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BERICHT/084: Kindergesundheit - ein Ost-West-Vergleich und der Trend der letzten 20 Jahre (Freidenker)


Freidenker Nr. 3-10 September 2010
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Kindergesundheit - ein Ost-West-Vergleich und der Trend der letzten 20 Jahre

Von Heidrun Kahl


1. Einleitung

Wie steht es mit der Verwirklichung der Rechte des Kindes auf Gesundheit in Deutschland?

Diese Frage soll im Vergleich der unterschiedlichen Rahmenbedingungen für die gesundheitliche Betreuung der Kinder und Jugendlichen in der DDR und der BRD sowie nach der Übernahme bundesdeutscher Strukturen auch in den neuen Bundesländern diskutiert werden.

Die UNO Konvention für die Rechte des Kindes, die u.a. den Schutz der Gesundheit beinhaltet, wurde nach der unverzüglichen Ratifizierung in der DDR auch in der Bundesrepublik Deutschland, wenn auch verspätet, ratifiziert (s. Artikel E. Ockel). Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) fordert weiterhin im § 1 das Recht jedes jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

2. Gesundheitliche Betreuung von Kindern im Ost-West-Vergleich Der öffentliche Gesundheitsschutz für Mütter, Kinder und Jugendliche hat in Deutschland Tradition, entwickelte sich aber nach 1949 in beiden deutschen Staaten unterschiedlich. Besonders im Hinblick auf gleiche Chancen einer Teilhabe an der gesundheitlichen Betreuung für alle Kinder bestanden wesentliche Unterschiede in den Vorsorgeprogrammen:

• durchgängige Betreuungsstruktur in der DDR

• geteilte Verantwortlichkeiten zwischen niedergelassenem Kinderarzt und Schularzt im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) in der BRD.

In der DDR wurde seit den 50iger Jahren ein durchgängiges und flächendeckendes System der vorbeugenden gesundheitlichen Betreuung für alle Kinder und Jugendlichen aufgebaut. Es begann mit der obligatorischen Betreuung der 0-3-Jährigen in den Mütterberatungsstellen durch Pädiater/Allgemeinmediziner und wurde ab dem 4. Lebensjahr durch jährliche Untersuchungen in Kindergärten durch speziell qualifizierte Jugendärzte des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes (KJGS) weitergeführt.

Es folgten die erste Einschulungsuntersuchung im 6. Lebensjahr, um gesundheitliche Auffälligkeiten bis zum Schulbeginn beseitigen zu können und eine zweite Einschulungsuntersuchung für den Schulbeginn. Die weiteren Reihenuntersuchungen in der 2./3. Klasse, der 6. und der 9. bzw. der 11. Klasse dienten u.a. auch zur Beurteilung der Schwimmtauglichkeit und der gesundheitlichen Eignung für den polytechnischen Unterricht sowie für die Berufsausbildung (1, 2, 3). Unterstützt wurden die Kinder- und Jugendärzte durch Fürsorgerinnen, die Hausbesuche bei jungen Eltern, kinderreichen Familien, gesundheitlich und/oder sozial gefährdeten und gesundheitlich geschädigten/pflegebedürftigen Kindern durchführten und den Eltern beratend zur Seite standen. Die gesundheitliche Betreuung der Krippenkinder wurde durch den Kinderarzt des Einzugsbereiches gewährleistet, da 1988 für fast 80 % der unter 3-jährigen Kinder Plätze in Krippen zur Verfügung standen (4).

