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VERBAND/021: 100 Jahre Proletarische Freidenker (Freidenker)


Freidenker Nr. 4-08 Dezember 2008
Organ des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Tradition, Erbe und Gegenwart
100 Jahre Proletarische Freidenker

Von Waltraud Roth


Prolog

Nachforschungen im Eisenacher Stadtarchiv über die Gründung des "Zentralverbandes deutscher Freidenkervereine" haben nur wenig Aussagefähiges hervorgebracht. So veröffentlichte die "Eisenacher Tagespost" am 4. September 1908 lediglich den folgenden kurzen Beitrag:

"Am 5. und 6. September findet in Eisenach ein Delegiertentag deutscher Freidenker statt, die nicht im deutschen Freidenkerbunde sind. Als Tagungslokal ist 'Der goldene Engel' genommen, woselbst am Sonnabend, dem 5. September, abends ½ 9 Uhr, Herr Fricke, Altona, über 'Das Freidenkertum und die moderne Arbeiterbewegung' referiert. Am Sonntag, abends 8 Uhr, spricht im 'Alexanderhof' der Redakteur K. Beißwanger über: 'Warum müssen wir Freidenker werden?'"

Es gilt jedoch als gesichert, dass auf dieser Delegiertenkonferenz der "Zentralverband deutscher Freidenkervereine" gegründet wurde. Hiermit entstand erstmals auf Reichsebene eine Gruppe von Freidenkern, die voll und ganz der proletarischen Richtung verpflichtet war. Als Organ des Verbandes wurde von Konrad Beißwanger die Wochenschrift für Volksaufklärung 'Der Atheist' herausgegeben.

Aber kommen wir nun zur Geschichte:


Die proletarische Freidenkerbewegung - eine Richtung innerhalb der deutschen Freidenkerbewegung

Die proletarische Freidenkerbewegung entwickelte sich seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts in enger Wechselwirkung mit dem revolutionären Klassenkampf der Sozialdemokratie und war vielfältig in das Organisationssystem der deutschen Arbeiterbewegung eingebunden. Mit der Gründung des "Deutschen Freidenkerbundes" (DFB) war 1881 ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung getan worden. Vielfältige Probleme standen aber den Aktiven wie auch den Mitgliedern noch bevor. Denn es galt nach wie vor das berüchtigte Sozialistengesetz, das erst am 30. September 1890 aufgehoben wurde.

Probleme bereiteten in erster Linie die staatlichen Maßnahmen mit dem Ziel der Unterdrückung, der Behinderung und der Zensur; aber es kamen auch noch die unterschiedlichen Auffassungen der Mitglieder zur Organisation hinzu.


*


Kasten:

Zunehmend geriet Dr. Karl August Specht in Konflikt mit jenen Kräften des Freidenkerbundes, die die freidenkerischen Ideen in den Dienst von Parteipolitik stellten. In diesem Konflikt äußerte er sich in seinem Beitrag "Freidenkerthum und Parteipolitik grundsätzlich(51):

"Das Freidenkertum als solches darf sich in seinem Interesse von keiner bestimmten politischen Partei ins Schlepptau nehmen lassen oder einer solchen die politischen Kastanien aus dem Feuer holen, obwohl es jedem einzelnen Freidenker unbenommen ist, sich als Staatsbürger oder Politiker zu einer politischen Partei zu bekennen, die seinen Neigungen oder seinen Ansichten am besten entspricht."

(51) "Freidenker-Almanach" 19. Jg. 1890, S. 25-24,


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Einen Einblick in die damalige Situation der Freidenkerbewegung und ihrer Organisation vermittelt uns die Darstellung von Hedwig Henrich-Wilhelmini. Als Mitglied des DFB war sie 1895 Delegierte zum "Internationalen Freidenker-Kongreß" und berichtete darüber in "Der Freidenker", Nr. 8 und 9/1985. In ihrem Beitrag führte sie u.a. aus:

"Leider habe ich von den Fortschritten des Freidenkertums in Deutschland wenig Gutes zu berichten. Erdrückt und verfolgt von der Regierung, und nicht wie in Belgien und Frankreich unterstützt von der revolutionären sozialdemokratischen Partei, befinden wir uns schon seit Jahren in einem bedauerlichen Niedergang. Ein anderer Übelstand, unter dem unsre Sache in Deutschland leidet, ist der Mangel an Solidarität der Interessen unter den Freidenkern selbst.

