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STANDPUNKT/064: Humanismus für alle (MIZ)


MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Politisches Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen - Nr. 1/17

Humanismus für alle
Wer Humanismus zur religionsähnlichen Weltanschauung macht, fesselt dessen gesellschaftsverändernde Kraft

von Gunnar Schedel


In der letzten Ausgabe der MIZ stellte Horst Groschopp in seinen Fünf Thesen unter anderem fest, dass Atheistinnen und Atheisten, die sich als solche organisieren, eine grundsätzliche Distanz gegenüber dem organisierten Humanismus an den Tag legen. Die Beobachtung ist richtig, und es gibt dafür gerade derzeit gute politische Gründe.


Immerhin ist die wahrgenommene Distanz keine feindselige; dafür haben vor gut zehn Jahren nicht zuletzt Horst Groschopp und Rudolf Ladwig gesorgt, die in ihren Amtszeiten im Humanistischen Verband Deutschland (HVD) bzw. im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) über Gremien wie die "Sichtungskommission" und durch gegenseitige Einladungen zu Tagungen gemeinsame Plattformen geschaffen haben. Durch diese Begegnungen hat sich nach der Jahrtausendwende das Verhältnis der diversen dem säkularen Spektrum zuzurechnenden Verbände deutlich verbessert und ohne diese Annäherung wäre es beispielsweise zur Gründung des Koordinierungsrates säkularer Organisationen (KORSO) nie gekommen.(1)

Die Distanz liegt nach meinem Dafürhalten auch nicht darin begründet, dass die Mitglieder des IBKA den Humanismus und seine Werte ablehnen. Im Zweifelsfall würde auch ich mich eher dafür entscheiden, in einem Altersheim des HVD meinen Lebensabend zu verbringen als in einem der Caritas. Es ist vielmehr das politische Konzept, das im HVD derzeit maßgeblich verfolgt wird und das in seinen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen bei vielen Aktiven im IBKA auf Skepsis stößt.


Weltanschauung und Identität

Derzeit schaffen es die Religionen nicht, das gesellschaftliche Leben zu bestimmen. Sie sind zwar auf nahezu allen Ebenen eingebunden, aber die Bevölkerung, einschließlich eines großen Teils der Kirchenmitglieder, folgt ihnen in vielen die persönliche Lebensgestaltung betreffenden Fragen nicht. Zugespitzt ließe sich sagen: Katholiken und Evangelische verhalten sich häufig nicht mehr "katholisch" bzw. "evangelisch".

Es ist durchaus ein zentrales Kennzeichen einer offenen Gesellschaft, dass sich Menschen nicht mehr an ein Milieu gebunden fühlen, sondern aus mehreren Identitäten schöpfen. Mit der Postmoderne schien ohnehin das Ende aller "großen Erzählungen" gekommen, es sah so aus, also ob Ideologien, die die Welt aus einem Guss erklärten, an Zuspruch verlören und die Neigung der Menschen, sich Verhaltensvorschriften zu unterwerfen, abnähme.

Ob diese Wahrnehmung von vorneherein falsch oder die Entwicklung nicht nachhaltig war, sei dahingestellt. Jedenfalls ist seit einiger Zeit zu beobachten, dass identitäre Vorstellungen wieder an Boden gewinnen - zumindest jedenfalls, was die Diskurse angeht, und insbesondere, die mit religiös-weltanschaulichen Anteilen.

Dass religiöse Funktionäre und Publizisten an solchen Diskursen maßgeblich beteiligt sind, könnte mit der Erwartung zu tun haben, dadurch zukünftig wieder mehr Einfluss auf die "eigenen" Leute zu gewinnen. Als Vehikel für diese Strategie haben die Kirchen vor rund 20 Jahren den Islam endeckt. Sie waren wesentlich daran beteiligt, aus Zugewanderten aus der Türkei, Marokko oder dem Iran - die völlig unterschiedliche Geschichten mitbrachten - in der öffentlichen Wahrnehmung "Muslime" zu machen. Ihr Interesse traf sich dabei mit dem der Islamverbände, die zwar nur 15% der Muslime organisieren, aber gerne für alle Zugewanderten aus mehrheitlich islamischen Ländern sprechen möchten.

Dabei geht es natürlich nicht in erster Linie um eine Stimme in der Öffentlichkeit, sondern um eine Ausweitung der Privilegien wie den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts, Religionsunterricht, staatlich finanzierte Seelsorge usw. Und damit indirekt - und das erklärt das Interesse der Kirchen - um eine Stabilisierung des ins Wanken geratenen Systems der Privilegierung religiöser Organisationen.

Mit der Betonung kollektiver Identitäten einher geht die Denunzierung jeglicher Kritik an islamisch begründeten gesellschaftspolitischen Vorstellungen als fremdenfeindlich. Selbst ein Teil der Linken tappt in die identitäre Falle, sieht durch die Ablehnung beispielsweise der Ehrvorstellungen sämtliche Eingewanderten von Marokko bis Indonesien attackiert und vergisst, dass unter jenen genügend Menschen sind, die diese ebenfalls ablehnen.

