nur ein einziger Polizeibeamter - und diese Typen würde er auch in zivil sofort erkennen - hier herumlungern, wäre Mike Rosefield genauso schnell und spurlos wieder verschwinden.


*


Nervös ging Sergio Lampurtini im Wohnzimmer auf und ab. Es war mittlerweile schon halb sechs und von seiner Frau fehlte nach wie vor jede Spur. Langsam schlich er an die Jalousien des Wohnzimmerfensters heran, um vorsichtig auf die Straße zu spähen - doch Clarissa war weit und breit nicht zu sehen. Wo mochte sie bloß stecken? Es mußte etwas Unvorhergesehenes passiert sein, denn sie würde sich nicht ohne triftigen Grund verspäten, an einem solchen Tag schon gar nicht.

Länger als eine Viertelstunde würde Sergio nicht mehr warten. Vielleicht könnte er sie irgendwo ausfindig machen und ihr aus der Klemme helfen. Vielleicht gab es ja doch noch eine harmlose Erklärung für ihr Ausbleiben - an diese zugegebenermaßen vage Hoffnung klammerte er sich wie an einen rettenden Strohhalm. Doch aufgeben, bevor sie überhaupt den ersten Schritt ihres Plans in Angriff genommen hatten? Unmöglich! Das kam nicht in Frage.

Sergios Sinne waren überreizt. In der Wohnung herrschte eine fast gespenstische Stille. Wohl zum zehnten Mal ging Sergio in den Flur, um zu lauschen, ob er Clarissas wohlvertraute Schritte im Treppenhaus hören konnte. Ihren leichten Gang hätte er sofort erkannt und von dem anderer Hausbewohner zu unterscheiden gewußt. Zwar konnte er leise Schritte ausmachen, aber es waren eindeutig Männer, die die Treppe heraufkamen, schätzungsweise zwei bis drei, vielleicht auch mehr. Eigentlich ungewöhnlich für diese Tageszeit, schoß es ihm durch den Kopf, daß keine Stimmen zu ihm heraufdrangen.

`Jetzt hör' ich schon Gespenster', schalt er sich. Um sich zu beruhigen, zwang er sich, ins Wohnzimmer zurückzukehren und wenigstens einen Moment lang still zu sitzen. Sein unsteter Blick wanderte sofort zum Fenster, und im nächsten Augenblick sprang er schon wieder auf. Was, wenn Komplikationen eingetreten waren, die ihre unmittelbare Abreise erforderlich machten? Für diesen Fall mußte doch alles vorbereitet sein! Sergio ging einfach davon aus, daß Clarissa früher oder später auftauchen würde; andere Möglichkeiten zog er gar nicht erst in Betracht. Mit flinken Händen und ohne lange zu fackeln packte er alles ein, was sie unterwegs wohl brauchen könnten.


*


Wie gehetzt verließ Clarissa die Parkanlage und mäßigte ihr Tempo erst, als sie die kleine Seitenstraße wieder erreicht hatte. Von hier aus lag ihre Wohnung nur noch zwei Häuserblocks entfernt, so daß ihre Füße sich fast automatisch in Bewegung setzten und dabei die vertraute Richtung einschlugen. In ihrem Kopf herrschte eine völlige Leere, sie fühlte sich wie ausgebrannt. Warum mußte diese Geschichte im Supermarkt ausgerechnet heute passieren, wo ihnen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals stand? Vielleicht auch gerade deshalb, überlegte Clarissa, während sie sich der nächsten Straßenecke näherte. Konnte es nicht sein, daß ihnen aufgrund der bevorstehenden Wohnungsräumung der Lebensmittelkredit restlos gestrichen wurde?

