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PSYCHO/025: ... und tief ist sein Schein (25) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Viola mußte sich eingestehen, daß sie sich auf die Begegnung mit Dr. Kalwin freute, als sie in die gepflegte Einfahrt der Spezialklinik einbog. Dr. Kalwin wußte nicht, daß sie kommen würde und rechnete sicherlich auch nicht damit. Nach Auskunft von Dr. Beck, mit dem Viola gesprochen hatte, sollte er sich nach einer recht langwierigen Behandlung allmählich wieder auf dem Wege der Besserung befinden.

Nach dem Wochenende im Waldhaus hatte Viola sich nicht wieder in ihr altvertrautes Schneckenhaus zurückgezogen, sondern traf sich nach Feierabend häufiger mit ihren drei Freundinnen, um ein wenig zu klönen oder gemeinsam etwas zu unternehmen. Viola fühlte sich im Grunde glücklich mit ihrem neuen Leben, wenn da nicht diese seltsame Unrast gewesen wäre, die sie nirgends wirklich zur Ruhe kommen ließ. Immer noch überkam sie zeitweilig das Gefühl, daß auf sie etwas Dunkles, Ungreifbares lauerte - eine Gefahr, die irgendwo in ihrem Innern darauf wartete, daß sie Haltlosigkeit und Selbstzweifel überkamen.


*


Heute morgen hatte sie Preacher zum ersten Mal nach ihrem Ausflug wiedergesehen, um ein EEG anzufertigen. Nach allem, was vorgefallen war, verspürte sie eine gewisse Scheu davor, mit ihm allein zu sein. Der Gedanke, daß sie sogar bereit gewesen war, ihm zur Flucht zu verhelfen, verursachte ihr inzwischen großes Unbehagen. Wie einsam mußte sie gewesen sein, um es fast schon als Offenbarung zu empfinden, die Hand eines Menschen zu halten, der einfach nur freundlich zu ihr war - und in seinen Worte den Halt zu suchen, der ihr ansonsten gefehlt hatte.

Glücklicherweise schien Preacher diesmal nicht zum Sprechen aufgelegt. Er wirkte in sich gekehrt und erweckte den Eindruck, sie kaum wahrzunehmen. Nur als Viola die Elektroden entfernte und ihm dabei kurz in die Augen sah, wäre sie beinahe zurückgezuckt, denn sein Blick war so verwirrend, daß sie einen Moment lang fürchtete, von ihm wieder in jene Tiefe herabgezogen zu werden, aus der sie gerade erst mühsam aufgetaucht war. Sie hatte sich brüsk abwandt und so getan, als wäre sie mit dem Zusammenfalten des EEGs beschäftigt, als er leise und mit einem etwas traurigen Lächeln zu ihr sagte:

"Es gibt Menschen, Viola, die haben die Suche nach Halt endgültig aufgegeben, für immer abgetan. Diese Menschen werden die Fallenden genannt. Und es gibt Menschen, die diese Suche stets aufs neue beginnen, die sie nicht beenden wollen. Diese Menschen nennt man die Haftenden. Wenn mir nun, Viola, ein Fallender, so wie ich selbst es bin, die Hand reicht, so halte ich sie. Reicht mir jedoch ein Haftender die Hand, so lasse ich sie fallen."

Viola, in der ein unerklärlicher Widerwille aufgestiegen war, in diesen Worten nach einem Sinn zu suchen, hatte stillschweigend unterstellt, daß es einen solchen gar nicht gab und schnitt unvermittelt ein anderes Thema an.

"Dr. Kalwin scheint es ziemlich übel erwischt zu haben", bemerkte sie beiläufig. Und Preacher hatte zu ihrem Erstaunen geantwortet:

"Ja, das ist wahr. Er war sogar hier und hat mich um Hilfe gebeten."

"Sicher hast du versucht, ihm zu helfen", hatte Viola sogleich gemutmaßt. Ihr war dabei gar nicht aufgefallen, daß sie nicht im veringsten daran zweifelte, daß Preacher dazu in der Lage war.