Im Windschatten solcher Diskurse gewinnen die konservativen Islamverbände an Bedeutung, werden zunehmend Ansprechpartner der Politik; wenn es um Runde Tische geht, sitzen liberale Muslime dabei, wenn es um Geld und Macht geht, spielen sie keine Rolle. Dies führt einerseits zu einer völlig falschen öffentlichen Wahrnehmung "des Islams" in Deutschland. Andererseits erzeugen Pflichtveranstaltungen wie der islamische Religionsunterricht Konformitätsdruck, was gerade für Muslime unter der Perspektive der Religionsfreiheit eine massive Verschlechterung darstellt. Denn Abweichung muss nun öffentlich bekannt werden (in unserem Beispiel durch eine Abmeldung vom Islamunterricht), wird dadurch sichtbar und angreifbar.

Hinzu kommt, dass seit Jahren eine neoliberale Verlagerung von Gemeinschaftsaufgaben in private Hand stattfindet. Während kommunale Einrichtungen eher abgebaut werden, gewinnen Kirchen- und Moscheegemeinden allein schon dadurch an Bedeutung, dass sie über Räumlichkeiten verfügen, die sie zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung stellen können.

Es wäre sicherlich verfrüht, von einer Rückkehr zur Versäulung der Gesellschaft zu sprechen, aber ich gehe davon aus, dass Kirchen wie auch Islamverbände mit einer solchen Tendenz liebäugeln. Dahinter dürfte die Hoffnung stehen, dass Religion dann wieder größere Bedeutung zukommt und die eigenen Milieus wieder stärker "homogenisiert" werden können. Langfristig könnte ein Bündnis der religiösen Säulen die säkulare Gesellschaftsordnung ins Visier nehmen.


Konfessionslos

Die große Errungenschaft der Idee der "Konfessionslosigkeit" liegt darin, dass es keinen Zwang gibt, sich weltanschaulich einer Gruppe zuzuordnen. So ist es möglich, politische (objektive, nachvollziehbare) Interessen in wechselnden Allianzen zu vertreten.

Zugespitzt formuliert ließe sich sagen, dass der HVD sich mit seiner Betonung des weltanschaulichen Aspekts des Humanismus im Rahmen der Vorstellung homogener Milieus bewegt. Doch dieser Diskurs nutzt letztlich nur den konservativen Kräften.(2)

Das Bizarre an der Situation ist, dass der viel größere HVD sich mit einem viel kleineren Wirkungsbereich humanistischer Vorstellungen zufrieden gibt; während er einen Dienstleistungsbereich für Humanisten einrichten möchte (analog zum katholischen, evangelischen und immer wieder geforderten muslimischen), beharrt der IBKA darauf, dass es Humanismus für alle geben muss. Sein gesellschaftsveränderndes Potential entfaltet der Humanismus dann am wirkungsvollsten, wenn er - vom Anspruch her - die Gesellschaft als Ganzes erfasst, wenn das Individuum mit seinen Bedürfnissen und Interessen ins Zentrum gestellt wird. Und wenn allen klar ist, dass "persönliche" Bedürfnisse, die sich rein zufällig mit den Vorgaben einer religiösen (oder sonstigen) Organisation decken, mit Skepsis zu sehen sind.

Ob die Welt "human" ist, zeigt sich an den konkreten Lebensverhältnissen der Menschen. Dazu können humanistische Ideen und Ideale viel beitragen. Ob das am besten im Rahmen eines Weltanschauungsverbandes gelingt, bezweifele ich.


Anmerkungen:
  1. Dass die Situation heute wieder deutlich schlechter ist, hat unterschiedliche Gründe, die hier auszubreiten nicht der Raum ist, zumal es nur teilweise um Politik im engeren Sinne geht.
  2. Ich weiß, dass viele im HVD Humanismus als offenes System verstehen, sehe aber nicht, wie der Spagat zwischen Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne des GG und "Offenheit" umgesetzt werden könnte.


Gunnar Schedel schreibt seit über 25 Jahren für die MIZ, in Heft 2/16 über Konfessionslose im WDR-Rundfunkrat.

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Quelle:
MIZ - Materialien und Informationen zur Zeit
Nr. 1/17, 46. Jahrgang, S. 41-43
Herausgeber: Internationaler Bund der Konfessionslosen
und Atheisten (IBKA e.V.), Tilsiter Str. 3, 51491 Overath
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Erscheinungsweise: vierteljährlich,
jeweils Anfang April, Juli, Oktober und Januar.
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Bezugskosten Abonnement: 18,- Euro (Inland),
22,- Euro (Ausland) jeweils inkl. Porto.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2017

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