Wir haben ausgesprochene Freidenker unter den Sozialisten, die aus der Kirche ausgetreten sind und ihre Kinder in unsren Prinzipien erziehen lassen, aber dem Freidenkerbunde deshalb nicht beitreten, weil derselbe, um nicht mit dem Gesetze zu kollidieren, welches in Deutschland die Frauen von jeder Beteiligung an politischen Vereinigungen und Versammlungen ausschließt, gezwungen ist, in seinen Statuten alles zu vermeiden, was höhern Orts als politisch gedeutet werden könnte.

Daneben haben wir die sogenannten gemäßigten oder bürgerlichen Freidenker, die alles zurückweisen, was die soziale Frage streift, und das Freidenkertum lediglich auf die antireligiöse Agitation beschränkt wissen wollen.

Wieder eine andre Gruppe Freidenker, denen auch ich mich zuzähle, umfassen den freien Gedanken in seiner ganzen Ausdehnung und auf allen Gebieten, ebenso im politischen und sozialen, wie im religiösen und moralischen Leben. Es sind dies die sogenannten 'Roten' im Freidenkerbunde.

Die größte Zahl der Anhänger des freien Gedankens bilden den Verband der 'freireligiösen Gemeinden'. Sie sind aus der Kirche ausgeschieden und haben von dem dogmatischen Christentum sich losgelöst, acceptieren aber teilweise wenigstens die christliche Lehre und auch einige religiöse Bräuche, wie Taufe, Jugendweihe etc. Die Pflege des Guten und Schönen nennen sie ihre Religion und erteilen den Kindern einen dementsprechenden antiklerikalen Sittenunterricht durch einen von der Gemeinde eigens angestellten Sprecher. Einige dieser freireligiösen Gemeinden, wie die in Berlin und München, sind dem deutschen Freidenkerbunde beigetreten..."
(1)

Soweit zum Freidenkertum allgemein. Unter den proletarischen Sport-, Freizeit und Kulturorganisationen - wie z. B. Arbeiter-Turnerbund, Arbeiter-Samariterbund, Naturfreunde, - verkörperten die Freidenker eine spezifische Weltanschauungsbewegung, die sich der Emanzipation der Arbeiter, ihrer Befreiung von der Bindung an religiöses Denken, von religiös geprägten Normen und Wertvorstellungen sowie von der geistigen Bevormundung durch die Kirchen aller Konfessionen widmete.

Obwohl es innerhalb des oben erwähnten bürgerlich-liberalen Deutschen Freidenker-Bundes von Anfang an auch eine starke proletarische Richtung gab, erfolgte die Gründung einer selbständigen proletarischen Freidenkerorganisation, des Zentralverbandes deutscher Freidenkervereine, erst im Jahre 1908 - in Eisenach.

Das entsprach zunächst der noch in einem hohen Maße vorhandenen Gemeinsamkeit von proletarischen und nichtproletarisch-bürgerlichen Kräften sowie proletarischen Klassenkampfinteressen, die sich für Geistesfreiheit und für die Propagierung eines naturwissenschaftlichen Weltbildes einsetzten. Als Beispiele seien Karl August Spechts Werke genannt, deren Stoßrichtung darauf gerichtet war, den religiös begründeten Herrschaftsansprüchen des konfessionellen Staatskirchentums zu begegnen, und die Forderungen enthielten wie:

die Trennung von Staat und Kirche, verbunden mit einer Privatisierung des religiös-kirchlichen Lebens,
für einen weltlichen Schulunterricht und die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht,
Kampf für die zwar formalrechtlich sanktionierte, aber noch äußerst beschränkte religiöse und politische Gewissensfreiheit,
Kampf gegen die Diskriminierung Konfessionsloser bei der Einstellung als Beamte, Offiziere, Lehrer und Hochschullehre,
die Abschaffung der religiösen Eidesformel bei Gericht,
Kampf gegen die Behinderung der Feuerbestattung als legitimer Bestattungsform und gegen die Verweigerung von Bestattungen aus konfessionellen Gründen,
Kampf gegen den zwangsweisen Religionsunterricht.

