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PSYCHO/018: ... und tief ist sein Schein (18) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Dr. Kalwin hatte Viola lange nicht mehr in sein Büro gebeten. Sie ahnte nichts Gutes, als sie es nun wieder betrat und ihn mit einem mißbilligenden Gesichtsausdruck in den mit Kurven beschriebenen Seiten eines EEGs blättern sah.

"Setzen Sie sich bitte", sagte er grußlos und kühl, ohne dabei aufzublicken. Mit dem gelösten, beinahe zugänglichen Mann, der sie vor einiger Zeit in ihrer Wohnung besucht hatte, konnte man ihn nun nicht mehr in Verbindung bringen. Er war jetzt ganz Dr. Kalwin, Stationschef und Vorgesetzter, der sich gegenüber seinen Mitarbeitern nicht in überflüssigem Entgegenkommen verausgabte.

"Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?" herrschte er Viola unvermittelt in einer Lautstärke an, daß sie schon fragen wollte, ob er gerade ein Seminar für Gehörlose gegeben hätte. Doch ihr Instinkt warnte sie, ihn zu provozieren.

"Wobei gedacht?" fragte sie daher mit einem liebenswürdigen Lächeln, das deutlich machte, wie wenig sie sich durch seine aggressive Art einschüchtern ließ.

"Ich hatte selbstverständlich angenommen, daß Sie in der Lage sind, ein brauchbares EEG anzufertigen. Doch was ich hier sehe, weckt in mir erhebliche Zweifel an Ihrer fachlichen Kompetenz." Er blätterte unwillig ein anderes EEG durch, das er einer vor ihm liegenden Mappe entnommen hatte, die Viola durchaus vertraut war. Irgendwie hatte er sich verändert, registrierte sie mit Besorgnis. Seine souveräne Gelassenheit war einer rastlosen Gereiztheit gewichen.

"Einige kurze Sprechphasen hätte ich ohne weiteres durchgehen lassen, schließlich glaube ich nicht an eine geheimnisvolle Verbindung zwischen kriminellem Verhalten und neuronalen Impulsen. Aber besonders bei zwei Personen kann man das teilweise kaum noch als Sprechphasen bezeichnen. Das sind regelrechte Monologe. Und das alles in der Untersuchungszeit. Sie scheinen einen ganz besonderen Geschmack zu haben, was Ihre Unterhaltung angeht, nicht wahr?"

"Die meisten reden während der gesamten Prozedur nicht ein einziges Wort. Soll ich die beiden einzigen, die es tun, gewaltsam am Sprechen hindern? Soll ich ihnen vielleicht damit drohen, Sie zu holen?"

Dr. Kalwin ließ die Bemerkung mit halbgeschlossenen Augen kommentarlos an sich abgleiten.

"Sie haben wohl vergessen, daß Sie die Pfleger rufen müssen, wenn Sie die Untersuchung nicht ordnungsgemäß durchführen können. Schließlich stehen sie Ihnen für derartige Fälle zur Verfügung." Er behielt seinen zurechtweisenden Ton bei. Viola wunderte sich, daß sie so gelassen bleiben konnte. Sie hielt dem eisigen Blick seiner grauen Augen mühelos stand, denn in ihr war eine Dunkelheit, in der sich jeder noch so vernichtende Blick wirkungslos verlor. Wie stets, wenn sie an Preacher dachte, durchströmte sie auch jetzt eine konturlose Ruhe und Furchtlosigkeit. Als Dr. Kalwin irritiert den Blick senkte, stieg ein leises Triumphgefühl in ihr auf, der jedoch sofort wieder verschwand, als er sagte:

"Es läßt sich wohl nicht umgehen, daß ich die Untersuchungen selbst zuendeführe. Offensichtlich habe ich ihr Kontaktbedürfnis unterschätzt." Den letzten Satz bemühte er sich mit einer gewissen Anzüglichkeit zu betonen.

Viola wurde schlagartig klar, daß sein Eindruck, sie würde sich gewissermaßen auf Männerjagd befinden, sich in diesem Augenblick gegen sie kehrte. Wenn er sie für mannstoll oder kontaktbedürftig hielt, war es ihr persönlich zwar egal. Doch wenn er die Untersuchungen selbst durchführte, war Preacher für sie von einem Tag auf den anderen so unerreichbar wie der Mars. Diese Erkenntnis ließ sie die heftige Erwiderung hinunterschlucken, die ihr auf der Zunge lag.

"Volker Götting", las Dr. Kalwin gedehnt Merles Namen vom Deckblatt des EEG, das vor ihm lag. "Ich begreife nicht, was Sie sich von einem solchen Subjekt erzählen lassen. Wissen Sie, was für Abschaum das ist? Wissen Sie, was er getan hat? Ein dreijähriges türkisches Mädchen hat er erwürgt. Ein zutrauliches, hilfloses Kind hat er auf dem Gewissen, das nur ein paar Minuten mit ihm allein gewesen ist. Und Sie hören sich geduldig an, was solch eine Bestie Wichtiges zu sagen hat. Es tut mir leid, aber Ihre Art der Menschenfreundlichkeit ist mir doch ein wenig zu -wahllos."