Solchen Fragen und Spekulationen nachzuhängen, hatte inzwischen keinerlei praktischen Nutzen mehr, und so rief Clarissa sich zur Räson. Gleich würde sich zeigen, ob sie ihren Verfolgern direkt in die Arme lief oder nicht, denn hinter der nächsten Biegung lag die Rue de Chassol, wo sie womöglich schon erwartet wurde. Mochte es angehen, so fing sie wieder an zu spekulieren, daß der Geschäftsführer noch immer bewußtlos in seinem Sessel lag und ihn bislang niemand entdeckt hatte? Clarissa gestand sich ein, daß ziemlich viele für sie günstige Umstände zusammenkommen mußten, wenn die nächsten Schritte, die sie in Sichtweite ihres Hauses bringen würden, nicht zu ihrem letzten Fehler werden sollten.

Und wieder dachte sie an Sergio, der - dessen war sie sich gewiß - nicht ohne sie losfahren würde. So wie die Sache stand, wäre das zwar das Vernünftigste gewesen, dann hätte wenigstens einer von ihnen beiden vielleicht noch eine Chance gehabt. Aber was hieß schon Vernunft? Clarissa war froh, daß ihr Mann sie nicht im Stich lassen würde.

Mittlerweile hatte sie besagte Straßenecke erreicht und ging weiter, ohne noch einmal zu zögern. Doch dann hielt sie mitten im Schritt inne und blieb abrupt stehen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fuhren drei große Wagen vor. Zugleich kamen viele Männer - es mochten acht, nein zehn oder sogar zwölf sein - aus dem Eingang des vierstöckigen Mietshauses, in dem ihre kleine Wohnung lag. Im Laufschritt eilten sie auf die bereitstehenden Autos zu und stiegen ein. Clarissa stockte vor Entsetzen der Atem. Was hatte das bloß zu bedeuten?! Diese Leute mußten ihretwegen hier sein! Zwar waren sie in zivil, doch es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sie als Angehörige der Guardia Civil zu erkennen.

Clarissa widerstand dem Impuls, einfach kehrtzumachen und loszulaufen. Wenn die Polizisten im Haus gewesen waren, um sie festzunehmen, warum verschwanden sie dann so kurz vor ihrem Eintreffen? Sollte das ein Trick sein, um sie in Sicherheit zu wiegen? Wo aber steckte Sergio? Verhaftet hatten sie ihn nicht, denn er war nirgends zu sehen, doch was hieß das? Hatten sie etwa schon ...?

"Sergio!!!" gellte ihr Schrei über die Rue de Chassol und übertönte die abendliche Geräuschkulisse. Und sie rannte, ohne auf den Verkehr zu achten, quer über die Straße, erreichte den Eingang und hetzte die Treppen hinauf. Der letzte Beamte, den sie dabei noch zur Seite stieß, warf ihr einen undefinierbaren Blick zu, bevor er seinen Kollegen nacheilte. Doch davon bemerkte sie nichts. Völlig außer Atem erreichte sie das zweite Stockwerk. Als sie Sergio erblickte, der ihr auf der Treppe entgegenkam, versagten ihr die Beine den Dienst. Ihr Mann nahm die restlichen Stufen mit einem Satz und konnte sie gerade noch auffangen.


*


Nahezu geräuschlos bog der Ferrari um die Ecke und näherte sich langsam dem Haus Nr. 18, so als hielte der Fahrer nach einem geeigneten Parkplatz Ausschau. In dieser Umgebung wirkte die große schwarze Limousine ein wenig deplaziert. Mike hielt ungefähr zwanzig Meter vor dem Haus der Lampurtinis, stieg aus und vertrat sich die Beine. Falls Passanten oder Nachbarn überhaupt von ihm Notiz nahmen, sie hätten ihn wohl für einen Geschäftsmann oder Behördenvertreter gehalten.

