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PSYCHO/017: ... und tief ist sein Schein (17) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Während seines Heimaufenthalts hatte Merle beachtliches Geschick darin entwickelt, den Lehrern und Erziehern unbemerkt zu entkommen und sich zu seinem einzigen wirklichen Lehrer, dem mißgestalteten Hausmeister der Erziehungsanstalt, zu schleichen. Diesmal hatte er sich die Unaufmerksamkeit des Musiklehrers zunutze gemacht und war gleich nach Unterrichtsbeginn ungesehen aus dem Klassenzimmer geschlüpft. Zu seinem Glück war das kleine Fenster im Speisesaal wieder einmal nur angelehnt, so daß er das Gebäude problemlos verlassen konnte.

Jetzt saß er bei dem buckligen Mann mit dem zernarbten Gesicht, den alle Dämonenschmidt nannten, in der Küche. Er hatte sofort bemerkt, daß heute irgend etwas anders war. Mit seinem Lehrer war eine seltsame Wandlung vor sich gegangen, die jedoch so wenig an Äußerlichkeiten festzumachen war, daß er zunächst an seinem Urteilsvermögen zweifelte. Die ungekünstelte Selbstverständlichkeit, mit der der Hausmeister ihn empfangen hatte, sprach nicht dafür, daß etwas Außergewöhnliches geschehen war. Und doch glaubte Merle sich beinah sicher, daß nicht sein Lehrer selbst, sondern statt dessen ein ominöser Doppelgänger vor ihm stand. Noch nie war ihm so deutlich geworden, daß das Äußere eines Menschen, mochte es auch noch so markant sein, nicht von allzu großer Bedeutung war, wenn es darum ging, ihn wiederzuerkennen. So war beispielsweise die zynische, boshafte Aura, die den Hausmeister sonst umgab, völlig verschwunden und auf einmal wirkte selbst sein zernarbtes Gesicht und seine verwachsene Gestalt eher rührend und mitleiderregend als abstoßend und häßlich.

Die Augen, in denen es so tückisch aufblitzen konnte, hatten einen freundlichen, beinahe einfältigen Ausdruck, der Merle mehr irritierte als die buntgemusterte Schürze, die dieser seltsame Doppelgänger mit einer Mischung aus Betulichkeit und Würde trug. Aus dem Backofen duftete es nach süßem Gebäck und als der Hausmeister einen mit roten Herzen bedruckten Topflappen nahm und mit hausfraulich-kritischer Miene nach seinen Plätzchen sah, fürchtete Merle für einen Augenblick ernsthaft, in einem besonders realistischen Alptraum gefangen zu sein.

"Ich glaube, sie werden dir schmecken", sagte Dämonenschmidt und Merle registrierte mit wachsender Besorgnis, daß sich auch an seiner Stimme etwas verändert hatte. Der verhalten spöttische Klang war einer wärmeren, beinahe herzlichen Sprechweise gewichen. "Hier, probiert mal", schob er dem stocksteif dasitzenden Jungen ein heißes Plätzchen hin. Erst als er sah, daß Merle keinerlei Anstalten machte, das Plätzchen zu nehmen, blinzelte er aufmunternd, und zu Merles unendlicher Erleichterung spielte um seinen schiefen Mund nun endlich wieder ein Anflug jenes boshaften Lächelns, das ihm bei seinem Lehrmeister nur allzu vertraut war.

"Warum tust du das?" fragte Merle beinahe vorwurfsvoll, was ihm einen ungehaltenen Blick eintrug.

"Tue ich was?" gab Dämonenschmidt, nun wieder ganz der alte, die Frage knapp zurück.

"Warum verstellst du dich so?" beharrte Merle.

"Wie kommst du darauf, daß ich mich verstelle?" hatte die Stimme des Hausmeisters nun wieder ihren ironisch-abfälligen Klang. "Glaubst du tatsächlich, daß ich mich auf die wenigen Merkmale und Gewohnheiten beschränke, die dir vertraut sind? Glaubst du, ich zwänge mich in das enge Korsett, das all die anständigen Leute tragen, deren einzige Sorge es ist, von ihren Nachbarn wiedererkannt zu werden?"

