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PSYCHO/030: ... und tief ist sein Schein (30) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Das Erziehungsheim lag wie verlassen in der nachmittäglichen Hitze des beginnenden Sommers, denn in der Aula fand eine der seltenen Filmvorführungen statt. Dieses Ereignis wollte sich niemand entgehen lassen, daher hatten sich die Heimzöglinge in seltener Eintracht dort versammelt. Außer Merle. Er hatte sich in einem unbeobachteten Augenblick davongestohlen und war hinüber zur Wohnung des Hausmeisters geschlendert, den er nun täglich besuchte. Merles Entlassung aus dem Heim stand unmittelbar bevor und er wollte von seinem zwar ungeliebten, doch kenntnisreichen Lehrmeister noch so viel wie möglich lernen. Zu Merles Verwunderung fand er ihn diesmal in seinem Vorgarten beim Unkrautjäten zwischen Krokussen und Schneeglöckchen.

"Du kommst gerade richtig", verzog Dämonenschmidt sein von Brandnarben entstelltes Gesicht zu einem Lächeln, das keine Auskunft darüber gab, ob sein spöttischer Gesichtsausdruck allein von den Narben herrührte oder seine Gemütsverfassung wiedergab. Übertrieben mühsam richtete er sich auf und bemerkte mit einem vielsagenden Blick in Merles Richtung:

"Solche Dinge soll man in meinem Alter Jüngeren überlassen. Ich glaube, es wäre eher für dich eine geeignete Aufgabe."

Merle würgte sein Aufbegehren gegen das ungewöhnliche Ansinnen seines Lehrers hinunter. Er begann bereits zu bedauern, nicht bei der Filmvorführung geblieben zu sein. Mit verächtlicher Miene stieg er über den niedrigen Holzzaun und fing lustlos an zu jäten. Der Hausmeister hatte ihn bisher noch nie zu irgendwelchen Arbeiten herangezogen, doch schien es Merle klüger, sich seinen Wünschen nicht zu widersetzen. Andernfalls lief man Gefahr, eine Lektion zu erhalten, die man so leicht nicht vergaß.

Der verwachsene Mann, dem sein Spitzname "Dämonenschmidt" sogar zu gefallen schien, verschwand vergnügt vor sich hinpfeifend in seiner Wohnung, nachdem er Merle noch einmal aufmunternd auf die Schulter geklopft hatte. Mit mürrischer Miene setzte Merle seine Tätigkeit fort. Er haßte Vorgärten, jene geometrisch geordneten Nachweise botanischen Wohlverhaltens, denn allein anzuerkennen, welche Pflanze als Unkraut und welche als erhaltenswert zu gelten hatte, erschien ihm stets als Demonstration einer gelungenen Verinnerlichung kleinbürgerlicher Werte. Sein Lehrer hatte in dieser Hinsicht offenbar keine Probleme, doch wirkten seine zahlreichen Alltagsverrichtungen, wie beispielsweise das Gärtnern, bei ihm stets wie eine subtile Verballhornung seiner Umgebung. Seinen Bewegungen haftete oft etwas Boshaft-Ironisches an, was allerdings nur Merle auffiel.

Merle selbst war nur von Widerwillen gegen die ihm aufgebürdete Pflicht erfüllt und kam sich dabei zunehmend lächerlich vor. Schließlich unterbrach eine freundliche Altfrauenstimme seine düsteren Gedanken:

"Daß ist aber mal fein, daß du dich so lieb um den Garten kümmerst, mein Junge", nickte die am Gartenzaun stehende Witwe des ehemaligen Heimdirektors Merle wohlwollend zu. Merles Miene verfinsterte sich zusehends, doch er würdigte sie keine Blickes. In aller Gemütsruhe riß er ein dickes Büschel blühender Schneeglöckchen aus und warf es achtlos in den Unkrauteimer, der neben ihm stand. Empört schnappte die alte Frau nach Luft, besann sich dann jedoch und eilte, so schnell sie konnte, zur Wohnungstür des Hausmeisters, um dort mit höchster Dringlichkeit die Klingel zu betätigen. Ein erregter Wortschwall ergoß sich gleich darauf über Dämonenschmidt, der ihr mit einem Ausdruck echter Besorgnis zuhörte und dann im leicht resignierten Tonfall des Leidgeprüften erwiderte:

"Ich hätte es wissen müssen. Der Junge ist ein bißchen - ", er wedelte mit der Hand vor der Stirn, um anzudeuten, daß Merle geistig zurückgeblieben war, was die Frau offenbar sofort besänftigte. Nachdem sie mit dem Hausmeister noch ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte, stapfte sie davon, nicht ohne Merle, der vor Wut am liebsten den Unkrauteimer nach ihr geworfen hätte, mit einem mitleidsvollen Lächeln zu bedenken.