Auch in der BRD wurden in den Gesundheitsämtern vom Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) Mütterberatungen für Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen und Gesundheitsberatungen vorgehalten. Dieser Bereich wurde jedoch ausgehöhlt, indem diese Aufgaben des Öffentlichen Gesundheitsdienstes dem Bereich der kassenärztlichen Versorgung übertragen wurden. So werden die Früherkennungsuntersuchungen U1-U9 seit 1971 (§ 26 SGB V) für Kinder bis zum 6. Lebensjahr durch niedergelassene Kinderärzte durchgeführt. Eine Untersuchung im 3. Lebensjahr war nicht vorgesehen. Alle Untersuchungen außer der U9 waren lediglich Angebote, deren Annahme allein von den Eltern der Kinder entschieden wurden und werden. Weitere Aufgaben des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes betrafen die (einmalige) Einschulungsuntersuchung sowie Kindergarten- und Schuluntersuchungen, wobei die Auswahl der Altersgruppen/Klassenstufen sowie die Schwerpunktsetzung für die Reihenuntersuchungen in den einzelnen Bundesländern uneinheitlich waren und es auch bis heute sind (5, 6).


Unterschiede in der Qualität der Programme und Auswertung von Daten

Gesundheitliche Befunde, die von allen Ärzten nach einheitlichen Methoden erhoben und bewertet werden, sind besser vergleichbar und lassen im Zeitvergleich auch Entwicklungen in der Häufigkeit bestimmter gesundheitlicher Auffälligkeiten und Krankheiten erkennen. Die Erarbeitung solcher Vorgaben wurde in der DDR vorrangig durch das Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters (IHKJ) wahrgenommen und durch das Forschungsprojekt "Gesundheitsschutz im Kindes- und Jugendalter" unterstützt (7). So konnte als Ergebnis 1979 eine einheitliche Arbeitsanleitung mit standardisierten Untersuchungsvorgaben für die jeweiligen Alters- und Entwicklungsstufen mit ärztlichen und fürsorgerischen Kontrollschwerpunkten eingeführt werden, die bis 1990 in Zusammenarbeit mit medizinischen Fachgesellschaften aktualisiert wurde (sog. Standardprogramm als Arbeitsanleitung zur periodischen gesundheitlichen Überwachung der Kinder und Jugendlichen von 0 bis 18 Jahren). Diese Arbeitsgrundlage fand dann nach der Wende in ganz Deutschland aber keine Beachtung mehr.

Die Dokumentation der Untersuchungsergebnisse war einheitlich gestaltet und wurde jeweils der nächsten Betreuungsinstitution, z. B. von der Kinderkrippe an den Kindergarten, übergeben, so dass durchgängig alle Informationen zum Gesundheitszustand des Kindes ab Geburt zur Verfügung standen. Eine Gesamtauswertung über Erkrankungshäufigkeiten wurde zentral für die Kinderkrippen und für das Alter 3-16/18 Jahre über Befundhäufigkeiten in jährlichen Übersichten vorgenommen.

Auch in der BRD wurden die Befunde der im Rahmen der Kinderuntersuchungen nach § 26 SGB V anfallenden Daten im Zeitraum von 1972 bis 1996 in unregelmäßigen Abständen ausgewertet. Der Aussagewert der bis 1996 erhobenen Daten wurde aber zunehmend angezweifelt, denn die "auffälligen Befunde" z. B. bei zweijährigen Kindern nahmen von 18 % bei den untersuchten zweijährigen Kindern 1978 auf 8,5 % im Jahr 1991 ab, was keine reale Änderung des Krankheitsgeschehens widerspiegelt (8). Ebenso gab es für die Schuluntersuchungen Bemühungen, Alters- und Untersuchungsvorgaben zu vereinheitlichen ("Jugendärztliche Definitionen") und verschiedene Erfassungs- und Funktionsmodelle zu erproben ("SPOPHIA", Bielefelder Modell, Hamburger Modell). Eine Auswertung der Befunde erfolgte jedoch nur in wenigen Bundesländern, z. B. West-Berlin, NRW, Hamburg. Eine einheitliche Auswertung von Daten für die gesamte Kinderpopulation der BRD wurde durch den Datenschutz blockiert (9).