Bislang hatte der Headhunter keinen einzigen Kriminal- oder Fahndungsbeamten ausmachen können. Allem Anschein nach waren seine Bedingungen erfüllt worden, was ja schließlich auch im Interesse seiner Auftraggeber liegen mußte. Mike konnte jedoch nicht völlig auszuschließen, daß sich in der Wohnung der Lampurtinis oder irgendwo in der Nähe ein Schnüffler versteckt hielt. So etwas würde Mike unter keinen Umständen zulassen, und noch nie hatte es - nach getaner Arbeit schon gar nicht - einen Zeugen gegeben. Bevor er also zu Werke gehen und die Wohnung betreten konnte, mußte der Jäger die nähere und weitere Umgebung sorgfältig inspizieren. Mike schlenderte auf die Nr. 18 zu, und dabei fiel ihm auf, daß das Auto der Lampurtinis, ein lindgrüner Fiat Fitore, nirgends zu sehen war. Sollte das etwa heißen, daß die beiden Vögel längst ausgeflogen waren?

Als Mike seine Erkundungen abgeschlossen hatte und sicher sein konnte, daß die Polizeikräfte vollständig abgezogen waren, ging er kurzentschlossen ins zweite Stockwerk hinauf. Hier gab es vier Wohnungstüren, aus einigen drang Gelächter und lautes Kindergeschrei, nebenbei lief wohl ein Fernseher. Die Wohnung der Lampertinis hingegen lag dunkel und still vor ihm. `Das kann auch ein Trick sein', dachte Mike bei sich. Er nahm sein Kombiwerkzeug aus der Manteltasche, setzte es mit einer schnellen Handbewegung am Türschloß an und betätigte den Impulsgeber. Ein gezielt herbeigeführter Kurzschluß setzte die elektronische Sicherheitsvorkehrung außer Kraft, woraufhin sich die Tür öffnete. Mike wartete noch einen kleinen Moment, bevor er die Wohnung betrat, doch keiner der Nachbarn rührte sich. Niemand reagierte auf das halblaute Plopp des Kurzschlusses.

Der Headhunter schloß die Tür hinter sich zu. Mit Hilfe seines digitalen Tagesrestlichtverstärkers konnte er die Umrisse der Wohnungseinrichtung im halbdunklen Dämmerlicht gut erkennen. Schnell durchsuchte er die kleine Wohnung, riß die großen Schränke auf und durchwühlte die Betten - kein Zweifel, die Lampurtinis waren längst auf und davon. Nun gab es für ihn keinen Grund mehr, seine Anwesenheit noch länger zu verbergen. Sollte wider Erwarten ein neugieriger Nachbar auftauchen und ihn zur Rede stellen, würde er sich als Sicherheitsbeamter ausweisen. Das entsprach zwar nicht ganz den Tatsachen, denn er arbeitete völlig auf eigene Faust, doch bislang war es ihm in solchen Fällen noch immer gelungen, einen besorgten Mitbürger einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen - so oder so. Bei den regulären Sicherheitskräften sah das schon anders aus, da mußte er sich sehr in acht nehmen. Bei diesem Auftrag allerdings hatte er insofern leichtes Spiel - zumindest in Corina.

Geriet er wirklich einmal in die Fänge der Ordnungsbehörden, würde ihm seine `höhere Mission' nichts nützen, denn offiziell gab es ihn und seinesgleichen überhaupt nicht. Als `Headhunter' könnte er sich niemals legitimieren, denn von der Existenz des Null-Levels wußten nicht einmal hohe Polizei- oder Militäroffiziere. Seine Auftraggeber würden ihn nicht decken, sollte er tatsächlich einmal auffliegen und in die Mühlen dieses Kolosses geraten. Für Mike gehörte das zum Berufsrisiko; nicht ohne Grund wurden seine Dienste so fürstlich honoriert.

Mit der ihm eigenen Gründlichkeit durchsuchte Mike die wohl endgültig verlassene Wohnung. Sein vorrangiges Ziel bestand darin, die nächsten Aktionen und Pläne seiner Opfer vorauszuahnen oder zumindest Anhaltspunkte für ihre ungefähre Fluchtroute zu finden. Der Headhunter schlenderte scheinbar planlos durch die kleinen Räume, die noch ganz von der Persönlichkeit der Lampurtinis erfüllt waren. Fast meinte er, einen Hauch ihrer Verzweiflung und Angst spüren zu können. Auf seinen imaginativen sechsten Sinn gab er eigentlich nicht viel, doch schon häufig hatten sich diese flüchtigen Ahnungen im nachhinein als brauchbare Hinweise entpuppt. Und hier schien es so, als sei seit dem hastigen Aufbruch der beiden nicht mehr als eine Stunde vergangen.