"Nein", antwortete er so selbstverständlich, daß sie zunächst annahm, er hätte doch noch eine Gelegenheit genutzt, sich an Dr. Kalwin zu rächen.

Doch Preacher erklärte daraufhin ohne eine Spur von Haß, aber auch ohne jegliches Bedauern: "Dr. Kalwin wollte von mir geheilt werden, nicht befreit. Er ist ein Haftender, und ich habe seine Hand fallen lassen, als er sie mir reichte." In Viola war bei diesen Worten eine solche Empörung aufgestiegen, daß sie ohne ein weiteres Wort nach den Pflegern gerufen hatte, damit sie ihn Preacher seine Zelle zurückbrachten.


*


Jetzt, als Viola ihr Auto auf dem Parkplatz der Spezialklinik abstellte und die ganze Situation noch einmal überdachte, mußte sie im nachhinein über sich den Kopf schütteln. Was erwartete sie eigentlich von einem Menschen wie Preacher, der wegen Mordes im Zustand geistiger Unzurechnungsfähigkeit Insasse einer psychiatrischen Klinik war? Ihre Erwartungen in seine Fähigkeiten und in seine Wertbegriffe waren dermaßen überzogen, daß es schon an Infantilität grenzte. Preacher war ein kranker Mensch, der in seiner eigenen Welt lebte, kein Wundertäter. Sie tat ihm keinen Gefallen, wenn sie in ihm etwas zu sehen versuchte, was selbst ein Gesunder nicht sein konnte.

In einem Punkt hatte Dr. Kalwin recht, dachte sie schließlich und nahm sich vor, ihm das auch zu sagen. Es war besser, zu den Patienten einen gewissen Abstand zu wahren, sonst lief man in einer labilen Phase doch Gefahr, zu sehr den Bezug zur Realität zu verlieren.


*


Viola hatte bei einer Stationsschwester die Zimmernummer von Dr. Kalwin erfragt. Erst auf ihr zweites Klopfen hin ertönte aus dem Raum ein etwas verwundertes "Ja bitte". Da die Ärzte und Schwestern der Klinik nicht anzuklopfen pflegten, fragte er sich sicher, wer vor der Tür stand. Schon am überraschten Blick der Schwester hatte Viola gesehen, daß er nicht häufig Besuch erhielt. Seine zahlreichen Verehrerinnen waren von seiner Krankheit offenbar verschreckt worden.

Spontan kam Viola in den Sinn, die Tür nur einen Spalt breit zu öffnen und wortlos den dicken Kopf des riesigen Plüschgorillas ins Zimmer blicken zu lassen, den sie ihm mitgebracht hatte. Doch da sie nicht genau wußte, ob er schon wieder Sinn für derartige Scherze hatte, unterließ sie es lieber und betrat mit forschem Schritt das freundliche kleine Krankenzimmer.

Glücklicherweise konnte sie ihr Erschrecken einigermaßen verbergen, als sie sein bleiches, abgezehrtes und auf der rechten Seite immer noch von Spuren der Krankheit gezeichnetes Gesicht sah. Dennoch hatte er ihre Reaktion bemerkt und sagte mit einer Stimme, die ihren herrischen Klang völlig verloren hatte:

"Kommen Sie ruhig näher, ich bin es wirklich, und ich bin auch noch am Leben, selbst wenn man das auf den ersten Blick nicht erkennt."

"Wenn Sie schon wieder solche Reden schwingen können, will ich das gerne glauben", gelang es Viola jetzt endgültig, ihre Betroffenheit abzuschütteln.

"Zu mehr langt es allerdings noch nicht", deutete er mit einer müden Geste, die mehr als alles andere seine Worte unterstrich, auf einen Sessel, der neben dem Bett stand. "Was die Krankheit von mir übriggelassen hat, hat die Therapie erledigt", kommentierte er mit einem Anflug von Zynismus seine unübersehbare Schwäche.

