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STANDPUNKT/047: Zur Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus (Freidenker)


Freidenker Nr. 1-07 März 2007
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Zur Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus

Von Robert Steigerwald


"In einer in Klassen geschiedenen Gesellschaft nimmt die 'konventionelle Lüge' um so größere Gestalt an, je stärker die bestehende Ordnung ... ins Wanken gerät. Marx hatte voll und ganz recht, als er sagte, je mehr sich der Widerspruch zwischen den wachsenden Produktivkräften und der existierenden Gesellschaftsordnung entwickelt, desto mehr nehme die Ideologie der herrschenden Klasse den Charakter der Heuchelei an. Und je mehr die Heuchelei durch das Leben Lügen gestraft werde, desto moralischer und eiliger werde die Sprache dieser Klasse." (G. W. Plechanow, Grundprobleme des Marxismus, Berlin 1958, S. 94)


Über den sogenannten "höheren", philosophischen und
weltanschaulichen Irrationalismus

Für uns ist die Kritik des Irrationalismus ein politisches Thema! Würde er unser politisches Handeln ebenso wenig berühren, wie die Forschungen etwa auf dem Gebiet der Tiefsee, so wäre das Interesse am Irrationalismus auf bloße Bildungsbedürfnisse zurückzuführen. Politisches Problem, das bedeutet auch: die konkreten Bedingungen des Orts, der Zeit, der bestehenden Aufgaben zu beachten. Das gilt auch für den Stil, in dem wir kritisieren. Im Handgemenge sind Tiefschläge nicht immer zu vermeiden, aber in der gleichsam ruhigen Phase von Auseinandersetzungen sollte man Tiefschläge - dies nur als Bild - vermeiden.

Jeder Irrationalismus geht aus von einem nicht mehr hinterfragbaren, unbedingt anzunehmenden Grundsatz, Postulat, man nenne es wie man wolle. Schopenhauer, einer der bedeutenden Irrationalisten auf philosophischem Gebiet, formulierte seinen Grundsatz so: "Man könnte die Geschichte ansehen als Fortsetzung der Zoologie." (Parerga II/480) Über Nietzsche und andere Irrationalisten hin wurde daraus: Es muss immer Raub- und Beutetiere geben! Friss oder werde gefressen! Töte oder werde getötet! Man bedient sich dann scheinbar wissenschaftlich solcher Beispiele aus dem Tierleben, so dass der Irrationalismus nicht sofort ins Auge springt, man muss auf die Fundamente achten! Dann wird deutlich, dass Irrationalismus in seiner reaktionären oder auch nur konservativen Version - stets bemüht ist, die Wissenschaft von den Gesetzen gesellschaftlicher Entwicklung zu bekämpfen, und das bedeutet stets, bewusst oder unbewusst: Angriff auf den Marxismus.

Dennoch: Es macht einen Unterschied, ob Irrationalismus als solcher bewusst vorgetragen wird oder ob er sich aus einem irrigen Weltbild, einer irrigen Weltanschauung angesichts des zutiefst irrationalen kapitalistischen Systems ergibt. Marx hat Religion - und sie ist doch kein rationales Weltverhältnis! - als Ausdruck des wirklichen Elends und zugleich als Protestation gegen das wirkliche Elend gekennzeichnet. Das kann dazu führen, dass uns mit Christen gar manches, etwa Antifaschismus, Solidarität mit der Dritten Welt, gegebenenfalls sogar deren sozialistische oder kommunistische Orientierung verbindet. Ganz anders aber stünde und steht es, wenn wir es mit solchen Vorkämpfern des Irrationalismus wie etwa - der Teufel hat ihn aber schon geholt, wir haben heute andere Feinde - Alfred Rosenberg, den Nazi-Chefideologen zu tun haben oder hätten.

Auch mit jenen vom Irrationalismus geprägten Menschen, die sich protestierend, kämpfend dem Imperialismus entgegenstellen, sollten wir, wo sich das aus Zusammenhängen ergibt (also nicht im Stile einer Art Kirchenkampf, Kirchen und Religion sind ohnehin nicht dasselbe) die Diskussion führen können. Aber das wäre doch anders zu handhaben, als wenn wir auf die Reiseprediger des Irrationalismus treffen, die im Dienste des Imperialismus ihr Handwerk betreiben.

Es gibt übrigens auch intellektuelle Unterschiede, die eine Rolle spielen. Schopenhauer war ein Irrationalist, Spengler auch, von Nietzsche nicht zu reden. Aber die Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt auf anderem Niveau als jene mit Rosenberg.

Ich verweise auch auf solche Persönlichkeiten, die mehr oder weniger vom Irrationalismus geprägt waren oder in deren Werken wir Elemente des Irrationalismus finden, die dennoch zum Teil direkt an unserer Seite standen oder von den Nazis umgebracht wurden wie Theodor Lessing, Gustav Landauer. Aber auch im Werk von Erich Fromm, der Freudomarxisten, Herbert Marcuses oder Ernst Blochs findet man Irrationalismen. Und wie sollten wir es, lebten wir auf dem lateinamerikanischen Kontinent, mit den dort recht zahlreich vorhandenen tief religiösen, aktiv gegen den Imperialismus Partei ergreifenden Menschen halten?