Besondere Sorgfalt verwandte Mike auf die Untersuchung der Lebensmittel. Viel gab es da ohnehin nicht zu sehen, denn bis auf wenige Milchersatzprodukte war der Kühlschrank leer. In den Schränken befand sich außer kleinerer Mengen Zucker, Bindemittel und Füllstoffen nur eine Handvoll Konserven. Daß nirgends Konzentratnahrung zu finden war, legte gewisse Schlußfolgerungen nahe. Diese Ersatzstoffe, mit denen bis zu 70 Prozent des festgelegten Nahrungsbedarfs abgedeckt wurden, fehlten sonst in keinem Haushalt.

Daß die Lampurtinis sich für längere Zeit mit Lebensmitteln eingedeckt hatten, war natürlich weder rätselhaft noch überraschend. Mit dem Wasser sah es nicht anders aus, nicht einmal eine angebrochene Flasche Trinkwasser befand sich noch in der Wohnung - logisch, daß die beiden nicht einen Tropfen zurückgelassen hatten. Früher oder später würden sie ohnehin vor dem Problem stehen, sich Trinkwasser besorgen zu müssen - falls es denn für sie überhaupt ein Später gab.

Das Stöbern in den übrigen Schränken und Schubladen erbrachte keine weiteren Spuren. Die technische Qualifikation des Ingenieurs, ein für den Headhunter ganz wesentlicher Aspekt, konnte er aufgrund seiner Vorab-Informationen ohnehin einschätzen. So wußte er, daß Sergio Lampurtini auf dem höchsten Stand der technologischen Entwicklung vertraut gewesen war; wohlbemerkt `gewesen war', denn nach seiner Entlassung im Jahre 2003 hatte er natürlich keine Fortbildungskurse mehr besucht. Wenngleich diese Zeitspanne von zehn Jahren angesichts der rapiden technologischen Weiterentwicklung nicht unwesentlich war, machte Mike nicht den Fehler, Erfindungsgeist und Einfallsreichtum seines Gegners zu unterschätzen.

In dieser Hinsicht spielten Clarissas berufliche Qualifikationen keine Rolle. Die ehemalige Fremdsprachenkorrespondentin hatte das lokale Übersetzungsbüro des `Osservatore', einer großen in der Region Norditalien erscheinenden Tageszeitung, geleitet. Vor drei Monaten war sie ebenfalls arbeitslos geworden, womit das Schicksal der Lampurtinis endgültig besiegelt wurde. Die nun unmittelbar bevorstehende Wohnungsräumung stellte nur den ersten Schritt der `ultimaten Endlösung' dar. Davon allerdings hatten die beiden wohl Wind bekommen, auf welchen Wegen auch immer. Hin und wieder gab es solche Lücken im System, Löcher im enggestrickten Netz der Verwaltungsbürokratie, die eigentlich mit gnadenloser Präzision und unerbittlicher Härte die ihr obliegenden Aufgaben versah.

Mike riß sich von diesen Gedankengängen los, zumal es in der kleinen und doch recht gemütlichen Wohnung für ihn nichts mehr zu tun gab. Die Lampurtinis waren nicht so dumm, vom eigenen PC aus das geographische Informationssystem abzurufen. Direkte Hinweise, welche Route sie gewählt oder welche Richtung sie wohl eingeschlagen hatten, konnte er hier natürlich nicht finden.

Seufzend ließ der Headhunter sich in einem Sessel nieder. Er nahm das Flair der Wohnung, der gesamten Einrichtung sowie der verbliebenen Habseligkeiten in sich auf, erfaßte die Art und Weise, wie eine gewisse Unordnung mit Bedacht hinterlassen worden war, besann sich noch einmal auf Wesentliches und auch manch Unwesentliches - und versetzte sich vollständig in Sergios und Clarissas Lage. Ob diese Vorgehensweise nun als `Intuition' bezeichnet werden konnte oder nicht, spielte für ihn keine Rolle. Tatsache war, daß es ihm auf diese Weise schon so manches Mal gelungen war, seinen Opfern auf die Spur zu kommen.