"Damit Sie nicht etwa vergessen, worauf es für einen Mann im Leben ankommt, habe ich Ihnen Bruno mitgebracht", setzte Viola den grimmig dreinblickenden Plüschgorilla einfach auf Dr. Kalwins Bettdecke. "Er hat das, was Sie im Augenblick offenbar schmerzlich vermissen: Kraft wie ein Gorilla und ein undurchdringlich dickes Fell."

"Müssen Sie eigentlich alles immer gleich auf den Punkt bringen", beschwerte sich Dr. Kalwin, aber er lachte dabei. Ganz kurz blitzte dabei in seinen Augen ein schwacher Abglanz jener Energie auf, die ihn zuvor ohne besonderes Zutun überall zu einer herausragenden Erscheinung gemacht hatte. Absichtlich zweideutig ergänzte er dann: "Es freut mich jedenfalls sehr, jemanden bei mir zu haben, der keinen weißen Kittel trägt." Es klang weder ironisch noch arrogant.

"Nanu, sind Sie Ihres Berufsstandes etwa überdrüssig geworden? Ich dachte, Sie können es kaum erwarten, Ihren Kittel wieder anzuziehen", entfuhr es Viola in ehrlicher Verwunderung.

"Nun, vielleicht habe ich eingesehen, daß es auch noch andere Dinge gibt, die wichtig sind", sagte er und musterte sie mit einem undefinierbaren Blick. "Ich glaube, Sie haben sich auch ein wenig verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben", bemerkte er nach einer Weile nachdenklich. "Das meine ich in Ihrem Fall natürlich positiv. Irgendwie sehen Sie bodenständiger aus, nicht mehr so weltfern und unergründlich. Und außerdem tragen Sie kein Parfüm mehr."

"Schon möglich, daß die Welt mir näher gerückt ist", lächelte Viola ihn an und dachte, daß sie ihm so, wie er im Augenblick war, sogar anvertrauen würde, was der Grund für ihre ausgiebige Verwendung von Parfüm gewesen war, gäbe es eine Veranlassung dafür. Doch daß es eine solche jetzt nicht gab, dafür hatte sie ja selbst mit Tücke und List gesorgt.

Nachdem Viola ihm durch ihre anschaulichen, scherzhaften Schilderungen des Klinikalltags ein paarmal ein amüsiertes Lächeln entlockt hatte, wollte sie wieder gehen, denn sie sah, daß selbst das Zuhören ihn auf die Dauer anstrengte. Als sie sich verabschieden wollte, sah sie in seinem Blick eine Einsamkeit, die sie zutiefst erschütterte.

"Kommen Sie bald wieder, bitte - ", sagte er noch und mußte dann vor Erschöpfung die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, war Viola schon fort. Nur der große Plüschgorilla saß auf seiner Bettdecke und schaute grimmig auf ihn herab. "Sie wird glauben", sagte er zu seinem neuen Zimmergenossen, "daß ich ein richtiger Schwächling geworden bin. Zeit, daß das wieder anders wird!" Mit entschlossener Miene richtete er sich auf und klingelte nach der Schwester.


*


Der nächste Morgen war für Viola vielleicht einer der schwärzesten in ihrem Leben. Nachdem sie sich endlich für geheilt gehalten hatte, war zu ihrer maßlosen Bestürzung ihr altes Problem wieder aufgetreten. Sie hatte sich in der Nacht beschmutzt, ohne es zu merken. Alles, was ihr in letzter Zeit lieb und wert geworden war, verlor mit einem Schlag seine Bedeutung. Als hätte ein riesige schwarze Faust sie niedergestreckt, so fühlte sie sich, am Boden zerstört, bar jeden Lebensmutes. In dieser trostlosen Verfassung fiel ihr wieder ein, was Preacher so kaltherzig über Dr. Kalwin gesagt hatte: "Er wollte geheilt werden, nicht befreit." Viola wollte in diesem Augenblick auch nichts anderes und sie schauerte zusammen bei dem Gedanken an die finstere Leere, die Preacher mit Freiheit verband. Zum ersten Mal beschlich sie, als sie an ihn dachte, ein leises, ahnungsvolles Grauen.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 20. November 1997

5. März 2007