"Nein", erwiderte Merle kleinlaut. Zum ersten Mal war er es, der sich, wenn auch ungewollt, auf der Seite des Herkömmlichen und der bürgerlichen Enge sah. Sonst waren es für ihn immer die anderen gewesen. Natürlich hatte er selbst schon versucht, sich zu verstellen oder es bei anderen beobachtet. Aber was der Hausmeister gerade getan hatte, war irgendwie völlig echt gewesen, nicht einfach nur vorgetragen. Bestimmt hätte selbst ein Blinder ihn nicht an seinen Gesten oder seiner Stimme wiedererkannt.

Der Hausmeister setzte sich Merle gegenüber und meinte kopfschüttelnd: "Du denkst, daß du noch jung bist und es nicht nötig hast, dir über deine innere Verknöcherung Gedanken zu machen. Doch in Wahrheit bist du ebenso wie die meisten anderen in deinem Alter - fast schon so unbeweglich wie ein Greis." Dämonenschmidt lachte, als er Merles entsetzten Gesichtsausdruck sah.

"Du bist beinahe erwachsen. Hast du dir einmal überlegt, was das bedeutet?" fragte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. "Wenn du erwachsen bist, wird es dir kaum noch gelingen, aus dem Korsett deiner Gewohnheiten auszubrechen. Du gehörst dann zum Kreise der Unveränderbaren, der endgültig Erstarrten. Und wer erstarrt ist, kann niemals Macht erlangen. Nur ganz selten schafft es ein Mensch, sich seine Beweglichkeit zu erhalten und nicht schon vor Ablauf seiner Jugendzeit innerlich zu verknöchern."

"Was kann ich tun, damit mir das nicht passiert?" fragte Merle hastig, denn ihm war die Vorstellung auf einmal unheimlich, für immer nichts anderes als er selbst sein zu können, eine begrenzte, festgelegte Persönlichkeit, die nichts mehr tat, als sich selbst zu bestätigen.

"Am besten bleibt man beweglich, wenn man hin und wieder ein anderer wird. So wie du es bei mir gerade erlebt hast. Aber das hat mit Schauspielerei nichts zu tun oder mit verstellen. Du verwandelst dich tatsächlich, und zwar so sehr, daß du dich nicht einmal daran erinnern kannst, dich verwandelt zu haben."

"Aber woher weiß ich dann noch, wer ich vorher gewesen bin?" wollte Merle besorgt wissen.

"Wenn du einmal in deinem Leben wirklich ein anderer geworden bist, und jemand hilft dir, wieder zurückzukehren, dann wird sich diese Frage dir nie mehr stellen. Du wirst dann überhaupt nicht mehr glauben, irgend jemand zu sein, und das ist die Beweglichkeit, von der ich spreche."

Dämonenschmidt grinste über Merles irritierten Blick. "Natürlich ist es beim ersten Mal notwendig, daß dich jemand erinnert, wer du vorher gewesen bist. Das gehört dazu und ist in der Regel nicht besonders angenehm", fügte er beiläufig hinzu. "Davon abgesehen ist es natürlich auch möglich, daß du bei einem solchen Unternehmen völlig den Verstand verlierst." Dämonenschmidt beugte sich ein wenig zu Merle hinüber. "Aber für Leute, die an den Verstand glauben, habe wir noch nie allzu viel übrig gehabt, nicht wahr?"

Merle senkte verlegen den Blick, als Dämonenschmidt ihn so seltsam durchdringend ansah. Er kam sich wie ein törichtes Kind vor, das sich fürchtete, allein in den dunklen Keller zu gehen. Und dieses Gefühl war ihm ausgesprochen zuwider.

"Du glaubst wohl immer noch, wir spielen hier magisches Theater", bemühte sein Lehrmeister sich sogleich, ihn in seiner Befürchtung zu bestätigen, daß er an einen Punkt gelangt war, wo er sich entweder Dämonenschmidt überantworten oder für immer aus seinem Leben verschwinden mußte.