*


"Nun fahr' doch nicht so schnell", sagte Sergio leicht verärgert und sah von der Landkarte hoch.

"Nun laß' mich doch", entgegnete Clarissa mit trotziger Stimme, ging aber dennoch mit dem Fuß vom Gas. "Kannst du denn nicht verstehen, daß ich so schnell wie möglich aus Corina raus möchte?"

"Wenn du so weitermachst, halten sie uns schon an der nächsten Kreuzung an", fuhr ihr Mann unbeirrt fort.

"Ich fahr' doch nun schon langsamer, nun gib' doch mal Ruhe", murmelte Clarissa gereizt. Nur noch zwei, drei Kilometer bis zum Autobahnzubringer - und sie hätten den dichten Stadtverkehr hinter sich und wären aus dem Gröbsten raus. Hier mußten sie bei jeder Polizeisirene, die aus der Ferne den Straßenlärm durchdrang, mit dem Schlimmsten rechnen. Bei jedem Hupen sah Clarissa nervös in den Rückspiegel. Doch wie durch ein Wunder waren sie bislang unbehelligt geblieben, niemand schien ihnen zu folgen.

"Allmählich müssen wir uns entscheiden, ob wir gleich in Richtung Norden fahren oder erst noch einen Bogen schlagen wollen", bemerkte Sergio in seiner ruhigen Art.

"Nach Norden - je eher, desto besser", antwortete Clarissa nun etwas entspannter, "denn damit wird die Polizei am wenigsten rechnen. Schließlich ist es im Süden nicht weit bis zur Demarkationslinie. Würde ein Verfolger nicht annehmen, daß wir uns irgendwo im Niemandsland verkriechen wollen?"

"Da wär' ich mir nicht so sicher. Ich mach' mir eher Sorgen darüber, ob sie nicht unser Auto ortungstechnisch erfassen können", gab Sergio zu bedenken. "Dann müßten sie bloß den Impulsen folgen und - Ende."

"Mhm. Da mag was dran sein", erwiderte Clarissa gedehnt. "Aber, wie du schon sagt, sie könnten `unserem' Auto folgen. Was aber, wenn wir einen anderen Wagen nähmen?"

"Wie stellst du dir das denn vor", fragte Sergio etwas unwirsch. "Meinst du vielleicht, da tauscht jemand so mir nichts dir nichts mit uns den Wagen, bloß weil wir sagen, ..."

"Wohl kaum", unterbrach Clarissa den Redefluß ihres Mannes, "jedenfalls nicht freiwillig. Wenn wir es allerdings geschickt anstellen und nicht lange fackeln ..."

"Ich hab' noch eine ganz andere Idee", hakte Sergio ein. "Wenn es einen solchen Impulsgeber gibt, müßte er doch zu finden und unschädlich zu machen sein."

"Und wenn nicht?" entgegnete Clarissa. "Wir verlieren wertvolle Zeit, wenn wir jetzt das Auto auseinandernehmen, um einen Mikrochip zu suchen, der da nicht hingehört und sicherlich bestens getarnt ist."

"Ganz so schwierig wird das gar nicht sein. Schließlich habe ich meine Meßinstrumente dabei, und ein Impulsgeber sendet schließlich Impulse aus." Sergio war nun Feuer und Flamme für seine Idee und griff schon nach seiner `Starkstromtasche', wie er seinen altgedienten Werkzeugkoffer liebevoll nannte.

Und dann unterbreitete Clarissa ihm einen Plan, von dem beide begeistert waren, stellte er doch eine erfolgversprechende Synthese ihrer bisherigen Ideen dar. Daß sie nach Norden fahren würden, bedurfte ohnehin keiner weiteren Diskussion; daran gab es angesichts ihrer eigentlichen Fluchtroute auch nichts zu rütteln. Eine Fahrt in Richtung Süden hätte bestenfalls eine Finte sein können, um die Verfolger in die Irre zu führen.


