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FRAGEN/001: "Die Folter macht Hexen" - Interview mit dem Historiker Jürgen Michael Schmidt (epoc)


epoc 5/10
Das Magazin für Archäologie und Geschichte

"Die Folter macht Hexen" - Interview mit dem Tübinger Historiker Jürgen Michael Schmidt

Von Claudia Mocek


Hexenverfolgung
Warum Klimawandel, Dämonenglaube und Justiz 50 000 Opfer forderten

Eine redaktionelle Einführung von Claudia Mocek

Die Hexenjagd war »eine der schlimmsten von Menschenhand angerichteten Katastrophen der europäischen Geschichte«, betonen die Historiker Wolfgang Behringer und Günter Jerouschek. Seit Anfang des 15. Jahrhunderts wurden Verdächtige verhaftet, gefoltert und zum Tod verurteilt. Frühere Historiker gingen davon aus, dass die Prozesse mehrere Millionen Opfer forderten. Inzwischen haben Wissenschaftler diese Zahlen, die zum Teil auf abenteuerlichen Hochrechnungen des 18. Jahrhunderts beruhten, erheblich nach unten korrigiert - ohne dass das Phänomen dadurch seinen Schrecken verloren hätte: Vorsichtige Schätzungen gehen von europaweit rund 50 000 Hinrichtungen zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert aus.

Die Verfolgungen begannen in der Schweiz. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lagen die am schwersten betroffenen Gebiete im deutschsprachigen Mitteleuropa. Eine Reihe von Faktoren trafen aufeinander und verursachten das wellenförmige An- und Abschwellen der massenhaften Verfolgungen. In seinem Beitrag ab S. 60 (in der Printausgabe) erläutert der Historiker Johannes Dillinger von der Universität in Mainz, dass die Klimaverschlechterung durch die Kleine Eiszeit und die daraus resultierende Erntekrise die Basis dieses Phänomens bildeten.

Der Autor widerlegt die Behauptung, dass die Hexenjagd eine Angelegenheit der katholischen Kirche gewesen sei. Die Verfahren fanden jedoch nicht vor dem Inquisitionstribunal statt, sondern vor einem weltlichen Gericht, das auch Diebe und Mörder verurteilte. Dillinger erklärt, wie die Prozessverwaltung funktionierte, warum in Territorien, die über autonome Gerichte verfügten, häufig eine intensive Verfolgungspraxis herrschte, und wieso kurze Wege innerhalb des Justizsystems besonders viele Opfer forderten.

Die Verfolger trieb kein manischer Wahn an, wie die Historikerin Laura Stokes von der Stanford University in Kalifornien erläutert (S. 66 in der Printausgabe). Hinter dem vermeintlichen Verbrechen der »Hexerei« stand eine durch Gelehrte propagierte Theorie. Zeitgenössischen Abhandlungen zufolge bestand das Delikt aus den fünf Elementen Teufelspakt und -buhlschaft, Hexenflug, Teilnahme am Hexensabbat - dem Tanz mit dem Teufel, zu dem sie sich regelmäßig und heimlich trafen - und dem Ausführen von Schadenszauber. Weil die Hexen im Bund mit dem Teufel die christliche Gesellschaft zerstören wollten, fühlten sich manche der Juristen und Theologen bedroht - und forderten das Todesurteil für die Delinquenten. Ob auf die meisten der Angeklagten das Klischee der »alten Hexe« zutrifft, lässt sich nicht sicher sagen - die Prozessunterlagen dokumentieren das Alter der Verdächtigen in der Regel nicht. Dass die Mehrheit von ihnen weiblich war, gilt indes als sicher.

Den Befürwortern standen schon damals Verfolgungsgegner gegenüber, die die Existenz von Hexen bezweifelten und sich dagegen aussprachen, die Prozesse gegen die Verdächtigen als Notstandsverfahren durchzuführen. Darüber berichtet der Geschichtswissenschaftler Jürgen Michael Schmidt von der Universität Tübingen im Interview ab S. 70 (in der Printausgabe). Wenige Indizien reichten dabei aus, um die Angeklagten zu foltern und anschließend zu töten.

Die Kritiker forderten ordentliche Verhandlungen auf Grundlage des gültigen Reichsrechts. Doch ihre Traktate allein konnten die »Katastrophe von Menschenhand« nicht aufhalten. Erst nach und nach setzten strukturelle Verbesserungen ein: In Justiz und Verwaltung arbeiteten zunehmend gut ausgebildete Beamte, die juristischen Institutionen wurden zentralisiert und die Kontrolle verbessert. So zynisch es klingt: Im Dreißigjährigen Krieg starben so viele Menschen, dass Missernten kein Krisenpotenzial mehr besaßen. Die letzte »Hexe« in Europa wurde 1782 im Kanton Glarus ermordet.