Gezielte Nachsorge gesundheitlich und sozial gefährdeter Kinder (Dispensaire)

In der DDR wurden gesundheitlich gefährdete, insbesondere chronisch kranke und sozial gefährdete Kinder/Familien im Dispensaire des Kinder- und Jugendgesundheitsschutzes betreut. Das bedeutete, der Jugendarzt veranlasste und koordinierte alle Maßnahmen für eine frühzeitige Betreuung und Behandlung der betroffenen Kinder. Als methodische Grundlage wurde ein Handbuch für die Dispensairebetreuung unter Mitarbeit zahlreicher medizinischer Fachgesellschaften erarbeitet (1985).

Weiterhin wurde auch ein Dispensaire für schwerbehinderte Kinder aufgebaut, die eine spezielle medizinische Betreuung durch verschiedene Fachärzte benötigten.

In der BRD war eine Nachsorge bei Gesundheitsstörungen oder sozialen Gefährdungen nicht vorgegeben und es oblag der Entscheidung des Kinderarztes, entsprechende Maßnahmen einzuleiten.


Impfpflicht contra Impfempfehlung

In der DDR war die Impfprävention entsprechend der Struktur des staatlichen Gesundheitswesens organisiert. Impfpflicht existierte gegen Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Poliomyelitis, Masern und Tuberkulose. Die Impfungen (insbesondere zum Abschluss der Grundimmunisierung) wurden überwiegend durch Ärztinnen und Ärzte in den Kindereinrichtungen (Krippen bzw. Kindergärten) durchgeführt, soweit bei dem Kind keine medizinische Kontraindikation bestand und die Eltern gegen die Impfung keinen Einspruch erhoben hatten. Die Impfquoten waren sehr hoch (1988 z.B. für Masern und DTP 98 %), da die Mehrzahl der Kinder eine Kindereinrichtung besuchte. Die Krankheiten, die durch Impfen beseitigt werden können, z. B. Masern und Pertussis, galten deshalb als weitgehend eliminiert (10). In der BRD wurden, entsprechend den heutigen Regelungen, Impfempfehlungen ausgesprochen; Eltern entschieden und entscheiden, ob ihr Kind geimpft wird oder nicht.


Untersuchungspflicht - Freiwilligkeit

Mit der "Pflicht zur Untersuchung" und der Tatsache, dass die Mütterberatung und der Kinder- und Jugendgesundheitsschutz als Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens in der DDR für die gesamte vorbeugende Betreuung im Entwicklungsalter flächendeckend tätig waren, wurden 95-100 % der Kinder erreicht. In den alten Bundesländern zeigte die freiwillige Teilnahme an den U-Untersuchungen bis 1990 und danach zwar eine hohe Inanspruchnahme von 90-95 % für Kinder im 1. Lebensjahr, danach aber eine sinkende Teilnahme (mit 4-6 Jahren ca. 80 %) (10). Sorge bereitet dabei, dass vor allem Eltern, die sich in schwierigen und konfliktreichen Lebenslagen befinden und ein entsprechend hohes Risikopotenzial aufweisen, den Früherkennungsuntersuchungen fernbleiben. Allein die Schuleingangsuntersuchung wird als einzige Untersuchung in allen Bundesländern flächendeckend als Pflichtuntersuchung durchgeführt.


Qualifizierung der Mitarbeiter

Die Qualität der Betreuung hängt auch von der Ausbildung der Mitarbeiter ab. So wurden in der DDR für die Arbeit in den Mütterberatungen und im KJGS Fürsorgerinnen ausgebildet (2 Jahre), die über eine mittlere medizinische Fachausbildung verfügten. Ebenso wurde eine Zusatzqualifikation für die betreuenden Ärzte im Kinder- und Jugendgesundheitsschutz (2 Jahre) eingeführt. In der medizinischen Ausbildung der Kinderärzte in der BRD dominiert bis heute der kurative (heilende, therapeutische) Aspekt, der wenig auf präventive (vorbeugende) Belange ausgerichtet ist.