Kurzum, ich schlage vor, die Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus zwar entschieden parteilich für rationales Denken und Handeln, aber auch da, wo dies notwendig ist, mit Bedacht zu führen.


Zum alltäglichen Irrationalismus

Unabhängig von den "höheren Gefilden" der Debatten um und über Irrationalismus, also wenn es beispielsweise um Philosophie geht, sind wir einem alltäglichen Irrationalismus ausgesetzt, den die meisten von uns gar nicht wahrnehmen, obgleich er der massenwirksame, gefährliche, dem Imperialismus am meisten nützliche Irrationalismus ist. Er kommt verpackt in unserer gemeinverständliche Sprache, oft in wirkungsvolle Bilder gekleidet daher. Und er bedient sich einer regelrechten Gaunersprache.

Im Mittelalter - sicher nicht nur damals -entwickelten kriminelle Gruppen, wenn sie auf Raub- und Beutezüge ausgingen, eine Tarnsprache (obwohl sie doch damals nicht elektronisch überwacht werden konnten). Statt Geld hieß es etwa "Moos", und noch mehr entstellt hieß es dann: "Wo der Bauer den Most holt", wenn gemeint war: Wo es Geld zu rauben gibt. Mit einem solchen Rotwelsch, einer solchen Gaunersprache haben wir es heute Tag für Tag, ständig zu tun. Sie berieselt uns in der Zeitung, der Betriebsversammlung, den Nachrichten in Funk und Fernsehen. über manche wurde auch schon kritisch nachgedacht, andere aber werden einfach unkritisch hingenommen.


Hier eine unvollständige Gaunersprachen-Liste:

Arbeitnehmer und Arbeitgeber; Arbeitsunwillige; Besitzstandswahrer; Blockierer; Bremser; demografische Schieflage; Der schlanke Staat ist der beste; Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen; Die Renten sind nicht mehr bezahlbar; Diktatur der Tarifautonomie; Eigenverantwortung; Freizeitpark Deutschland; Flexibilität des Arbeitsmarktes; Leistung muss sich wieder lohnen; Man muss die Pferde füttern, dann haben die Spatzen auch was zu fressen; Durch längere Wochen- und Lebensarbeitszeit zu mehr Arbeitsplätzen; Mitnahmementalität; Neiddebatte; Schlaraffenland Deutschland; Senkung der Lohnnebenkosten; Solidarität der Arbeitsplatzbesitzer mit den Arbeitslosen; soziale Hängematte; Sozialmissbrauch; Sozialneid; Spaßgesellschaft; Unser Gesundheitssystem ist zu teuer; Vollkaskomentalität; Wir dürfen heute nicht verbrauchen, was unsere Enkel einst brauchen; Wir können uns den Sozialstaat nicht länger leisten, wenn wir ihn nicht reformieren; Wir müssen sparen; Wohlstandsmüll; Für Kriegsbeteiligung: Wir müssen Verantwortung übernehmen; Oder: Deutschland muss auch am Hindukusch verteidigt werden.

Das ließe sich mühelos fortsetzen. Ich will an Beispielen zeigen, dass es sich um Gaunersprache handelt. Der Generationenvertrag sei gefährdet, heißt es, weil die ältere Generation immer älter werde und zu wenige Kinder geboren würden. Das leuchtete auf den ersten Blick ein. Denn tatsächlich verändert sich die Altersstruktur der Gesellschaft. Dadurch seien die Renten für die spätere Generation nicht mehr gesichert. Eine aktiv im Arbeitsleben stehende Arbeitskraft müsse für die Renten mehrerer Rentner aufkommen.

Hier wird ein ideologischer und politischer Schein erzeugt. Vor 100 Jahren waren 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft nötig, um die restlichen 20 Prozent (und sich selbst) mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Heute reichen wegen der höheren Arbeitsproduktivität 4 Prozent aus. Warum sollen - projiziert man die bisherige stetige Steigerung der Arbeitsproduktivität in die Zukunft - in 30 Jahren nicht 25 Millionen Arbeitende ausreichen, um die restlichen Dutzende Millionen zu versorgen? Wir müssen heute sogar - aber wegen der Profitprobleme der Lebensmittelkonzerne -die Lebensmittelproduktion drosseln. Es geht also nicht darum, wie viele Erwachsene im Rentenalter einer aktiven Arbeiterklasse gegenüberstehen, sondern um die Produktivität der Arbeit. Sie ist heute so groß, dass eine Arbeitskraft ausreichen würde, zwei oder drei Rentner zu ernähren, sofern das Mehrprodukt, das diese Arbeitskraft erzeugt, nicht vom Kapital, sondern gesellschaftlich angeeignet werden würde. Und wie war das mit den Gewinnen von heute, die zu Investitionen von morgen und zu Arbeitsplätzen von übermorgen führen würden, wie Schmidt-"Schnauze" es Hunderten staunenden SPD-Betriebsräten erzählte? Beziehungsweise: Wenn die Pferde fressen, haben auch die Spatzen was zum Fressen? Abgesehen davon, dass die Arbeiter in der Scheiße der Herren wühlen sollen, um am Leben zu bleiben: Stimmt denn das Bild? Die Lohn- und Gehaltssumme ist brutto von 2000 bis 2005 um 2,9 Prozent gestiegen, berücksichtigt man die höheren Verbraucherpreise kommen wir auf ein Minus von 5,4 Prozent. Gleichzeitig aber stieg die Arbeitsproduktivität, auf der Basis des Jahres 2000, um 17 Prozent. Im Pferdemist, um bei dem Bild zu bleiben, finden die Arbeiterinnen und Arbeiter, obgleich sie mehr als zuvor arbeiten, nicht mehr zu fressen. das MEHR gilt nur für die Pferde! Die sogenannten Arbeitnehmer haben es mit Reallohnverlusten zu tun, aber die Unternehmer schwelgen in riesigen Expostüberschüssen. Kein einziger Boss hat die Gewinne zum Zweck des Schaffens von Arbeitsplätzen benutzt. Stets ging und geht es darum, durch Rationalisierung die Gewinnchancen zu erhöhen. Hin und wieder müssen dazu auch ein paar Arbeitskräfte mehr eingesetzt werden, insgesamt aber werden durch die Investitionen also doch Arbeitskräfte "frei"- gesetzt. (Auch ein Wort aus der Gaunersprache!)