»Die Folter macht Hexen«

Schuldig gesprochen, starben auf den Scheiterhaufen Europas 50 000 Menschen, die meisten davon in Deutschland. Vieles musste geschehen, bis die Justiz die Verfolgungen im 18. Jahrhundert endlich einstellte. epoc-Redakteurin Claudia Mocek sprach mit dem Tübinger Historiker Jürgen Michael Schmidt über das Ende eines Massenphänomens.

epoc: Die Hochphasen der Hexenprozesse fanden auf dem Gebiet des heutigen Deutschland zwischen 1570 und 1680 statt. Wann hörten die Verfolgungen auf?

Jürgen Michael Schmidt: Wir haben für viele Gebiete grobe Statistiken, aber keine Gesamtauswertung. Unser Bild wird dabei durch einige Territorien geprägt, in denen es massenhafte Verfolgungen gab - dessen müssen wir uns bewusst sein. Um 1629 war der absolute Höhepunkt erreicht und zugleich ein erster Wendepunkt, danach ebbten die Prozesse rasch ab. Nach dieser Pause gab es zwischen 1660 und 1680 noch einmal einen Peak. Der letzte Prozess in Mitteleuropa fand 1782 im Kanton Glarus statt. Insgesamt spielten Hexenprozesse im 18. Jahrhundert nur noch vereinzelt eine Rolle. Damit ist um 1680 tatsächlich das Ende der Hochphase zumindest in Europa erreicht.

epoc: Wieso hörten die Prozesse Ende des 17. Jahrhunderts auf?

Jürgen Michael Schmidt: Die Hexenverfolgung war ein komplexes, multikausales Phänomen. Es gibt einen Faktorencluster, der zu ihrem Ausbruch führte - und einen, der sie beendete. Die Forschung der letzten Jahre betont - wie ich finde zu Recht - vor allem die juristisch-administrativen Veränderungen wie Zentralisierung, Professionalisierung und Differenzierung des Justizwesens. Das erscheint auch deswegen plausibel, weil große Territorien, in denen diese Entwicklungen früher griffen, bereits zuvor schon moderat mit Hexen umgingen und relativ wenige Todesurteile fällten. Dieses Element des Staatsbildungsprozesses setzte sich nach dem Dreißigjährigen Krieg verstärkt durch - schließlich nahmen auch in den kleineren Gebieten die Hexenprozesse ab.

epoc: Was war an den Hexenprozessen aus Sicht der damaligen Rechtsprechung problematisch?

Jürgen Michael Schmidt: Der Vorwurf der Hexerei war schwierig zu beweisen. Deshalb klassifizierten die Verfolgungsbefürworter das Verbrechen als crimen exceptum (Ausnahmeverbrechen) und führten das Gerichtsverfahren als processus extraordinarius (Notstandsverfahren) durch. Um jemanden nach dem Strafgesetzbuch der »Carolina« (siehe Kasten S. 72 in der Printausgabe; hier am Ende des Interviews) foltern zu können, benötigten die Richter eindeutige Indizien. Anders nach der Crimenexceptum-Theorie bei den Hexenprozessen: Hier schraubte man die Anforderungen herunter. Weil das Verbrechen als so schlimm galt, reichten schwächere Indizien aus. Die Gerichte konnten die Angeklagten schneller foltern lassen und rascher zum Tod verurteilen. Damit hatten die Richter vor Ort einen relativ breiten Raum für Willkür.

epoc: Warum »relativ« - wie wurde er dann doch begrenzt?

Jürgen Michael Schmidt: Viele Laienrichter waren in das Dorfgeschehen stark eingebunden und neigten häufig dazu, die Anklage mitzutragen. Mancherorts bereits im 16. Jahrhundert, sonst aber im 17. und 18. Jahrhundert setzte die besagte Professionalisierung der Justiz ein: Die Entscheidungsinstanzen für die Hexenprozesse wurden aus den jeweiligen Prozessmilieus heraus in eine weiter entfernte Zentrale verlagert. Die dortigen Juristen, die eine gewisse Distanz zum Geschehen hatten und besser ausgebildet waren, entschieden vor allem auf Grundlage des Rechts und nicht danach, was die öffentliche Meinung sagte. Viel öfter als die örtlichen Gerichte kamen sie zu dem Ergebnis: Nein, in einem rationalen Verfahren können wir hier nicht von einer Schuld der Angeklagten ausgehen. Die Abkehr vom Laienelement, von der Entscheidung Einzelner, hin zu größeren Gremien, die sich gegenseitig kontrollierten und in denen Gelehrte saßen, war ein Trend jener Epoche, der sich in immer mehr Territorien etablierte. Die Gerichtsbehörden waren zunehmend weniger bereit, den Hexenprozessen einen Sonderstatus einzuräumen - sie kamen schließen zum Erliegen. Diese Entwicklung wurde von Juristen begleitet, die ihre kritische Sicht auf die Verfolgungen in Abhandlungen veröffentlichten.

epoc:Welche Argumente brachten sie vor?