3. Öffentlicher Gesundheitsschutz für Kinder 20 Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD

Mit der Verordnung des bundesdeutschen Früherkennungsprogramms gingen eindeutig viele Vorzüge des DDR-Programms verloren, die besonders die sozialkompensatorische Funktion der Vorsorge betrafen, wie z. B.

• den Zugang zu vorbeugenden Untersuchungen für alle Kinder

• eine kontinuierliche Förderung entwicklungsauffälliger Kinder

• eine bessere und koordinierte Nachsorge gesundheitlich und sozial gefährdeter Kinder (Dispensaire)

• die bessere Qualifizierung des Fachpersonals für präventive (vorbeugende) Aufgaben

• wissenschaftlich fundierte Arbeitsmaterialien (Arbeitsanleitung, Dispensaireprogramm), die allen Kindern ohne territoriale Grenzen zugute kamen

• Kontinuität der Betreuung, Beratung, des Impfschutzes und der Dispensairebetreuung gesundheitlich auffälliger und geschädigter Kinder und Jugendlicher.

Im Vergleich mit dem "abgewickelten" DDR-Programm und den Programmen in anderen europäischen Ländern wurde von verantwortlichen Vertretern der Pädiatrie die Diskussion um eine Verbesserung der Früherkennung weitergeführt (11, 12). So wurde 1998 eine J1-Vorsorgeuntersuchung für 11-13-Jährige eingeführt und erst 2009 mit der U7a endlich die Lücke bei 3-jährigen Kindern im Untersuchungsprogramm geschlossen.

Aber auch Wertschätzung und Ausstattung des öffentlichen Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in den einzelnen Bundesländern standen und stehen zur Diskussion (13, 14).

So kam es in den letzten Jahren aus Kapazitätsgründen zu starken Einschränkungen in der Durchführung von Schuluntersuchungen, die oft nicht flächendeckend oder nur konzentriert auf bestimmte Sachverhalte (Erfassung des Impfstatus 6. Klasse/ Nachimpfungen) erfolgen konnten.

Generell ist erkennbar, dass Schuluntersuchungen in den neuen Bundesländern sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarstufe noch häufiger angeboten werden als in den alten Bundesländern. Das gilt ebenso für die Untersuchungen in den vorschulischen Betreuungseinrichtungen. Jedoch sehen die Schulärzte ihre Aufgabenerfüllung zunehmend gefährdet, obwohl die Anforderungen an die gesundheitliche Betreuung und Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Sicht des Öffentlichen Gesundheitsdienstes größer werden.

So hat sich insgesamt die gesundheitliche und psychosoziale Situation von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert. Eltern, Ärzte und Pädagogen haben in den letzten Jahren eine Zunahme von psychosomatischen Störungen und psychischen Auffälligkeiten festgestellt, besonders bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien und bei Kindern mit Migrationshintergrund.

Die nach wie vor uneinheitliche Auswertung von Schuluntersuchungen in den Bundesländern und auch die zum Nachweis dieser "neuen Erkrankungshäufigkeiten" fehlenden Untersuchungsmethoden waren nicht geeignet, diese neue Situation zu beschreiben. Erst durch den von 2003 bis 2006 durchgeführten Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) wurden für Deutschland bundesweit einheitlich erhobene Gesundheitsdaten ermittelt. Die Ergebnisse zeigen Veränderungen im Gesundheitszustand der Kinder auch in Bezug auf einen Ost-West-Vergleich (15)


4. Veränderung im Gesundheitszustand von Kindern in Ost und West und Verstärkung der sozialen Unterschiede

Für die Gegenüberstellung und Bewertung der gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Ost und West existierten zum Zeitpunkt der Wende nur wenig vergleichbare Angaben. So ist es schwierig, die Wirkungen veränderter Lebensbedingungen und der gesundheitlichen Betreuung nach 20 Jahren auf die Gesundheit der Kinder einzuschätzen.