Merle schüttelte stumm den Kopf. Einerseits warnte ihn sein Instinkt davor, sich immer weiter in eine Gefahr zu begeben, die sein Lehrmeister keinesfalls verhehlte, andererseits leuchtete es ihm ein, daß er, wenn es um wirkliche Macht ging, auch etwas wagen mußte, vielleicht sogar sein Leben.

"Natürlich habe ich mit dir einen Plan", sagte der Hausmeister nun mit entgegenkommendem Lächeln, das ihm jedoch ein wenig zur verzerrten Grimasse geriet. Offenbar war er mit dem Eindruck zufrieden, den seine Worte bei Merle hinterlassen hatten. "Es handelt sich um eine echte Herausforderung."

Merle faßte in diesem Augenblick einen Entschluß und sah ihn furchtlos und aufmerksam an.

"Du wirst dich bemühen, ein anderer zu werden. Einer, den zu spielen dir niemals gelingen würde, weil er dir ganz und gar wesensfremd ist."

"Wer soll das sein?" fragte Merle halb interessiert, halb mit einer bösen Vorahnung. Wohl zweifelte er nicht an der Absicht seines Lehrmeisters, ihm etwas beibringen zu wollen. Doch würde dieser auf jeden Fall dafür sorgen, daß er bei der Mühe, die er mit seinem Schüler hatte, auch auf seine Kosten kam, was den Spaß anbetraf. Und woran Dämonenschmidt Spaß hatte, war gewiß nur in den seltensten Fällen harmlos.

"Du sollst ein guter Junge werden. So einer wie aus den amerikanischen Spielfilmen. Ein Junge, der sich nur saubere Helden zum Vorbild wählt. Leute wie Batman oder Robin Hood, die gut und fair sind. Ein Junge, der fröhlich und offen ist. Der gern Fußball spielt oder Indianer und später einmal Feuerwehrmann werden will." Dämonenschmidt kicherte bei der Vorstellung. Merle starrte ihn mit seinen mißtrauischen, schwarzen Augen ungläubig an.

"Das kann ich nicht", schüttelte er dann langsam den Kopf. "Das würde mir nie jemand abnehmen. Schon gar nicht die, die mich länger kennen."

"Sie werden das meiste vergessen, wenn du es vergißt", versicherte Dämonenschmidt ihm schulterzuckend. "Das Gedächtnis ist mehr auf Äußerlichkeiten angewiesen, als du glaubst. Aber wenn du zuviel Angst hast, laß es lieber bleiben."

"Wenn du meinst, daß ich es tun sollte, werde ich es auch tun", versicherte Merle eilig, denn er wußte, daß er entweder befolgte, was sein Lehrmeister ihm riet, oder dahin zurückging, wo er hergekommen war.

"Das scheint mir vernünftig", sagte Dämonenschmidt mit undefinierbarem Lächeln. "Ich werde dich beizeiten an Merle erinnern, das verspreche ich dir."


*


Niemand hätte von Merle behauptet, daß er fleißig war, schon gar nicht er selbst. Aber wenn er etwas erreichen wollte, brauchte er keinen Fleiß. Ihm half sein glühender Fanatismus, der umso heller brannte, je länger das Ziel unerreicht vor ihm lag. Die Aufgabe, die Dämonenschmidt ihm gestellt hatte, schien zunächst unerfüllbar. Manches, was er jetzt tat, beispielsweise sich unbeschwert fröhlich zu geben oder anderen gegenüber nicht sofort eine Schwäche auszunutzen, wenn er eine solche entdeckte, kostete ihn geradezu unmenschliche Überwindung. Doch verbissen kämpfte er gegen seine Gewohnheiten an und lernte dabei immer besser kennen, was ihn als Merle eigentlich ausgemacht hatte. Kleinste Gesten, unbewußte Neigungen, zahllose Vermeidungsstrategien, verborgene Wünsche und vor allem eine erschreckende Trägheit, sich in Situationen zu begeben, die neu und unvertraut waren. Immer mehr kam er dem Wesen der inneren Erstarrung auf die Spur und ihm graute davor wie vor einem geöffneten Sarg.