Viola wäre nicht einmal sonderlich verwundert gewesen, hätte er am Ende seiner Rede vor Verachtung vor ihr ausgespuckt. Aber so weit hatte er sich noch in der Gewalt. Die EEGs konnten allerdings nicht allein der Auslöser seiner unmäßigen Wut sein, denn so viel war ihm an der lästigen Untersuchung der Hirnstrommuster-Anomalien mit Sicherheit nicht gelegen. Nun hatte er ihr eine klassische Falle gestellt: Sie konnte ihre Handlungsweise nicht rechtfertigen, ohne dadurch in gewisser Weise Nachsicht gegenüber Merles verabscheuungswürdiger Tat zu zeigen. Und genau darauf wollte er sie festnageln: auf ihre mangelnde Bereitschaft, endgültig ausgrenzende Urteile zu fällen.

Dabei gelang es ihr kaum, sich vorzustellen, daß jemand, mit dem sie bereits mehrmals gesprochen hatte, zu so etwas Schrecklichem fähig war. Zwar war ihr von vornherein klar gewesen, daß sie es mit psychotischen Gewaltverbrechern zu tun hatte, doch hatte sie es nie für nötig gehalten, sich über die genauen Gründe für ihre Einweisung zu informieren. Vielleicht wollte sie auch einfach nur unvoreingenommen bleiben.

"Im sicheren Schoß von Mutter Moral läßt es sich herrlich leicht verdammen", sagte sie schließlich mit ironischem Lächeln und zuckte mit den Schultern, als habe sie von ihm auch nie etwas anderes erwartet. "Und es sind nicht selten die erfolgreichsten Männer, die dort ihren Stammplatz haben. Nur um vielleicht ein paar Stunden später einem wehrlosen Patienten Stromstöße durchs Gehirn zu jagen."

An Dr. Kalwins scharfem Einatmen merkte Viola, daß sie zu weit gegangen war. Die Auseinandersetzung zwischen Chef und Angestellter war zu einem persönlichen Konflikt eskaliert.

"Jetzt kommen Sie mir nicht so", brüllte Dr. Kalwin und schlug krachend mit der Faust auf den Tisch. "Ihre Unverfrorenheit ist wohl kaum noch zu überbieten."

Er sah sie an wie ein gereizter Tiger, der sich jeden Moment auf sie stürzen würde. Seltsamerweise fürchtete Viola sich nicht vor ihm. Irgend etwas in ihr ahnte, daß der sonst so unterkühlte Dr. Kalwin bei ihr die Beherrschung verlor, weil sie ihm immer noch nicht gleichgültig war. Er wollte sie verachten, aber es gelang ihm nicht wirklich. Und das brachte ihn in Wut. Vielleicht brachte Viola es deshalb fertig, ihn plötzlich völlig unbefangen anzulächeln und mit liebenswürdigem Charme zu sagen: "Ich glaube, es wäre an der Zeit, daß wir wieder zusammen ein Eis essen gehen. Wir könnten wohl etwas Abkühlung vertragen."

Zuerst glaubte sie, er würde aufspringen und sie eigenhändig hinauswerfen, doch dann warf er den Kopf zurück und lachte, daß ihm die Tränen in den Augen standen.

"Daraus kann heute nichts werden", sagte er schließlich immer noch lachend. "Sie sind mir einfach zu aufreibend. Ich komme mir mit Ihnen vor wie in der Achterbahn. Und wenn es nach meinem Hausarzt ginge, dürfte ich eigentlich nicht einmal hier am Schreibtisch sitzen."

Erst jetzt fiel Viola auf, daß der sonst so gesundheitsstrotzende Dr. Kalwin irgendwie abgemagert wirkte und unter seinen Augen dunkle Schatten lagen. Unwillkürlich sah sie Merles hageres, dunkles Gesicht vor sich und hört ihn sagen: 'Und weil Preacher ihn nicht annimmt, kehrt der Schmerz zu Dr. Kalwin zurück. Vielleicht erst in ein paar Wochen. Aber mit voller Gewalt.'

Wäre ihr letztes Gespräch mit Preacher nicht gewesen, sie hätte sich über ihre eigenen abergläubischen Gedanken amüsiert. Doch sie spürte selbst in ihren Träumen die verhaltenen Präsenz jener sanften Dunkelheit, die Preachers Hand entströmt war und für einen Moment alles Leid in ihr ausgelöscht hatte. Das war kein Aberglaube, sondern realistischer als jeder Sinneseindruck.