Jürgen Michael Schmidt: Wenn ein Mensch einem anderen durch Zauberei das Leben nimmt oder einen Schaden zufügt, wäre die Todesstrafe nach damaliger Rechtsauffassung angemessen gewesen. Manche Kritiker konzentrierten sich aber auf die Frage: Wie kann ich eine solche Tat beweisen? Denn das war ein riesiges Problem, es war ja ein heimliches Delikt, und die Beweise dafür waren nicht sehr aussagekräftig. Es gab Juristen, die davon überzeugt waren, dass es die fünf Elemente von Teufelspakt bis Schadenszauber gibt und dass einzelne Hexen ihr Unwesen treiben. Dennoch hielten sie den processus extraordinarius mit seinen massenhaften Todesurteilen für nicht tragbar. Die Gefahr sei zu groß, dass dabei Unschuldige getötet würden. Diese Kritik ließ sich in jener Zeit gut vorbringen, weil sie auf Basis des Reichsrechts stattfand. Die Anhänger der Verfolgung konnten versuchen, die Notstandsverfahren zu rechtfertigen. Aber sie hätten jemanden, der einen ordentlichen Prozess forderte, nicht zum Verbrecher abstempeln können.

epoc: Zweifelte niemand von den Zeitgenossen daran, dass es überhaupt Hexen gab?

Jürgen Michael Schmidt: Doch. Es gab immer Skeptiker, welche die physische Existenz der fünf Elemente bezweifelten, die nach dem Verständnis der Gelehrten eine Hexe ausmachten (siehe S. 66 in der Printausgabe): Kann man mit dem Teufel einen schriftlichen Pakt schließen und Buhlschaft treiben? Kann ein Mensch auf einem Besen durch die Luft zum Hexensabbat fahren? Finden diese Treffen wirklich statt, oder sind das nur Fantasien? Ist Schadenszauber überhaupt möglich? Als der Hexenbegriff im 15. Jahrhundert aufkam, reagierten viele Humanisten empört. In Innsbruck warf der Bischof den Autor des »Hexenhammers« aus seinem Bistum. Der Meistersinger Hans Sachs aus Nürnberg machte sich richtiggehend lustig darüber, dass es Hexen geben sollte. Der Arzt Johann Weyer war der Erste, der 1563 den Kaiser aufforderte, die Verfolgungen zu beenden. Für ihn waren Hexen melancholische alte Frauen mit Fantasiegebilden im Kopf, die weder zurechnungsfähig noch strafbar seien. Der kalvinistische Theologe Hermann Witekind stellte 1585 die physische Realität des Hexenglaubens auf Grund seines theozentrischen Weltbilds in Frage: Da die Naturgesetze Gottes Willen entsprächen, seien Verstöße gegen sie unmöglich. Was die rein geistliche Seite des Delikts, den Teufelspakt, anging, war die Frage nach dem Strafmaß umstritten. Sollten die Angeklagten dafür auf dem Scheiterhaufen enden? Die Gegner hielten diese Strafe für übertrieben. Sie riefen stattdessen dazu auf, den Angeklagten zu vergeben und sie wieder zu Gott zu bekehren. Andere schlugen vor, sie außer Landes zu verweisen - was einige Obrigkeiten auch taten.

epoc: Welche Wirkung entfaltete diese vielschichtige literarische Opposition?

Jürgen Michael Schmidt: Generell ist es schwierig, eindeutige Kausalitäten zwischen der Lektüre von Traktaten und der Unterlassung einer Handlung, hier der Hexenprozesse, zu bestimmen. Es können ja auch strukturelle Faktoren gewirkt haben. In Reutlingen gibt es das Beispiel, dass Bürgermeister Laubenberger einen verfolgungskritischen Traktat las und anschließend mit den Verfolgungen aufhörte. Um diesen Fall kann man Thesen spinnen, aber er lässt sich nicht ohne Weiteres verallgemeinern. Für die Kurpfalz habe ich herausgearbeitet, dass hier verschiedene Seiten Kritik an Hexenprozessen übten, auch in gedruckten Abhandlungen. Doch das fußte auf allgemeinen rechtlichen und theologischen Standards, die vom Hexereidiskurs unabhängig waren und parallel auch bei anderen Themen wiederkehrten. Da spielte das gesamte Weltbild eine Rolle. Wenn Sie eine theozentrische Weltsicht vorfinden, in der Gott die Welt regiert, herrscht in der Regel eine große Skepsis gegenüber der Macht des Teufels und der Hexen.

epoc: Verliefen die Diskussionen über den Hexenglauben in den katholischen und protestantischen Territorien unterschiedlich?