Anhand der im Bericht "20 Jahre nach dem Fall der Mauer" des Robert Koch-Institutes dargestellten Ost-West-Unterschiede im Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen aus der KiGGS-Studie soll aber an Beispielen eine Bewertung versucht werden (s. Bericht RKI 2009) (16).

• So war z. B. in der DDR die Häufigkeit von Allergien zur Zeit der Wende geringer als in den alten Bundesländern. Mit dem Anschluss der neuen Bundesländer an die "westlichen Lebensumstände" wurde eine Zunahme für Heuschnupfen und Sensibilisierungen beobachtet, so dass sich die Häufigkeiten in beiden Landesteilen inzwischen im ungünstigen Sinne angenähert haben. Die KiGGS-Ergebnisse weisen für Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 17 Jahren folgende Häufigkeiten (Lebenszeitprävalenzen) aus: Heuschnupfen 10,7 %, Neurodermitis 13,2 % und Asthma bronchiale 4,7 % (17).

• Bei den durch Impfen vermeidbaren Erkrankungen (Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Masern) sanken nach dem Anschluss und dem Umbau der Impforganisation in den neuen Bundesländern die Impfquoten zunächst merklich ab und haben auch gegenwärtig - trotz einer Verbesserung in den letzten Jahren - das frühere hohe Niveau nicht wieder erreicht (18). Bei Masern und Pertussis (Keuchhusten), die in den neuen Bundesländern bei Kindern praktisch eliminiert waren, stieg die Erkrankungshäufigkeit nach dem Anschluss wieder deutlich an. Bei den Schuleingangsuntersuchungen zeigt sich, dass einzuschulende Kinder aus den neuen Bundesländern gegenüber denen aus den alten Bundesländern immer noch einen deutlich besseren Impfschutz haben: Impfquote von 96,7 % gegenüber 92,9 % (19). Von den älteren Kindern und Jugendlichen (14-17 Jahre) haben gegen Pertussis in den ABL: 76,9 % und in den NBL: 21,2% keine vollständige Grundimmunisierung.

• Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen werden insgesamt häufiger festgestellt. Dabei besteht besonders bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Sozialstatus ein erhöhtes Risiko, psychische Probleme zu entwickeln als bei Kindern aus Familien mit mittlerem und hohem Sozialstatus. Ausgehend von einer Verschärfung der sozialen Unterschiede in den neuen Bundesländern seit der Wende hat sich hier eine "ungünstige" Entwicklung vollzogen.

Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund sind ebenfalls häufiger betroffen als Kinder ohne Migrationshintergrund (20).

• Ein Vergleich von Unfallverletzungen von Kindern und Jugendlichen zum Zeitpunkt der Wende und danach ist schwierig, da die Datenlage zu den einzelnen Unfallorten (Haus, Freizeit, KiTa, Schule, Verkehr) sehr unterschiedlich war. Außerdem sind Unfallrisiken altersspezifisch: Kleinkinder verunglücken vor allem in der häuslichen Umgebung, Schulkinder häufig bei Freizeitbeschäftigungen und beim Sport. Auch die KiGGS-Ergebnisse spiegeln noch die Unterschiede in der Lebenswelt der Kinder in den alten und neuen Bundesländern wider.

So liegt das Risiko, sich in der Kindertagesstätte bzw. Schule (Hort) zu verletzen, in den neuen Bundesländern höher als in den alten Ländern. Das hat damit zu tun, dass in den neuen Ländern ein größerer Anteil von Kindern zur Kindertagesstätte geht. Der Ost-West-Vergleich in KiGGS ergab jedoch für die Gruppe der 1- bis 4-Jährigen eine signifikant niedrigere Unfallhäufigkeit in den neuen Bundesländern. Soziale Unterschiede ergaben sich nur bei den Straßenverkehrsunfällen, die aber in der Rangfolge erst nach den Haus-, Freizeit- und Schulunfällen kommen (21).

