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PSYCHO/022: ... und tief ist sein Schein (22) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Für Viola hatte sich vieles verändert. Ihr kam es so vor, als wäre sie noch vor ein paar Wochen wie eine leere Hülse durch ihr Leben gegangen, immer in dem verzweifelten Bemühen zu verbergen, daß es in ihrem Innern nichts, aber auch gar nichts zu entdecken gab. Nun war ihr dieses Nichts zum Freund geworden, sie war von ihm erfüllt und aller Mühe enthoben, vorzutäuschen, daß an ihr etwas Nahrhaftes wäre, das sich zu Konsumieren lohnt.

Zuerst hatte sie es nicht glauben wollen, doch nachdem ganze sechs Wochen ohne einen einzigen morgendlichen "Zwischenfall" vergangen waren, ließ sie endlich die Erkenntnis zu, daß auch ihre Inkontinenz der Vergangenheit angehörte. Von da an wurde Viola täglich klarer, wie sehr diese Krankheit ihr Leben und vor allem ihr Verhältnis zu anderen bestimmt hatte. Nun dachte sie nicht mehr als erstes, wenn sie einen anderen Menschen kennenlernte: Ob er sich auch noch für mich interessiert, wenn er weiß ...? Sie dachte eigentlich überhaupt nichts, sondern nahm sich die Zeit, erst einmal zuzuhören.


*


Auf der benachbarten Station gab es zwei junge Schwestern und eine Krankengymnastin, zu denen Viola schon etwas länger einen lockeren Kontakt unterhielt. Hauptsächlich, weil die drei jungen Frauen in der Mittagspause oft ein lustiges Trio bildeten und es ganz offensichtlich fertigbrachten, sich köstlich zu amüsieren, ohne ständig nach Männerblicken zu haschen, fühlte Viola sich zu ihnen hingezogen. Auch Dr. Kalwin gehörte nicht zu ihren ständigen Gesprächsthemen.

Diese drei Frauen waren es, die Viola heute nachmittag im Schwesternzimmer einträchtig neben der brodelnden Kaffeemaschine versammelt fand.

"Los, nun frag' sie schon", stubste Schwester Simone, ein rothaariger Krauskopf mit Sommersprossen und Himmelfahrtsnase, die Krankengymnastin Karola Sommer in die Seite.

"Frag' sie schon wonach?" wollte Viola wissen, die sich irgendwie gemeint fühlte.

"Ob du uns als viertes Rad am Wagen zur Jagdhütte meiner Eltern in die Wildnis begleiten möchtest", lachte Karola sie spitzbübisch an, was ihr eher bieder-blondes Aussehen Lügen strafte. Ihre Augen blitzten unternehmungslustig, als sie fortfuhr: "Ein echtes Waldfrauen- Wochenende, mit hysterischen Anfällen wegen der Brombeerflecken auf der Lieblingsjeans, zünftigem Giftpilzraten und Rauchvergiftung am Kamin."

"Klingt sehr verlockend", mußte Viola erst einmal in ihr Lachen einstimmen. Doch als sie dann gewohnheitsmäßig die Geschichte von ihrer herzkranken Mutter zum besten geben wollte, hielt sie plötzlich inne. Eigentlich gab es ja keinen Grund mehr, weshalb sie nicht auch einmal ein paar Nächte außer Haus verbringen sollte. Sie wollte so schnell wie möglich ihre Angst davor verlieren. Und für das erste Mal waren diese drei wirklich die ideale Begleitung.

"Stell dir vor, eine echte Blockhütte mitten im Wald", schwärmte die zierliche Bettina Roscher, ebenfalls Krankenschwester, ihr glaubwürdig vor. Aber Viola hatte auch so ihren Entschluß gefaßt.

"Wann wollen wir fahren?" fragte sie einfach, was ihr zunächst ein begeistertes, mehrhändiges Schulterklopfen eintrug.

"Ich dachte, wir fahren Freitag gleich nach der Arbeit los und kommen am Sonntag abend zurück, sofern wir aus dem Dickicht wieder herausfinden", schlug Karola vor.