Jürgen Michael Schmidt: Bis 1590 gab es in Deutschland eine relativ offene Diskussion. In katholischen Gebieten setzte sich anschließend ein Verbot durch, die Existenz von Hexen zu bezweifeln. Es durften nur noch rechtliche Aspekte erörtert werden. In protestantischen Territorien blieb Skepsis möglich, verlor aber für einige Jahrzehnte an Bedeutung. 1631 sagte der katholische Theologe Friedrich Spee: Ich will nicht darüber diskutieren, ob es Hexen gibt oder nicht. Ich konzentriere mich auf den Prozess. Das sind Unschuldige. Die Folter macht Hexen.

epoc: Wurden - relativ betrachtet - mehr Hexen in protestantischen oder in katholischen Territorien hingerichtet?

Jürgen Michael Schmidt: In europäischer Dimension kann eine einfache Korrelation von Konfession und Hexenverfolgung nicht hergestellt werden. Es gab auf beiden Seiten verfolgungsarme und verfolgungsintensive Gebiete. Die Konfession war nicht alles. Insofern bedürfen Zahlen, die für Deutschland im gesamten Durchschnitt einen höheren Anteil der Opfer in katholischen Territorien annehmen, einer besonders vorsichtigen Interpretation.

epoc: Lange Zeit haben Geschichtswissenschaftler vor allem die Aufklärung für das Ende der Verfolgungen verantwortlich gemacht. Hatte sie aus heutiger Sicht überhaupt einen Einfluss?

Jürgen Michael Schmidt: Sie kam einfach ein bisschen zu spät, als dass man in ihr noch den entscheidenden Wendepunkt sehen könnte. Die Prozesse waren vorher schon signifikant zurückgegangen. Allerdings versetzten die Aufklärer den Hexenverfolgungen den endgültigen Todesstoß, als es ihnen gelang, die öffentliche Meinung zu dominieren und den Hexenglauben als lächerlich abzutun.

epoc: Historiker unterscheiden die Verfolgungen von oben, die vom Landesherrn ausgingen, und solche von unten, die die Bevölkerung initiierte. Gab es zwischen beiden Formen Unterschiede, was die Abnahme der Prozesse anging?

Jürgen Michael Schmidt: Oben und unten lässt sich nicht immer sinnvoll trennen. So manches Mal nahmen Verfolgungen gerade im Zusammenspiel von Obrigkeit und Bevölkerung schreckliche Ausmaße an. Sehr häufig musste die Obrigkeit den Prozessen formal zustimmen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg war diese Billigung immer schwieriger zu erhalten - im 18. Jahrhundert nur noch in wenigen Territorien. Im Grunde bewegten sich beide Seiten jetzt stärker auseinander. In der Bevölkerung gingen die Verdächtigungen und Schadenszaubervorwürfe nämlich weiter. Ich selbst finde noch hier im Amt Tübingen oder in der Kurpfalz bis weit ins Zeitalter der Aufklärung hinein Beispiele dafür. Allerdings waren nun definitiv Zusammenrottungen ausgeschlossen, mit denen man bei den verfolgungsunwilligen Obrigkeiten Prozesse durchzusetzen hoffte.

epoc: Wie sah es mit der Opposition in der Bevölkerung aus - gab es die?