• Eine Zunahme von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen wurde seit den späten 80iger Jahren sowohl in der DDR als auch der BRD festgestellt. Davor zeigen Untersuchungen der körperlichen Entwicklung der Kinder kaum wesentliche Ost-West-Unterschiede, es war eher ein Nord-Südgefälle in der Körperhöhe nachweisbar. Die Ergebnisse der KiGGS-Studie belegen dagegen eine starke Zunahme des Gewichtes im Vergleich zu Referenzdaten von 1985:

15 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren sind übergewichtig, darunter sind 6,3 % der Heranwachsenden als adipös (starke Übergewichtigkeit) einzustufen (22). Im Vergleich zu den oben genannten Referenzdaten von 1985 bis 1998 ist der Anteil der Übergewichtigen auf das Eineinhalbfache gestiegen, der Anteil der Adipösen hat sich sogar verdoppelt. Dabei zeigen sich kaum Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen aus den alten und neuen Bundesländern, dafür aber starke soziale Unterschiede auf ganz Deutschland bezogen. Kinder aus Familien der unteren Sozialschicht ernähren sich ungesünder und haben ein erhöhtes Risiko, übergewichtig und adipös zu werden.

Die Ergebnisse aus KiGGS belegen insbesondere bei den Impfungen, dass bei den Eltern der neuen Bundesländer ein noch immer größeres Verständnis für vorbeugende Maßnahmen besteht als bei Eltern in den alten Bundesländern.

Andererseits haben viele Veränderungen in den Lebensbedingungen dazu geführt, dass z. B. Allergien, psychische Probleme und Übergewichtigkeit besonders bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien zunehmen.

Weitere Ergebnisse aus KiGGS zeigen auch, dass Kinder und Jugendliche aus ungünstigeren sozialen Verhältnissen und mit Migrationshintergrund seltener regelmäßig Sport treiben, stattdessen mehr Freizeit vor dem Bildschirm verbringen, stärker rauchen und öfter Opfer von Verkehrsunfällen und Gewalt sind. Sie weisen eine geringere motorische Leistungsfähigkeit auf, werden bei vergleichbaren Krankheitssymptomen seltener dem Arzt vorgestellt und nehmen die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen weniger häufig wahr.

Diese Doppelbelastung aus sozialer und gesundheitlicher Benachteiligung verschlechtert die Zukunftschancen dieser Kinder und Jugendlichen.


5. Fazit

Nach 20 Jahren deutscher Einheit beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich verschiedene Komponenten des Gesundheitssystems der DDR - insbesondere auch im Kinderbereich - bewährt haben. Die Tatsache, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien weniger bei den Früherkennungsuntersuchungen vorgestellt werden, sowie die reduzierte Betreuung der Schulkinder lassen die Schlussfolgerung zu, dass gesundheitliche Probleme nicht rechtzeitig erkannt werden, eine Behandlung bzw. Förderung verzögert einsetzt und die Folgen für die Gesundheit sich in höheren Erkrankungszahlen niederschlagen. Von Pädiatern und Schulärzten wird darauf hingewiesen, dass die gesundheitliche Situation der Kinder sich nicht weiter verschlechtern darf, besonders im Hinblick auf die Betreuung sozial benachteiligter Gruppen. Gerade in Familien mit geringem Einkommen, bei Alleinerziehenden mit mehreren Kindern, in Zuwanderer- und verwahrlosten Familien haben die Kinder einen schlechteren Gesundheitszustand als die Kinder sozial besser gestellter Familien. Zugleich fehlt es den Eltern oft an der Fähigkeit, sich gesundheitsbewusst zu verhalten. (23).