"Gut, dann heißt es jetzt also, den moosgrünen Robin-Hood-Dreß nebst Pfeil und Bogen eingepackt", fabulierte Simone fröhlich.

"Und genügend Zielwasser, damit deine Pfeile nicht den Oberförster ins Herz treffen", ergänzte Karola spitzbübisch.

"Hör bloß auf", tat Simone entrüstet, "das Thema ist an diesem Wochenende tabu. Es werden nur echte Hirsche erlegt."

"Ich glaube, ich nehme doch vorsichtshalber ein paar Dutzend Ravioli- Dosen mit," beschloß Bettina, die bekanntermaßen trotz ihrer grazilen Gestalt in allen Lebenslagen einen enormen Appetit entfalten konnte.

"Schade" seufzte Karola plötzlich beim Blick auf die Uhr, "es ist wieder mal so weit. Am besten treffen wir uns heute abend, um die ganze Angelegenheit ausführlich zu besprechen. Ich schätze, allein für Bettinas Essensvorräte müssen wir uns einen Lieferwagen mieten."

"Ach, ich wußte gar nicht, daß du dich neuerdings zu den Asketen zählst", gab Bettina schlagfertig zurück. "Kompliment, man sieht es dir überhaupt nicht an!"

"Jedenfalls finde ich es toll, daß Viola mitkommt", sagte Simone im Hinausgehen. "Sie scheint die einzig vernünftige auf dieser Station zu sein, weil sie nicht gleich beseeligt in Ohnmacht fällt, wenn Dr. Kalwin ihr guten Morgen wünscht."

"Was haltet ihr davon, wenn wir uns heute abend im Eulennest treffen?" schnitt Viola absichtlich ein anderes Thema an.

"Das scheint mir für echte Waldfrauen der richtige Ort zu sein", stimmte Karola zu.

"Und alte Uhus gibt's da auch nicht", ergänzte Simone.

Viola ließ sich nur zu gern von der unbeschwerten Unternehmungslust der drei anstecken. Wohl kam sie sich ein wenig kindisch vor, doch genoß sie das unvertraute Gefühl, einmal alle Sorgen zu vergessen und sich auf ein fröhliches Abenteuer einzulassen. Ihr Vorschlag, sich im Eulennest zu treffen, fand bei Bettina ebenfalls Anklang, denn es war eine gemütliche Studentenkneipe und als Treffpunkt besonders bei Frauen, die mal ungestört reden wollten, sehr beliebt.


*


Die Jagdhütte lag am Rande einer Lichtung inmitten eines weitläufigen Waldgebietes. Das Herbstlaub glühte in allen Farben und der Duft von Harz und feuchtem Waldboden vervollständigte den Sinnesgenuß, dem Viola sich unbekümmert hingab. Früher hatte sie sich nie so empfänglich gefühlt für die Schönheit des Augenblicks, in die sie nun vollständig eintauchen konnte. Auch ihre drei Begleiterinnen ließen sich bereitwillig von dem Zauber des abendlichen Herbstwaldes einspinnen. Erst vor einer knappen Stunde hatten sie ihre Sachen in die Hütte gebracht und sich dann spontan zu einem Erkundungsspaziergang entschlossen, obwohl der Abendnebel bereits erste Schleier zwischen die Baumstämme flocht.

Eine Stunde später, zurück in der Hütte, gelang es Karola trotz der Neckereien der anderen mühelos, im Kamin ein Feuer zu entfachen, das den im Jagdstil eingerichteten Wohnraum nicht mit Rauch, sondern mit behaglicher Wärme erfüllte. Bettina, die nicht nur eß-, sondern auch kochbegeistert war, machte sich voller Elan in der winzigen Küche zu schaffen, die mit einem Gasherd und diversen praktischen Kochutensilien ausgestattet war. Simone hatte einen siebenarmigen Kerzenleuchter entdeckt und zündete nun erfreut die ebenfalls vorhandenen Kerzen an. Der Tisch, den sie zusammen mit Viola gedeckt hatte, sah dadurch richtig feierlich aus und der Rotwein funkelte edel in den einfachen Gläsern.