*


Nachdem Mike im Küchenschrank den Schlüssel für ein mechanisches Türschloß, wie es im vorigen Jahrhundert gang und gäbe war, gefunden hatte, machte er sich auf die Suche nach einem Keller- oder Bodenraum. Mit einer recht altertümlichen Halogen- Taschenlampe bewaffnet - wozu hätte er jetzt den Infrarotrestlichtverstärker nehmen sollen? - stieg er das Treppenhaus hinauf. Im obersten Stockwerk öffnete ein altes Mütterchen ihre Haustür. Mike grüßte freundlich auf italienisch, woraufhin sie sofort den Kopf zurückzog und die Tür schloß.

Diesen einfachen Trick benutzte der Headhunter hin und wieder, seit Englisch im gesamten Nordbezirk nicht nur als Amts- und Schriftsprache, sondern sogar als Umgangssprache zwingend vorgeschrieben war. Allzuoft konnte er sich das natürlich auch nicht erlauben, doch das Risiko erschien ihm durchaus kalkulierbar. Mike hatte im Laufe der Jahre ein sicheres Gespür für Menschen entwickelt, die so verschüchtert waren, daß sie sofort reißaus nahmen, wenn sie in ihrer Muttersprache angesprochen wurden. Viele würden natürlich auch jede Gelegenheit nutzen, um andere zu denunzieren; dafür sorgten schon die nach einem ausgeklügelten System in Aussicht gestellten `Prämien für besondere Mitarbeit'.

Im Keller wurde der Headhunter sofort fündig, denn eine der fünf Holztüren war mit `Lampurtini' beschriftet. Als er nun den kleinen Hobbyraum betrat, pfiff er leise durch die Zähne. Was er hier vorfand - das sah er auf den ersten Blick -, übertraf bei weitem die Vorstellungen, die er sich bislang von seinem Gegner gemacht hatte. Daß Sergio Lampurtini vor über 15 Jahren maßgeblich am Bau der elektronischen Sicherungsanlagen an den Demarkationslinien beteiligt war, wußte Mike längst. Der italienische Ingenieur hatte für einen 50 Kilometer langen Bauabschnitt im früheren Polen die Verantwortung getragen. Aus diesem Grund waren die Lampurtinis in Kategorie A eingestuft worden, denn nach den Kriterien des Verwaltungssystems stellten diese Kenntnisse bereits ein sicherheitsrelevantes Risiko dar.

Der Headhunter inspizierte den Werkraum des ehemaligen Ingenieurs besonders gründlich. Wie es mit dessen technischer Grundausrüstung aussehen mußte, konnte er sich in etwa ausmalen. Deshalb fiel es ihm auch nicht schwer, aus dem Fehlen bestimmter Werkzeuge Rückschlüsse darauf zu ziehen, was der Italiener wohl mitgenommen hatte. Weitaus schwieriger und zugleich wesentlich interessanter war allerdings die Frage, welche technischen Möglichkeiten sein Gegner sich in der Zwischenzeit erarbeitet haben mochte. In der Werkstatt befanden sich Versuchsanlagen, selbstgebaute Instrumente und Maschinen, deren Funktion nicht so ohne weiteres ersichtlich waren.

Mike vertiefte sich in die Hinterlassenschaften seines Gegenspielers. Sein besonderes Interesse galt dabei der Frage, ob und inwiefern dieser Mann in der Lage sein könnte, sich der technischen Überwachung zu entziehen. Wäre er an Sergios Stelle, würde er dafür sorgen, daß die Fahrtroute des Wagens nicht nachvollzogen werden konnte. Auch in Hinsicht auf die Chipkarten mußten die Fliehenden sich etwas einfallen lassen. Die Verwendung ihrer eigenen Karten würde an jeder Tankstelle einen sofortigen Alarm auslösen, denn natürlich standen sie nach wie vor auf der offiziellen Fahndungsliste. Ohne Karte allerdings konnten sie nirgends tanken. Wollten sie nicht innerhalb des Radius einer Tankfüllung bleiben - und davon ging Mike eigentlich aus -, mußten sie das Benzinproblem lösen.