"Ich hoffe, Ihnen fehlt nichts Ernstes", sagte Viola besorgter, als aufgrund der Situation gerechtfertigt war. Sicher, Dr. Kalwin hätte es verdient, den Schmerz, den seine sogenannte Behandlungsmethode hervorrief, am eigenen Leib zu spüren. Doch was war eine Rache wert, wenn das Opfer nicht die geringste Ahnung hatte, weshalb es litt? Viola erinnerte sich plötzlich, daß Preacher ihr gegenüber nie die Absicht geäußert hatte, sich an Dr. Kalwin zu rächen. 'Dr. Kalwin ist im Moment nicht wichtig' war sein einziger, beiläufiger Kommentar in dieser Angelegenheit gewesen. Viola fand den Gedanken seltsam beunruhigend, daß Preacher vielleicht nicht einmal zu hassen brauchte, um jenen zu schaden, die ihm übel wollten.

"In ein paar Tagen bin ich wieder fit", winkte Dr. Kalwin ab. "Und nun gehen Sie besser, denn ich meine, daß Sie heute noch ein paar von diesen leidigen EEGs bewältigen müssen. Und lassen Sie sich nicht als Abfalleimer für irgendwelche überdrehten Phantasien benutzen, etwas anderes stellen Sie für diese Leute nämlich nicht dar."

"Wie gut, daß es bei Ihnen anders ist", mußte Viola noch einmal seinen wunden Punkt berühren, doch bevor er etwas erwidern konnte, hatte sie mit einem fröhlichen `Auf bald' den Raum verlassen.


*


Die Luft war lau und am Himmel hatten sich die Federwölkchen bereits rosa gefärbt. Weiße Löwenzahnsamen trieben gemächlich durch die Luft und am Wegrand stimmten die Grillen ihr Abendkonzert an. Im Fernsehen wurde heute das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft übertragen und die Straßen waren daher wie leergefegt.

Merle schlenderte den buschumsäumten Weg entlang, der zum Stadtpark hinunter führte. Die kleine Werkstatt, in der er als Automechaniker arbeitete, hatte heute früher geschlossen, weil während des Spiels ohnehin kein Kunde mehr kommen würde. Und Merle war im Augenblick nicht an Fußball interessiert. Er hatte auch keine Lust, in dem möblierten Zimmer zu bleiben, das er seit etwa einem Jahr bewohnte, zumal er müde war und nicht vor dem Fernseher einschlafen wollte.

Mit seiner hüftlangen schwarzen Lederjacke und der schwarzen Cordhose wollte Merles hagere Gestalt nicht so recht in die sommerliche Gartenlandschaft passen. Wegen seiner dunklen Haut wurde er oft für einen Gastarbeiter gehalten und so fand sich immer schnell eine Erklärung für das Fremde, Unnahbare, das von ihm ausging.

In dem weitläufigen Park befand sich auch ein großer See, in dessen Wellen jetzt das Abendrot blinkte. Merle hatte die alte Frau, die allein am Ufer stand und die Schwäne fütterte, schon öfter hier gesehen. Sie hatte nie soviel Geld bei sich, um sich in dem menschenleeren Park vor Diebesgesindel zu fürchten.

Langsam, die Hände in den Taschen, ging Merle über den sorgsam gepflegten Rasen zu ihr hinüber. Er hörte, wie sie laut mit den Schwänen sprach, die ihr die Brotbrocken im Vorüberschwimmen aus der Hand nahmen. Als Merle neben ihr stehenblieb, spreizte einer der Schwäne die Flügel und stieß ein unwilliges Zischen aus.

"Adolar, sei nicht so unhöflich", wurde das Tier von der Alten liebevoll zurechtgewiesen. "Dieser junge Mann hat genauso das Recht, hier zu sein, wie du."

Das Mütterchen mit dem vorsintflutlichen Filzhut auf dem weißen Haar wandte Merle ihr faltenreiches, gütiges Gesicht zu.

"Wollen Sie auch einmal werfen?" hielt sie ihm die Tüte mit den Brotbrocken hin. Merle schüttelte stumm den Kopf und zündete sich eine Zigarette an.

"Daß ihr jungen Leute immer rauchen müßt", seufzte das Weiblein mißbilligend und hielt Adolar eine Brotkrume hin, der es jedoch vorzog, dem Ufer nicht zu nahe zu kommen. "Sehen Sie, die Schwäne mögen das auch nicht."

Merle sah die alte Frau mit seinen harten Augen an, die wie schwarze Kiesel wirkten, ohne jede Tiefe. Instinktiv drückte die Frau die Tüte mit den Brotstückchen an die Brust und trat einen kleinen Schritt zurück. Mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewegung schnippte Merle seine Zigarettenkippe direkt in Adolars aufgeplustertes Gefieder. Der Schwan stieß einen gellenden Schrei aus und schüttelte sich wild, bevor er mit den anderen über den See davonschoß.

"Scheißviecher", sagte Merle zu der alten Frau, die immer noch mit zitternden Händen die Brottüte an sich drückte. Dann ging er ohne Hast am Seeufer entlang davon.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 23. August 1997

9. Februar 2007