Diese und viele andere Forderungen stellten objektiv gemeinsame Kampffelder von Arbeiterbewegung und fortschrittlichen Vertretern der Bourgeoisie dar. In diesem Sinne kam der Freidenkerbewegung eine doppelte Funktion zu: So war sie erstens eine wichtige Brücke zur Verwirklichung der bündnispolitischen Aspekte in der Klassenauseinandersetzung. Und so war sie zweitens andererseits auch ein Weg, über den die Menschen, die "mit der Kirche fertig waren", an die sozialistische Ideologie und die Sozialdemokratie herangeführt werden konnten.

Dies erfolgte insbesondere über die offensive Propaganda einer naturwissenschaftlich-atheistischen Weltanschauung.

Für die außerordentlich intensive Wechselwirkung, die zwischen dem spezifisch freidenkerischem Gedankengut und der weltanschaulichen kulturellen Bildungsarbeit innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung bestand, kann die außerordentlich große Resonanz der "welträtsel" Ernst Haeckels als schlagender Beweis angesehen werden.


Eigenständiges kulturpolitisches Konzept

Bereits innerhalb des DFB entwickelte sich die proletarische Richtung der Freidenkerbewegung heraus, die etwa 40 Arbeiterfreidenkervereine umfasste. Diese Richtung lieferte, neben dem gemeinsamen Widerstand gegen das Staatskirchentum und die religiöse Bevormundung, auch schon erste eigenständige Ansätze zu einem kulturpolitischen Konzept, das auf einem tiefen Verständnis der Rolle von Sitten, Bräuchen und Riten im menschlichen Leben beruhte, und das darauf gerichtet war, eine von der Religion unabhängige Alternative zu schaffen.

Wie wirksam solche eng mit dem Klassenkampf der Arbeiterbewegung verbundenen Tendenzen waren, das zeigte die sich herausbildende Tradition der Maifeiern in ihrem Doppelcharakter als Kampf- und Feiertag, als Welttag der Arbeit und als Frühlings-Volksfest.

Mit der Entwicklung der proletarischen Freidenkerbewegung waren solche sich herausbildenden Bräuche verbunden wie die Jugendweihe (z. B. in Gotha ab 1910), die weltliche Namensgebung anstatt der Taufe, die weltlichen Bestattungsfeiern im Zusammenhang mit dem 1905 gegründeten "Verein der Freidenker für Feuerbestattung". Letzterer entwickelte sich in der Weimarer Republik zu einer der größten Massenorganisationen der deutschen Arbeiterklasse mit über einer halben Million Mitgliedern.

Trotz einer breiten gemeinsamen Interessenübereinstimmung der proletarischen mit den nichtproletarischen und bürgerlich-liberalen Freidenkern wurde es nach der Wende zum 20. Jahrhundert notwendig, eine organisatorische Verselbständigung zu vollziehen.

Als 1908 der "Zentralverband deutscher Freidenker-Vereine" gegründet wurde, geschah das mit dem Ziel der Herbeiführung einer "reinlichen Scheidung" zwischen bürgerlicher und proletarischer Freidenkerbewegung. Allerdings hatte die neu gegründete Organisation noch einen Kompromisscharakter: Sie bezweckte nach ihrem Statut "den Schutz und die Ausbreitung der freien Weltanschauung innerhalb des Volkes".(2)

Unter Leitung führender Persönlichkeiten, wie Bernhard Menke und Konrad Beißwanger, Herausgeber des "Atheisten", prägte die Organisation jedoch ihre Bindung an die Sozialdemokratie immer offener aus und trug Züge einer "Vereinigung klassenbewußter sozialdemokratisch denkender Proletarier".(3)

Um die weltanschauliche Auseinandersetzung mit dem amtskirchlichen Christentum den Erfordernissen des Klassenkampfes unterzuordnen, war es notwendig, den Atheismus in einer solchen Weise zu propagieren, dass dadurch keine religiösen Gefühle christlich gebundener Klassenbrüder verletzt wurden.