Deshalb kommen Angebote des vorbeugenden Gesundheitsschutzes in überwiegendem Maße jenen zugute, die gesünder und zugleich fähiger sind, hilfreiche Angebote zu erkennen. So wird von fortschrittlichen Kinder- und Jugendärzten im Sinne der gesundheitlichen Chancengleichheit für alle Kinder gefordert, dass die Gesundheits-, Jugend- und Sozialämter für die notwendige aufsuchende und nachsorgende Betreuung von Risikofamilien besser ausgestattet werden, sowohl personell als auch finanziell und die Kooperation zwischen den betreuenden Ärzten für die Kinder und Jugendlichen (Niedergelassene Kinderärzte, Jugendärzte, Hausärzte und Ärzte des KJÄD) ausgebaut werden muss. Neben den derzeitigen strukturellen und inhaltlichen Mängeln der vorbeugenden gesundheitlichen Betreuung von Kindern und Jugendlichen waren auch die Familien- und Sozialpolitik sowie Arbeitsmarktpolitik in den letzten Jahren nicht darauf ausgerichtet, kinder- und familienfreundliche Maßnahmen umzusetzen, sondern haben dazu beigetragen, die Schere zwischen Arm und Reich zu vergrößern.

Da mutet die von der Bundesregierung 2008 beschlossene "Strategie zur Förderung der Kindergesundheit" wie eine Farce an (24). Prävention und Gesundheitsförderung sollen danach ausgebaut und die gesundheitliche Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen gefördert werden. Die Strategie stellt Kinder und deren Familien in den Mittelpunkt, denn - welch eine Erkenntnis! - Lebensstil und Lebensumstände der Familien haben großen Einfluss darauf, ob und wie gesund unsere Kinder aufwachsen. Dabei spielt für die Gesundheitsförderung bzw. die Prävention im Kindes- und Jugendalter der "Nationale Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland" eine wichtige Rolle. In diesem wurde festgelegt, dass die psychische und physische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärker gefördert und eine verbesserte gesundheitliche Chancengleichheit erzielt werden sollen (25). Worte sind genug gesprochen und geschrieben worden, wir erwarten von der Regierung Maßnahmen zur Sicherung der gesunden körperlichen und geistigen Entwicklung aller Kinder Deutschlands und Chancengleichheit für ihre Bildung und Erziehung.

Es bleibt abzuwarten, ob und wann dazu praktische Schritte eingeleitet werden, die dann hoffentlich bald zu messbaren Ergebnissen führen, nachweisbar in der Verringerung sozialer Unterschiede im Gesundheitszustand und der Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Das ist übrigens ein als vordringlich deklariertes Gesundheitsziel des Regionalbüros Europa der Weltgesundheitsorganisation, und die Bundesregierung wird sich daran messen lassen müssen.


Dr. med. Heidrun Kahl, ehemalige Mitarbeiterin im Robert-Koch-Institut beim Bundesministerium für Gesundheit, Berlin


Literatur:

(1) Richtlinie für die Mütterberatung v. 26.4.1979, Verf.u.Mitt.d.MfGe

(2) Anweisung über die Erziehung, Betreuung und den Gesundheitsschutz der Kinder in Kinderkrippen. Verf.u.Mitt.d. MfGe Nr. 3/1988, S.25

(3) Richtlinie für den Kinder- und Jugendgesundheitsschutz v. 26.4.1979, Verf.u.Mitt.d.MfGe Nr. 5, S.73

(4) Gesundheitsschutz für Mutter und Kind, Publikation (2) der Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft, 19955 Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres ("Kinder-Richtlinien") in der Fassung vom 26. April 1976 (veröffentlicht als Beilage Nr. 28 zum Bundesanzeiger Nr. 214 vom 11. November 1976), zuletzt geändert am 18. Juni 2009 veröffentlicht im Bundesanzeiger 2009;