Jürgen Michael Schmidt: Ja. Aber sie ist schwieriger herauszuarbeiten, weil wir hierzu weniger Quellen haben. Wir bewegen uns bei dieser Frage auf einer anderen Ebene als bei den Gelehrten und ihren Traktaten oder bei den Regierungsmitgliedern und Amtleuten, deren Meinungen wir vielfach in den Akten wiederfinden. Wenn es Opposition etwa von Dorfbewohnern gab, konnte sie sich weit schlechter schriftlich niederschlagen. Die Forschung hat in letzter Zeit stärker die Verfolgungsbereitschaft der Bevölkerung betont. Die Agitatoren stießen nach Ausweis der Akten auf breite Zustimmung. Das traf vor allem auf die bereits im Gang befindlichen größeren Verfolgungen zu. In diesem Stadium war es aber natürlich auch gefährlich, Kritik zu Protokoll zu geben oder gar offensiven Widerstand zu leisten, obwohl wir Beispiele dafür haben, dass zumindest passive Opposition trotzdem gewagt wurde. Familien ließen oft genug ihre angeklagten Angehörigen fallen, halfen ihnen mitunter aber auch mit großem Einsatz, etwa mit Beleidigungsklagen gegen die Ankläger. Das steht in den Prozessakten. Was wir jedoch kaum wissen können, ist, wie viele Verdächtigungen gar nicht erst in einen Prozess mündeten, weil die Verdächtigten schon vorher ausreichend Hilfe erfuhren. Wo behauptete ein Agitator: Das ist eine Hexe, fand aber dafür keine Unterstützer? Wo stimmte die öffentliche Meinung nicht zu?

epoc: Trugen neben der Modernisierung der Justiz noch andere Faktoren zum Rückgang der Prozesse bei?

Jürgen Michael Schmidt: Im erwähnten Faktorencluster ist die Justiz nur ein Element, wenn auch ein wichtiges. Die Versorgungskrisen zwischen 1560 und 1630, die aus der Kleinen Eiszeit resultierten (siehe Kasten S. 64 in der Printausgabe), fielen mit den Verfolgungswellen zusammen und beförderten sie offenkundig. Danach brachen die Hinrichtungszahlen ein. Zwischen 1675 und 1715 kehrte die Kälte zurück, aber die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen hatten sich gewandelt. Der Dreißigjährige Krieg hatte zu hohen Verlusten an Menschenleben geführt. Dieser Bevölkerungsrückgang führte dazu, dass sich selbst klimatisch ungünstige Jahre nicht so katastrophal auf die Ernährungssituation auswirkten wie zuvor. Für die Überlebenden gab es genug Nahrungsmittel, der Druck sank. Vielleicht hat eine partiell verbesserte Armenfürsorge auch eine Rolle gespielt, aber ich würde eher davon ausgehen, dass die demografische Entwicklung bis zum Beginn des 18. Jahrhundert den größeren Einfluss hatte. Weniger Menschen bedeuteten weniger Krisen- und Konfliktpotenzial.

epoc: Seit den 1970/80er Jahren erforschen Historiker die Hexenverfolgung. Gibt es überhaupt noch Lücken?

Jürgen Michael Schmidt: Es gibt noch viel zu tun: Wir müssen regionale Hexereikonzepte stärker herausarbeiten. Wir haben viele Territorien bisher nicht erforscht sind. Diese Erkenntnisse würden unser Bild weiter abrunden. Wir müssen Netzwerke von Gegnern und Befürworten weiter erkunden; untersuchen, wie Glaubensvorstellungen transportiert wurden, und Magiekonzepte analysieren, die nicht dem gelehrten Hexenbegriff mit seinen fünf Elementen entsprachen.


AUF EINEN BLICK
Das Ende der Hexenprozesse
1. In Deutschland endeten die massenhaften Hexenverfolgungen um 1680.
2. Die Bevölkerungszahlen waren gesunken, die wirtschaftliche Situation hatte sich entspannt.
3. Reformen in Justiz und Verwaltung erschwerten weitere willkürliche Urteile.


Informationskasten:
DAS REICHSGESETZ
Als Reichsgesetz gab seit 1532 die »Constitutio Criminalis Carolina« (»Peinliche Halsgerichtsordnung« Kaiser Karls V.) den Strafprozessen ihren Rahmen. Sie bestimmte Straftatbestände, regelte deren folgen und die juristischen Verfahren. Im Mittelpunkt eines Prozesses stand das Geständnis des Angeklagten, ohne das keine Verurteilung möglich war und das durch folter erzwungen werden konnte. Die Rechtsregelungen in den einzelnen Territorien hatten zwar Vorrang vor der »Carolina«, sie wurden aber weit gehend nach ihrem Vorbild reformiert.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Fotos:
Der Geschichtswissenschaftler Jürgen Michael Schmidt ist überzeugt: Bei der Hexenverfolgung gibt es noch zahlreiche Forschungslücken.
Wie Schmidt im Gespräch mit unserer Redakteurin Claudia Mocek erklärt, gab es auch in der Bevölkerung des 18. Jahrhunderts noch Hexereiverdächtigungen. Aber die Obrigkeit ließ kaum noch Gerichtsprozesse zu.


Literaturhinweise im Internet:
www.epoc.de/ artikel/1037146

© 2010 Claudia Mocek, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
epoc 5/10, Seite 58 und 70 - 73
Herausgeber: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2010