"Kaum zu glauben, daß wir heute mittag noch nüchterngraue, neonbeleuchtete Klinikflure entlanggehastet sind", sagte Viola und schaute versonnen in das knisternde Kaminfeuer, aus dem sich immer wieder mit scharfem Knacken winzige Glutpünktchen lösten und eilig den Rauchfang hinaufstoben.

"Lassen wir die Klinik wo sie ist, nämlich schön weit weg", schlug Simone vor. "Ich für meinen Teil leide an diesem Wochenende konsequent an Gedächtnisschwund."

"Keine schlechte Idee, auch wenn mir ein bißchen unbehaglich wird beim Gedanken an den Pullover, den du vorhin bei mir ausgeliehen hast", befand Karola.

"Was denn für einen Pullover?" setzte Simone, die das gute Stück unter ihrer Jeansweste trug, gekonnt eine Unschuldsmiene auf.

Viola verfolgte das lustige Geplänkel mit gemischten Gefühlen. Einerseits genoß sie die frohgemute Leichtigkeit, die ihre drei Begleiterinnen um sich verbreiteten. Doch andererseits hielt sie irgend etwas davor zurück, sich rückhaltlos ihrer unbekümmerten Art anzuschließen. Sie konnte die Klinik und was sie dort erlebt hatte, nicht einfach abstreifen wie einen Arbeitskittel.

Unwillkürlich mußte sie an Preacher denken. Ob er jemals wieder frei durch einen Herbstwald schlendern würde? Wohl kaum. Aber im selben Moment wußte sie auch, daß er unter Freiheit etwas anderes verstand. Ganz genau erinnerte sie sich plötzlich daran, daß sie ihm gegenüber einmal ihre Neigung erwähnt hatte, so oft wie möglich ungebunden durch die Natur zu streifen. Er hatte ihr daraufhin etwa so erwidert: "Da sind, Viola, die wahrnehmbaren Formen, die Töne, die Düfte und die Empfindungen - begehrenswerte, entzückende, reizende, liebliche. Wenn du dich ihnen hingibst, sie bejahst, an ihnen festhälst, so erwächst dir dabei ein Durst, ein Verlangen. Und wenn Durst da ist, bist du gefesselt. Wenn du gefesselt bist, bist du nicht frei."

"Ehrwürdige Waldfee, es ist angerichtet", holte Karolas Stimme sie wieder in die Gegenwart zurück.

"Mensch, du siehst manchmal so irre tiefsinnig aus", bekannte Simone voll echter Bewunderung. "Ich fürchte, das wird mir nie gelingen."

Viola schüttelte sich lachend, als müßte sie sich gewaltsam von etwas befreien.

"Traust du meinen Kochkünsten nicht?" mißdeutete Bettina mutwillig die Geste. "Das Rate-mal-welcher-Pilz-Gericht steht erst morgen auf dem Plan."

Tatsächlich nahm Viola erst jetzt den köstlichen Duft wahr, der aus den dampfenden Schüsseln stieg.

"Oh doch", erwiderte sie mit einer seltsamen Betonung, "und nicht nur Hunger. Ich habe auch Durst. Und ich finde, es ist ein herrlich lebendiges Gefühl!"

"Jedem seine Philosophie", zuckte Bettina mit den schmalen Schultern. "Hauptsache, es schmeckt!"

So machten sie sich ohne Ziererei über das Essen her, das wirklich vorzüglich zubereitet war und Bettina reichlich Lob eintrug. Und als Viola sich nach einem anregenden, selten harmonischen Abend auf der schmalen Campingliege ausstreckte, war ihr so, als wäre die Klinik und alles, was damit zusammenhing, zu einem winzigen Punkt in ihrem Leben zusammengeschnurrt. Was ihr tags zuvor beinah noch lebenswichtig vorkam, erschien ihr auf einmal so unbedeutend wie ein kleiner Farbtupfer in einem riesigen Gemälde. Vielleicht war Preacher doch nur ein ungewöhnlicher Verrückter, dem es gelungen war, eine labile Persönlichkeit wie sie selbst in seinen Bann zu ziehen und dabei rein zufällig einen Heilungseffekt hervorzurufen, wie es keiner ihrer Psychotherapeuten vermocht hatte.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 26. Oktober 1997

23. Februar 2007