(5) Nr. 132: S. 3 125 in Kraft getreten am 5. September 2009

(6) Rechtsgrundlagen für die Schuluntersuchungen sind die Gesetze für den ÖGD und die Landes-Schulgesetze. Die Schuluntersuchungen sind als gesetzlich verankerte Pflichtuntersuchungen aller Schulkinder in öffentlichen Schulen in den jeweiligen Landesschulgesetzen festgelegt und in diesbezüglichen Verordnungen über die schulärztlichen Aufgaben geregelt. Weitere gesetzliche Grundlagen für die ärztlichen Untersuchungen in Schulen betreffen das Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst mit jeweiligen Anweisungen für die schulärztliche Tätigkeit in den einzelnen Bundesländern.

(7) Anordnung über die Rechtsfähigkeit des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters vom 10. Jan. 1973 (GBl. der DDR I, 1973, S. 51) sowie Anweisung über das Statut des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters (In: Verfüg. u. Mitt. d. MfGe, 1973, S. 49-50).

(8) Altenhofen L 1998. Das Programm zur Krankheitsfrüherkennung bei Kindern. Inanspruchnahme und Datenlage. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg).

(9) v. Voss H.: Gesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland, Sozialpädiatrie, 14.Jg. (1992, 4, S. 260)

(10) Schneeweiß B, Wierbitzky S (1991) Schutzimpfungen in der ehemaligen DDR. Sozialpädiatrie 13, Nr. 6

(11) Helwig H (1991): Harmonisierung der Vorsorgeprogramme. Sozialpäd.1991,10; 667-668

(12) BMG (1993) Zukunftsaufgabe Gesundheitsvorsorge. Kongressbericht. Verlag für Gesundheits-Förderung. G. Conrad. Gamburg

(13) Hurrelmann K, Palentien Ch (1996): Plädoyer für einen Umbau des jugendärztliuchen Dienstes zu einem "schulbetriebsärztlichen Dienst". Gesundheitswesen 58 ; 525-532

(14) Wegner R: Aufgaben des ÖGD im Rahmen der Kinder- und Jugendgesundheit. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2005; 48: 1103-1110

(15) Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) (2007) Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2007; 50:Heft5/6

(16) Beiträge zur GBE des Bundes: 20 Jahre nach dem Fall der Mauer: Wie hat sich die Gesundheit in Deutschland entwickelt. RKI 2009

(17) Schlaud M, Atzpodien K, Thierfelder W (2007): Allergische Erkrankungen. Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2007; 50:701-710

(18) Robert Koch-Institut (Hrsg) (2008) Pertussis: Zum Vergleich von Grundimmunisierung und Auffrischimpfung in den alten und neuen Bundesländern. Daten aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Epid Bull 27: 213-215

(19) Robert Koch-Institut (Hrsg) (2009a) Impfquoten bei den Schuleingangsuntersuchungen in Deutschland 2007. Epid Bull 16: 143-145

(20) Hölling H., Erhart M, Ravens-Sieberer U. & Schlack R. (2007). Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen - Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KIGGS). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2007; 50: 784-793

(21) Kahl H, Dortschy R, Ellsäßer G (2007) Verletzungen bei Kindern und Jugendlichen (1 - 17 Jahre) und Umsetzung von persönlichen Schutzmaßnahmen. Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 50: 718-727

(22) Kurth B-M, Schaffrath Rosario A (2007) Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 50: 736-743

(23) Lampert, T./Kurth, B.-M.: Sozialer Status und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, in: Deutsches Ärzteblatt 104, 2007, S. 2944-2949.

(24) Bundesministerium für Gesundheit (2008) Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit
www.bmg.bund.de/cln_110/SharedDocs/Publikationen/DE/Praevention/Strategie-Kindergesundheit,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/Strategie-Kindergesundheit.pdf (Stand: 27.10.2008)

(25) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2008). Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 - 2010 Zwischenbericht. Berlin: BMFSF


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Quelle:
Freidenker - Nr. 3-10 September 2010, Seite 28-35, 68. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
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Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2011