*


Auch einige Monate später hielt Merle noch an seinem Vorhaben fest. Der Grund, aus dem er es begonnen hatte, war inzwischen vor dem bloßen Willen, das einmal gesteckte Ziel zu erreichen, in den Hintergrund getreten. Seine Besuche bei Dämonenschmidt waren seltener geworden. Eine langsam aber stetig wachsende Abneigung gegen den Buckligen hatte sich in ihm ausgebreitet. Er wußte nicht, daß das ein untrügliches Zeichen seines Fortschritts war.

Tatsächlich hatte Merle sich unterdessen mit dem Torwart seiner Fußballmannschaft angefreundet, einem stillen, schüchternen Jungen, der nur im Spiel eine erstaunliche Verbissenheit an den Tag legte. Und seine neue Zeichenlehrerin, eine sozial sehr engagierte junge Frau, hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, Merles künstlerisches Talent besonders zu fördern und ihm eine Schachtel nagelneuer Aquarellmalstifte geschenkt. Es hatte Merle nicht einmal besonders große Überwindung gekostet, keine technisch bis ins Detail durchdachten Todeslabyrinthe, sondern harmlose Urwaldszenen und Unterwasserlandschaften zu malen.

Das Motiv, die endgültige Erstarrung von Merle durch die Erschaffung einer anderen Person zu verhindern, sagte ihm bald nichts mehr. Er wollte einfach ein anderer sein, wollte seinem Ideal gleichen, und das war alles. Unnachgiebig ersetzte er, was ihn noch an den verschlossenen, hinterhältig-haßerfüllten Merle erinnerte, durch Verhaltensweisen, die dem Bild eines aufgeweckten Jungen mit einer überschaubaren, positiven Weltsicht entsprachen. Merle fing an, seine frühere Wesensart zu verabscheuen.


*


Nach einem Jahr ging er überhaupt nicht mehr hinüber zur Wohnung des Hausmeisters, weil er vor ihm eine unerklärliche Furcht empfand. Schon wenn er ihn aus der Ferne vorübergehen sah mit seinem gebückten Gang, brach ihm manchmal der Schweiß aus und seine Hände wurden eiskalt. Er konnte sich nur noch mit Mühe daran erinnern, was er von diesem abstoßenden Menschen eigentlich gewollt hatte. Jedenfalls mußte er damals sehr verwirrt und sehr einsam gewesen sein.


*


Wieder waren einige Monate verstrichen, als Merle, der sich selbst längst wieder Volker nannte, vom Sportplatz her über den Rasen zum Haupthaus schlenderte. Ein mittelgroßer, gar nicht mehr so schmächtiger Junge in Jeans und einem gelben Fußballtrikot, dessen Blick zwar eine gewisse Nüchternheit, aber keineswegs ungewöhnliche Kälte verriet.

"Guten Tag, Merle", trat ihm plötzlich der Hausmeister in den Weg, der hinter einer Gruppe von Sträuchern auf ihn gewartet haben mußte. "Oder darf ich dich jetzt nicht mehr so nennen?"

"Lassen Sie mich doch in Ruhe", wollte dieser ihn einfach stehenlassen und schnell weitergehen. Doch der Hausmeister packte ihn mit eisernen Griff am Arm und hielt ihn fest. "Ich denke, es ist an der Zeit, daß wir beide uns mal unterhalten", sagte er in einem Ton, der keinerlei Widerspruch zuließ. "Ich habe dir etwas versprochen, falls du dich noch dunkel erinnerst. Und man soll doch halten, was man verspricht, nicht wahr?"

Merle nickte wie unter Zwang und leistete auch keinen nennenswerten Widerstand, als der Hausmeister, der über erstaunliche Kräfte verfügte, ihn mit sich über den Rasen bis in seine Wohnung zog. Erst als Merle in der Küche auf dem Holzstuhl saß und der Hausmeister ihm von hinten einen Lappen mit einer stechend riechenden Substanz aufs Gesicht preßte, wehrte er sich mit aller Kraft. Aber da war es zu spät...

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 6. August 1997

5. Februar 2007