Und wie ist es mit dem Sparen? "Unsere" "Volks"-Wirtschaft hat eine der höchsten Sparquoten der Welt! Sparen sollen die unteren Millionen, damit die oberen Zehntausend - siehe Ackermann, Esser usw. - nicht um ihre fetten Einkünfte zu bangen haben. Und was ist mit der angeblich hohen Steuerbelastung der Unternehmen? In Wahrheit steht Deutschland in Europa immer noch am unteren Ende der Steuerlastquote! Hier ein paar Beispiele: Der Buderus-Konzern (10.000 Beschäftigte) hatte [2005?] bei einem Überschuss des Unternehmens von 104 Prozent eine Ertragssteuer, die um 36 Prozent sank. Bei Bilfinger-Berger (50.000 Beschäftigte) stieg der Überschuss um 15 Prozent und sanken die Ertragssteuern um 75 Prozent.

Und die sogenannten "Lohnnebenkosten"? Die Arbeitskraft wird ein ganzes Arbeitsleben lang zur Profiterzeugung eingesetzt, abgenutzt. Die Bosse wollen sich durch ihren Angriff auf die "Lohnnebenkosten" davor drücken, mit zu tragen an den Folgen dieser im Dienste der Profiterzeugung eingetretenen Abnutzung der Arbeitskraft.

Es bereitete keine große Mühe, jede einzelne der hier benannten Vokabeln als das zu erweisen, was es ist: Element einer Gaunersprache! Die Analyse des alltäglichen Irrationalismus führt zu dem Schluss: Die intellektuellen Verwalter des heutigen Kapitalismus erzeugen einen ungeheuren Nebel, um den arbeitenden Massen den Durchblick zu verwehren, rationales Denken bei ihnen gar nicht erst aufkommen lassen. Auch die bunten Illustrierten und ähnliche Erzeugnisse der "Traumfabriken" dienen genau demselben Zweck. Da ergötzen sich jene, die den Reichtum erarbeiten, am Saus- und Brausleben jener, die nicht arbeiten, sondern - frei nach Heine - der faule Bauch sind, der verfrisst, was fleißige Hände erwarben.

Es sind riesige Anstrengungen nötig um zu erreichen, dass die arbeitenden Massen aus dem Taumel der Irrationalismen erwachen. Dass sie sehen, nicht nur seine geistigen Produkte, sondern das System selbst ist zutiefst irrational, unvernünftig. Wie "rational" war es, dass Herr Esser ganze 13 Monate bei Mannesmann im Amt war und dann 65,8 Millionen Mark Abfindung erhielt? Beim Stand von 2003 (also längst überholt) Ackermann jährlich 6,3 Millionen, Schrempp 2,46 Millionen, Pierer 2,31 Millionen "verdienten" (von den sogenannten "Nebeneinkünften", die oft noch größer sind, einmal ganz abgesehen).

Oder ist es etwa rational, wenn die Bosse zwar in ihren Betrieben jede Arbeitsminute, jeden Handgriff, jedes Gramm Material, das zum Einsatz kommt, genauestens planen, dort auf keinen Fall Freiheit und Eigenverantwortung der arbeitenden Frauen und Männer zulassen, aber im gesamtgesellschaftlichen Rahmen sich vor lauter Freiheitsdemagogie jedem rationalen, geplanten Umgang mit der Arbeitskraft und den Schätzen der Natur, den beiden Grundlagen des gesellschaftlichen Reichtums widersetzen, denn das sei doch Sozialismus! Vergewaltigung unserer Freiheit!


Dr. Robert Steigerwald ist Mitherausgeher der Marxistischen Blätter und Mitglied des DFV.


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Quelle:
Freidenker - Nr. 1-07 März 2007, Seite 3-6, 66. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: vorstand@freidenker.de
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2010