"Ah, du bist schon fertig", empfing ihn gleich darauf der Hausmeister mit absichtlich schlecht gespielter Überraschung. Ein tückisches Glitzern lag dabei in seinen Augen, das Merle nichts Gutes verhieß.

"Nein", wagte Merle dennoch zu widersprechen, "und ich bin auch nicht hergekommen, um Aschenputtel zu spielen."

Dämonenschmidt lachte meckernd, als hätte Merle einen gelungenen Scherz gemacht. "Das bringt mich glatt auf eine Idee", kicherte er vergnügt. Doch dann nahm er die ernsthaft-teilnehmende Pose eines Psychologen ein und dozierte mit wichtigtuerischem Gestus: "Ich bin soeben zu der Ansicht gelangt, daß wir an deinem übersteigerten Selbstbehauptungsdrang noch dringend arbeiten müssen, wenn du jemals nennenswerte Fortschritte machen willst."

Merle zuckte scheinbar gleichmütig die Achseln, denn er wollte sich nicht die Blöße geben, seinen inneren Aufruhr bei dieser Ankündigung zu verraten. Immer, wenn Dämonenschmidt auf diese Art mit ihm sprach, folgte eine seiner ausgeklügelten Unterweisungen, deren wirkliche Härte und Unentrinnbarkeit niemand nachvollziehen konnte, der ihnen nicht unmittelbar ausgesetzt war.

"Du wirst mir ab sofort bei bestimmten Arbeiten zur Hand gehen", entschied der Hausmeister, ohne Merles ablehnende Haltung zu beachten. "Und ich hoffe, daß du dich nicht noch einmal so gehenläßt wie eben in meinem Vorgarten. Ich werde versuchen, dich von deinem Selbstbehauptungszwang zu befreien", schloß er gönnerhaft, "soweit es eben möglich ist."

"Aber ich bin nicht hier, um mich in Demut zu üben", wandte Merle ein.

"Noch bist du hier, um von mir zu lernen", zischte Dämonenschmidt mit einer Kälte und Schärfe, sie seine sonstige Umgänglichkeit Lügen strafte. "Daher entscheidet nur einer, was zu tun ansteht. Wenn du aber glaubst, daß deine Fähigkeiten bereits ausreichen, um mir zu widersprechen", er dämpfte die Stimme zu einem heiseren Flüstern, "kannst du es mir ja jetzt beweisen -" Er musterte seinen Schüler mit dem kalten, jede menschliche Regung entbehrenden Blick eines hungrigen Krokodils.

Merle stand wie erstarrt. Gleich einem Hieb in den Magen wirkte die unmißverständliche Drohung des verwachsenen Mannes, so daß sie selbst der abgebrühte Merle nicht ohne sichtliche Schwierigkeiten wegstecken konnte. Er schluckte einige Male und sagte dann knapp und mit kühl vorgetragener Entschlossenheit: "Sag mir, womit ich beginnen kann."


*


Von nun an zog der Hausmeister Merle zu allen erdenklichen Tätigkeiten auf dem gesamten Schulgelände heran, von denen er wußte, daß sie Merle erniedrigend oder gar lächerlich erschienen. Den Erziehern konnte er leicht weismachen, der Junge ginge ihm gern und aus freien Stücken zur Hand. Dabei wurde Merle von ständigen Zweifeln geplagt, ob es seinem Wunsch nach Macht tatsächlich dienlich war, was sein Lehrmeister von ihm verlangte.

Trotzdem kam Merle mit dem ihm eigenen Fanatismus seinen neuen Aufgaben nach. Er sorgte auf den Toiletten für peinliche Ordnung, sammelte Zigarettenkippen auf oder putzte die obszönen Sprüche und Graffities mit Lösungsmittel von den weißen Kacheln. Er sortierte den Müll, jätete stundenlang Unkraut auf den Beeten vor den Wohngebäuden und entfernte sogar die angetrockneten Kaugummis, die die Jungen an allen möglichen und unmöglichen Orten hinterließen. Selbstverständlich mußte er dabei den wachsenden Spott seiner Altersgenossen über sich ergehen lassen, was ihm immer neue Meisterleistungen der Selbstbeherrschung abforderte, denn er war weit davon entfernt, über ihr Urteil erhaben zu sein.

