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PSYCHO/001: ... und tief ist sein Schein ( 1) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Bis auf das leise Summen der Klimaanlage war nur Merles verhaltenes Murmeln zu hören. Der Mond, dessen unnatürliche Helligkeit durch das Fenster drang, warf die Schatten der Gitterstäbe auf die gegenüberliegende Wand. Ganz leise tönte hin und wieder ein Schrei herüber, wenn ein Patient von seinem Dämon gefoltert wurde, der oft nicht einmal für sein armes Opfer existent sein durfte und daher um so größeren Einfluß besaß. Und wenn doch einer den unschätzbaren Vorteil erkannt hatte, seinem Widersacher ein Antlitz und einen Namen zu geben, dann führte er gegen ihn einen einsamen Kampf, verworren im Geflecht der Wahrnehmungen und gefesselt in den heimtückischen Schlingen der Tranquilizer.

Preacher saß mit gekreuzten Beinen auf dem Bett und seine jungenhaften, sympathischen Züge spiegelten freundlichen Gleichmut wider, obwohl er Merle, der auf dem Boden hockte und mit einem Stück schwarzer Gummisohle ein Pentagramm auf den hellgrauen Kunststoffboden malte, nicht aus den Augen ließ. Es war nicht das Ritualhafte, das den Raum mit einer fremdartigen, kalten Bedrohlichkeit erfüllte, sondern es war Merle selbst, dessen dünngliedrige, gebrochene Behendigkeit unwillkürlich an eine schwarze Spinne denken ließ. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß von Merle statt jener menschlichen Urwärme, die einem gewöhnlich selbst bei den unangenehmsten Menschen einen gewissen Anhalt bietet, nur eine insektenhafte Zielstrebigkeit ausging.

Bisher hatte sich noch kein Therapeut gefunden, der bereit gewesen wäre, Merles Behandlung zu übernehmen. Das lag nicht nur daran, daß Dr. Kalwin eine solche niemals gebilligt hätte. Merle war keineswegs unzugänglich oder verschlossen, doch schon sein Lächeln, das sein dunkles, hageres Gesicht vergeblich in die Breite zu zerren suchte, konnte jene das Fürchten lehren, die daran festhielten, daß es eine gesunde Art des Denkens gab. Sich tatsächlich auf Merle einzulassen war wie in einem Sumpf unterzutauchen, nur um festzustellen, wie tief er war. Und eines war Merle mit Sicherheit nicht: flach.

Als einer der Pfleger, der Merle bei passender Gelegenheit als widerwärtige Bestie beschimpft hatte, die in die Gaskammer gehört, sich gleich darauf am Sterilisator das Gesicht verbrühte, war der dumpfe Respekt, den Insassen und Personal Merle gleichermaßen entgegenbrachten, noch gewachsen. Bis auf Preacher schien Dr. Kalwin der einzige zu sein, den Merles düstere Präsenz nicht zu beeindrucken schien.

Ursprünglich hatte Preacher ein anderes Zimmer bewohnt, doch nachdem sich mehrere Patienten auf äußerst rabiate Weise gewehrt hatten, mit Merle denselben Raum zu teilen, und Gewalttätigkeiten unter Patienten öfter unangenehme Untersuchungen nach sich zogen, hatte man Preacher schließlich bei ihm einquartiert. Das Sträuben der anderen war nicht allein dadurch erklärlich, daß Merle als Kindermörder selbst unter psychopathischen Killern als Abschaum galt. Viel mehr als das schienen viele zu befürchten, durch die Nähe zu Merle auch noch den letzten Halt in jener Realität zu verlieren, die für die einzig wahre und richtige galt.


*


Merle hatte das Pentagramm vollendet und sich wieder erhoben. Der scharfe Umriß seines mageren Körpers erschien an der Wand, wo er vom Schatten der Gitterstäbe eingefangen wurde. Preacher konnte sehen, wie Merles schwarze Augen vor verhaltener Leidenschaft glühten.

Mit hämischer Verstohlenheit zog Merle ein Kleidungsstück unter seiner Matraze hervor, das wie ein weißes Polohemd aussah. "Willkommen in der Hölle, Dr. Kalwin", hörte Preacher ihn flüstern. Mit jener besonderen, anzüglichen Zärtlichkeit, die Merle immer zu eigen war, wenn er etwas tat, das ihn wirklich interessierte, strich er über das Hemd. Dann warf er es plötzlich mit einer kurzen, verächtlichen Gebärde in die Mitte des Pentagramms und fing an, darauf zu urinieren.

Preacher nahm Merles Verhalten vollkommen ungerührt zur Kenntnis, als sähe er derartiges jeden Tag. Auch als Merle sich zu ihm umwandte und ihn mit seiner flachen, beinahe knabenhaft hellen Stimme aufforderte: "Komm her, Preacher, hilf mir, eine Ratte zu ersäufen", schüttelte Preacher nur kurz den Kopf, so daß ihm sein langes braunes Haar in die Stirn fiel.

"Glaubst du, solche Viecher krepieren von allein?" zischte Merle, der unterdessen dicht an Preachers Bett herangetreten war, ihm herausfordernd ins Gesicht. "Oder hat die Mami dem Bübchen erzählt, daß man nicht in den Himmel kommt, wenn man solche Dinge tut?" Merles grinste zynisch und strich Preacher in einer gekonnten Parodie mütterlicher Fürsorge das Haar aus der Stirn.

Unvermittelt sah Preacher Merle direkt an und ein ungemein anziehendes Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Ansonsten jedoch blieb seine Miene vollkommen gelassen, als er mit bedächtiger Stimme sagte: "Leidenschaft, Merle, ist ein Brennen. Haß ist ein Brennen. Empfindungen sind ein Brennen. Wenn, Merle, ein Mensch dies durchschaut, wird er der Leidenschaft überdrüssig. Er wird des Hasses überdrüssig. Er wird der Empfindungen überdrüssig. Und durch den Überdruß wird er entsüchtet. Durch Entsüchtung wird er frei."

Einen flüchtigen Augenblick wirkte Merle tatsächlich irritiert, doch dann schlug er Preacher kichernd mit seiner kalten, spinngliedrigen Hand auf die Schulter, beugte sich verschwörerisch vor und raunte ihm ins Ohr: "Weißt du was, Preacher? Du bist nicht ganz dicht!"

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 7. Januar 1997

14. Dezember 2006