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PSYCHO/005: ... und tief ist sein Schein ( 5) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Dr. Kalwin war verärgert. Die Klinikleitung hatte sich überreden lassen, an einem Projekt zur Untersuchung von Hirnstrommuster- Anomalien bei psychotischen Straftätern teilzunehmen. Das bedeutete, es mußte von einer Reihe geeigneter Versuchspersonen über einen längeren Zeitraum jeden Tag ein Elektroenzephalogramm angefertigt werden. Dadurch würde ein Teil der Arbeitszeit des medizinischen Personals für Dinge verschwendet sein, die er für vollkommen überflüssig hielt. Weder akzeptierte er bei Kriminellen eine verminderte Schuldfähigkeit aufgrund ihrer Sozialisation, noch glaubte er an irgendwelche neuronalen Impulsmuster, die das Ausüben von Gewalttaten entschuldbar machen konnten.

Nach seiner Auffassung war der Mensch ein Raubwesen und in jedem Fall aggressiv und gewalttätig. Der Unterschied zwischen höher- und minderwertigen Menschen bestand allein darin, ob jemand diese Potentiale mit Verstand einzusetzen wußte oder sich ihnen willenlos unterwarf. Wer sich triebhaft wie ein Tier gebärdete, hatte seiner Ansicht nach auch nichts anderes verdient, als wie ein Tier behandelt zu werden. Und Tiere betrachtete Dr. Kalwin ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Nutzbarkeit. Daher erschien ihm der Gedanke an Euthanasie in gewissen Fällen durchaus naheliegend, was er selbstverständlich für sich behielt.

Er war davon überzeugt, wenn der Mensch sich aus dem Staub der niederen Instinkt- und Gefühlswelten erheben wollte, durfte er nicht davor zurückscheuen, alles von sich abzuschütteln, was diesem Staub verhaftet war, auch wenn es sich dabei um Angehörige der eigenen Spezies handelte. Das Untersuchungsprojekt der Klinik glich dagegen einem Versuch, die Fesselung der menschlichen Gesellschaft an ihre primitivsten und niedrigesten Elemente zu verstärken, indem man durch Erklärungen neue Bindungen schuf, statt sie radikal zu durchtrennen.

Ein verächtlicher Zug lag noch um seinen Mund, als er sich anschickte, die medizinisch-technische Assistentin zu rufen, um mit ihr die neue Aufgabe zu besprechen, da die Untersuchungen zum größten Teil in ihren Arbeitsbereich fielen. Einen kurzen Augenblick bedauerte er es, daß ihre Verabredung in der Eisdiele nicht zustandegekommen war, weil er an dem betreffenden Abend wegen eines Notfalls in der Klinik bleiben mußte. Denn eines kam ihm an dieser Frau seltsam vertraut und doch zugleich beunruhigend vor: Sie schien recht genau zu wissen, was sie wollte. Doch war es ihm bisher nicht gelungen herauszufinden, was es war. Er hoffte, dazu bald die Gelegenheit zu bekommen.

"Schicken Sie mir bitte Frau Jochimsen", wies er wenig später im gewohnt herrischen Tonfall seine Sekretärin an. "Ich will mit ihr die Durchführung der EEG-Reihenuntersuchung besprechen."


*


Preacher war der erste Patient von Station E, der zum EEG ins Labor gebracht wurde. Es wirkte ungemein lächerlich, mit welch wichtigtuerischer Miene die beiden Pfleger, denen Preacher mit seinen etwa 1,68 nur bis zur Schulter reichte, ihn an den Armen gepackt hielten, als könnte er sich jeden Augenblick in einen Gorilla verwandeln. Preacher selbst schien den beiden ihre Übertreibung nicht übel zu nehmen, denn er schritt mit anmutiger Leichtigkeit einher, als wandele er über eine blühende Wiese.

"Dr. Kalwin sagt, wir sollen ihn hier zur Untersuchung abliefern", wandte sich einer der grobschlächtigen Pfleger an Viola.

"Richtig", bestätigte sie knapp und wandte sich dann Preacher zu. "Würden Sie bitte dort hinten Platz nehmen?" Sie wies auf einen breiten Metallstuhl mit blauen Kunststoffpolstern, der am Ende des Raumes stand. Zu ihrer Entrüstung stießen die beiden Pfleger den zierlichen Mann brutal auf den Stuhl und schnallten seine Arme und Beine mit dicken Lederriemen fest.

"So, jetzt können Sie mit ihm anstellen, was Sie wollen", scherzte einer der Pfleger. "Dr. Kalwin läßt Ihnen ausrichten, daß Sie sich von seinem frommen Gerede nicht einwickeln lassen sollen. Immerhin hat er eine junge Frau auf dem Gewissen." Und der andere fügte hinzu: "Wenn er zuviel quatscht, sagen Sie uns ruhig Bescheid, wir warten draußen."

Nachdem die Tür hinter ihnen zugefallen war, wandte Viola sich Preacher zu. Sein Blick war so ernst und offen und frei von jeglicher Empörung, daß sie das Benehmen der beiden Pfleger umso mehr erzürnte. Doch einstweilen hielt sie es für besser, ihre Gedanken für sich zu behalten. Daher sagte sie nur: "Zum Glück scheinen Sie sich nicht allzu viel aus diesen Gemeinheiten zu machen."

Da huschte ein Lächeln über Preachers Gesicht. Viola glaubte, ein paar Zentimeter vom Boden emporgehoben zu werden. Noch nie hatte sie jemanden mit so bedingungsloser Freundlichkeit lächeln sehen. Es war, als wären in einem Garten alle Blumen im selben Augenblick aufgeblüht.

Dann erklärte Preacher mit größter Selbstverständlichkeit: "Ich gehöre nicht zu jenen, die man die Denkverderbten nennt. Die Denkverderbten beschäftigen sich miteinander in unziemlicher Weise, so daß die Geistesbefleckung anwächst, die Geistesverwirrung anwächst. Und weil sie sich in solch ungebührlicher Weise miteinander beschäftigen, verderben sie sich innerlich, einer am anderen. Und weil sie sich innerlich einer am anderen verderben, so werden sie körperlich matt, werden sie geistig matt, und kommen aus dem Elend nicht heraus."

Viola bemerkte erst jetzt, daß sie noch keinen Finger gerührt hatte, um das EEG vorzubereiten. Dabei hatte Dr. Kalwin ihre Zeit denkbar knapp bemessen. Hastig machte sie sich daran, die Elektroden an Preachers Kopf zu plazieren. Unterdessen bemühte sie sich, in seiner Erklärung etwas Irrationales oder Verwirrtes zu entdecken, wie es bei einem schwer gestörten Patienten eigentlich zu erwarten war. Doch es gelang ihr nicht. Immer wieder wanderte ihr fragender Blick zu ihm hin, den seine ruhigen, wachen braunen Augen ohne jede Koketterie erwiderten.

Die Schreiber des Geräts schabten über das Endlospapier und zeichneten ihre Kurven. Als Viola nach einer Weile den bereits fertig aufgezeichneten Teil der Kurvenverläufe in Augenschein nahm, starrte sie ungläubig auf das Wellenmuster. Die Schreiber hatten das klassische, vollkommen durchschnittliche EEG eines gesunden Menschen aufgezeichnet - eines Menschen, der tief schläft.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 19. Februar 1997

22. Dezember 2006