Innerlich kochte Merle wieder einmal vor Wut, als beim Kachelputzen auf der Toilette einer seiner hartnäckigsten Widersacher, umringt von einer Gruppe rauchender, gaffender Jungen, unverschämt grinsend auf ihn zutrat:

"Hey, Meister Proper", stichelte er großspurig, "wenn du hier so gern putzt, kannst du dich bei uns doch auch als Arschwischer bewerben." Die Jungen gröhlten. Und ohne Vorwarnung war es auf einmal mit Merles Beherrschung vorbei. Mit einer blitzschnellen Bewegung ergriff er die Flasche mit dem Lösungsmittel und spritzte dem verblüfften Jungen den ätzenden Inhalt ins Gesicht. Der Getroffene riß aufheulend die Hände vor die Augen und sank dabei langsam in die Knie. Das verleitete Merle dazu, ihn mit eruptiver Brutalität so lange in Magen und Nieren zu treten, bis er sich wimmernd am Boden wand. Die umherstehenden Jungen, die die Toilette hauptsächlich zum Rauchen aufgesucht hatten, waren zwar an Gewalttätigkeiten gewöhnt, doch als Merle neben seinem wehrlosen Opfer niederkniete, es an den Haaren packte und anfing, den Kopf rhythmisch auf den Steinfußboden zu schlagen, bis sich unter dem fast Besinnungslosen eine Blutlache bildete, wurde ihnen sichtlich unbehaglich zumute.

Aber erst, als Merle auch noch den Rest des Lösungsmittels über dem mißhandelten Körper des Jungen ausgoß und die anderen mit einem niederträchtigen Grinsen und vor Haß brennenden Augen nach einem Feuerzeug fragte, gerieten sie endgültig in Bewegung. Verhalten Beschwichtigungen murmelnd wie "Ist gut jetzt" oder "Das langt", wandten sie sich zum Gehen und ließen Merle mit seinem nur noch leise stöhnenden Opfer zurück. Niemand wollte wissen, wozu Merle sonst noch in der Lage war. Was sie gesehen hatten, war genug. Sie beruhigten sich mit dem Gedanken, daß er nicht mehr lange genug bleiben würde, als daß sie allzu große Gefahr liefen, ihm selbst einmal in die Quere zu kommen.

Wenig später wurde Merles Opfer entdeckt und unverzüglich ins Krankenhaus gebracht. Aus Angst vor Merles Rache verschwieg der Junge hartnäckig, wer ihm die Verletzungen beigebracht hatte. Er wehrte sich jedoch mit ungeheurer Heftigkeit dagegen, vor Ablauf des Schuljahres wieder ins Heim zurückzukehren.


*


Als Merle sich am anderen Morgen voller dunkler Vorahnungen zu seinem Lehrmeister begab, schien dieser bereits genauestens über den gesamten Vorfall orientiert. Wie ein bösartiger Gnom saß er vor Merle und seine Augen funkelten in kaum erträglichen Spott.

"Du bist zu schwach, Merle", hob er in einer falschen Geste des Bedauerns die Hände. "Ich hätte es wissen müssen." Er seufzte theatralisch. "Wenn du deinen Wunsch nach Wertschätzung nicht überwinden kannst, bist du nicht frei genug, wirklich mächtig zu werden." Dämonenschmidt machte ein zerknirschtes Gesicht. "Wirklich schade, aber unter diesen Umständen kann ich dich nicht weiter unterrichten. Vielleicht solltest du es noch einmal damit versuchen, ein sympathischer Kerl zu werden." Er unterdrückte ein Grinsen. "Nicht, daß ich kein Verständnis dafür hätte, daß man ab und zu jemanden braucht, um mal ein bißchen seine Wut abzulassen." Er zwinkerte Merle verschwörerisch zu. "Doch diesen Zeitpunkt muß man immer selbst bestimmen. Niemals der andere." Jetzt wurde seine Stimme noch vertraulicher. "Du aber hast dich hinreißen lassen wie ein x- beliebiger Schwächling. Und Schwächlinge -", er unterbrach sich effektvoll, - sind mir zuwider." Dämonenschmidt lehnte sich zurück und winkte ein paarmal nachlässig mit der Hand, wie man früher wohl einen lästigen Dienstboten zu verscheuchen pflegte. Merle war entlassen. Langsam wandte er sich zur Tür.

Mit einem Gefühl unerträglicher Erniedrigung verließ er das Haus. So durfte sein Lehrer ihn nicht wegschicken. So nicht.

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 19. Januar 1998

26. März 2007