Der Headhunter setzte sich auf einen kleinen Hocker vor einer Metallfräse, mit der Sergio wohl viel gearbeitet hatte, und konzentrierte sich voll und ganz auf den Ingenieur - so lange, bis er das Gefühl hatte, sich in dessen Gedankenwelt und Planungen hineinversetzen zu können. Als er diesen Punkt erreicht hatte, stand er augenblicklich auf und verließ den Keller, ohne sich noch einmal umzuwenden.


*


"Das war knapp", murmelte der Koordinator, nachdem er mit dem Timecheck fertig war. Die italienischen Behörden hatten recht zügig reagiert. Dennoch waren insgesamt 17 Minuten vergangen zwischen seinem Befehl und dem tatsächlichen Abrücken vor Ort - viel zu lange, denn angesichts des Ultimatums hätten es höchstens zehn sein dürfen. `Mein Glück, daß Mike etwas spät dran war', dachte Jack Clifton erleichtert. Dennoch beschlichen ihn leise Zweifel, denn möglicherweise hatte der Headhunter sich in der Nähe verborgen gehalten und würde nun die Ausführung des Auftrags verweigern. Anhaltspunkte gab es dafür zwar bislang nicht, aber bei diesen Typen konnte man ja nie wissen!

Seufzend wandte der Koordinator sich wieder seinen Routinearbeiten zu. Ihn packte bei jedem dieser Jobs ein gewisses Jagdfieber, obwohl er nur ein klammheimlicher Beobachter war. Oder vielleicht gerade deshalb? `In den Genuß eines solchen Unterhaltungsprogramms kommt außer mir wohl niemand', dachte er in einem Anflug von Selbstironie. Das Interesse der Medien an solch einer Reality-Show wäre sicherlich immens gewesen, doch daran war nicht im entferntesten zu denken. Die umfangreichen Sicherheitsbestimmungen ließen nicht einmal zu, daß der Begriff `Headhunter' bzw. dessen Implikationen in der Öffentlichkeit publik gemacht wurde.

Der 48jährige Beamte britischer Abstammung gab seiner Neugier nach und spulte noch einmal den Film zurück, der die Szenen erfaßte, die sich vor dem Haus der Lampurtinis abgespielt hatten. Er sah, wie Clarissa Lampurtini schreiend auf das Haus zulief, im Eingang den letzten Beamten der Guardia Civil anrempelte und dann hinter der Tür verschwand. Danach geschah erst einmal gar nichts - Jack spulte ein ganzes Stück vor - und konnte schließlich beobachten, wie die beiden Lampurtinis in größter Eile das Haus verließen. Mit recht großen Taschen bepackt hasteten sie um die Straßenecke zu ihrem in der Nebenstraße parkenden Fiat Fitore. Aus dem Blickwinkel einer anderen Kamera zeigte der Film nun, wie die beiden in ihren Wagen einstiegen und losfuhren, ohne sich noch einmal umzudrehen.

"Da sind die Fische noch 'mal vom Haken gesprungen", murmelte der Koordinator gelassen und stellte die Videoaufzeichnung ab. Manches Mal trieb dieses Sicherheitssystem recht seltsame Blüten - und zwei zur ultimaten Lösung bestimmte Menschen gewannen, ohne es verdient zu haben, noch ein paar Stunden Lebenszeit. Daß sie dabei nur vom Regen in die Traufe kämen, stand auf einem anderen Blatt.


*


"Ich bin gleich so weit, noch einen Moment Geduld", sagte Sergio leise, während er mit seiner Allzweckzange an dem kleinen Revolver herumhantierte. "Sieht doch ganz passabel aus, findest du nicht?"

Clarissa warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, wußte sie doch, mit welcher Hingabe ihr Mann an seinen Basteleien hing. Was er nun in Händen hielt, sah tatsächlich aus wie ein Revolver aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. "Warum hast du denn eine antike Waffe gebaut?" entgegnete sie, ohne auf seine Frage einzugehen, "ist das nicht sehr auffällig? So eine Waffe trägt doch heutzutage kein Mensch mehr."

"Andere Materialien hatte ich nicht zur Hand. Das tut aber auch nichts zur Sache, denn in puncto Feuerkraft kann sie es durchaus mit modernen Schußwaffen aufnehmen. Man sieht es ihr bloß nicht an - und das könnte unser Vorteil sein."

"Ist sie denn schon geladen?" fragte Clarissa interessiert, die genau wußte, daß ihr Überleben vom Funktionieren dieser Waffe der Marke `Eigenbau' abhängen konnte.

"Sicher ist sie geladen", antwortete Sergio, der ganz in seinem Element war. "Fragt sich bloß, ob ich sie auf `Letal' oder `Paralyse' schalte. Im Letal-Modus funktioniert sie einwandfrei, bei der Paralyse allerdings gibt's hin und wieder Verzögerungen. Gegen einen unvorbereiteten oder unbewaffneten Gegner wird das ausreichen. Wenn also der Überraschungseffekt auf unserer Seite ist, können wir uns 'ne Paralyse leisten."

"Wie willst du das denn im voraus beurteilen können?" hakte Clarissa nach. "Laß' uns lieber auf Nummer sicher gehen, wir können uns kein Risiko leisten."

"Ich knall' keine wehrlosen Leute ab, die uns nichts getan haben", erwiderte Sergio im Brustton tiefster Überzeugung.

Clarissa wußte, daß diese Debatte schnell in einer langwierigen und fruchtlosen Grundsatzdiskussion enden konnte, die wertvolle Zeit kosten würde. "Also gut", sagte sie einlenkend, "dann stell' sie meinetwegen auf Paralyse. Was aber, wenn wir ein Pärchen angreifen, das sich nicht so ohne weiteres überrumpeln läßt?"

"Der Sprit reicht noch für vier bis fünf Stunden", erwiderte Sergio geduldig. "Also keine Panik, wir haben noch Zeit genug, um uns die Richtigen auszusuchen."

So ganz vermochte Clarissa diesen Optimismus nicht zu teilen und insgeheim ahnte sie, daß ihr Mann sie damit beruhigen wollte. "Was hältst du denn davon", fragte sie etwas unvermittelt, "wenn wir an der nächste Service-Station anhalten?"

"Ich versteh' nicht so recht, was du im Schilde führst", fragte Sergio irritiert. "Warum sollten wir zum Euro-Service fahren, wenn wir weder einkaufen noch tanken können?"

"Na, das liegt doch auf der Hand. Es gibt immer noch ein Geschäft, daß sich ohne diese verfluchten Chipkarten erledigen läßt", antwortete Clarissa und lächelte verschmitzt. "Aber mal im Ernst", fügte sie hinzu, "warum sollten wir noch länger warten, wenn doch der Revolver fertig ist?"

Sergio hatte nun endlich begriffen und nickte zustimmend. "Also gut, meinetwegen. Aber mehr als eine Viertelstunde gebe ich dir nicht. Wenn wir bis dahin kein Pärchen entdeckt haben, das für unsere Pläne in Frage kommt, fahren wir wieder los."

(Ende des 2. Teils)


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Allem Anschein nach sind die Lampurtinis wild entschlossen, ihrem düsteren Schicksal unter allen Umständen zu trotzen. Doch was, wenn sie die Rechnung ohne den Wirt, sprich den Headhunter machen, von dessen Existenz und Auftrag sie nicht einmal etwas ahnen?

Lesen Sie weiter in der nächsten Headhunter-Folge: Teil 3: Unterwegs in die Todeszone


Erstveröffentlichung am 27. Mai 1995

15. Dezember 2006