Das Freidenkertum als Massenbewegung

Nach dem Ersten Weltkrieg, der für die proletarische Freidenkerbewegung einen empfindlichen Rückschlag bedeutete, eröffneten die bürgerlich-demokratischen Verhältnisse der Weimarer Republik den Freidenkern entscheidende neue Handlungsspielräume. Mit der Weimarer Verfassung wurde zwar das Staatskirchentum formalrechtlich beseitigt, doch war man von einer wirklichen Privatisierung der Religionsausübung noch weit entfernt.

Die großen christlichen Kirchen stellten noch immer und nun als "Körperschaften des öffentlichen Rechts" eine gesellschaftliche Macht dar, die aufgrund des föderalistischen Staatsaufbaus der Weimarer Republik auch eine eigene Kulturhoheit besaßen und die damit über ein Erhebliches an Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme verfügten.

Allerdings konnte man nicht verhindern, dass sich seinerzeit auch eine breite Kirchenaustrittsbewegung entwickelte, so allein aus den evangelischen Landeskirchen in den Jahren 1919 229.778 Personen, 1920 305.584 Personen und 1921 246.075 Personen.(4) Diese Tendenz setzte sich in den nachfolgenden Jahren in gleicher Größenordnung fort.

So waren gute Bedingungen entstanden, dass sich die Freidenkerbewegung in den Zwanzigerjahren zu einer wirklichen Massenbewegung entwickeln konnte, was zudem von einem verstärkten Trend zur Säkularisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens gefördert wurde.

In gleicher Weise setzte sich die Feuerbestattung durch, die nicht nur eine würdige Bestattungsform besonders für Angehörige der Arbeiterklasse darstellte, sondern auch ein demonstratives Abgehen vom christlichen Dogma der Erdbestattung.

Innerhalb der gespaltenen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik stellte die Freidenkerbewegung über viele Jahre hinweg ein verbindendes Element dar. In der "Gemeinschaft proletarischer Freidenker" (GpF), wie sich der in Eisenach gegründete Verband ab 1922 nannte, wirkten Seite an Seite Sozialdemokraten und, nach Gründung der KPD, Kommunisten. Gleiches galt für den "Verein der Freidenker für Feuerbestattung". Allerdings gestaltete sich damit das ideologische Bild der innerhalb der GpF wirkenden Kräfte als außerordentlich heterogen. Dies spiegelte sich auch in einer relativ pauschalen und sehr allgemein gehaltenen Programmatik wider, wo die "wirtschaftliche und geistige Befreiung der Volksgenossen" und die "Überführung aller kulturellen und wirtschaftlichen Werte in Gemeinbesitz"(5) als Verbandsziele proklamiert wurden. Das bewirkte aber u.a. auch, dass sich sektiererische Tendenzen der atheistischen Propaganda und deren antireligiöse Stoßrichtung erheblich verstärkten.


Neue Programmkonzeption

Für die Bewertung der proletarischen Freidenkerbewegung und ihre Einordnung in unser Traditionsbild ist jedoch die Rolle relevant, die die GpF durch ihre Mittelstellung zwischen SPD und KPD und als Transmissionsglied der von den Kommunisten verfolgten Einheitsfrontpolitik spielen konnte. Von besonderer Bedeutung für die Bestimmung der Arbeitsinhalte wurde seit Mitte der Zwanzigerjahre die Durchsetzung der Leninschen Erkenntnisse über die Religion und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für die Strategie und Taktik der KPD. Mit der Publizierung der Leninschen Aufsätze über die Religion durch Hermann Duncker im Jahre 1926 fand die Rezeption der Leninschen Religionskritik auch in Freidenkerkreisen weite Verbreitung.

Erstmals wurde der Leninsche Theorieansatz 1926 durch Walter und Anna Lindemann für die Rolle der Freidenker im proletarischen Klassenkampf mit der Programmkonzeption "Die proletarische Freidenker-Bewegung. Geschichte, Theorie und Praxis" umgesetzt. Mit diesem revolutionären Konzept der Lindemanns wurde ein neuer Abschnitt in der freidenkerischen Theorieentwicklung eingeleitet.

Die Gothaer Freidenkerbewegung verbindet mit Anna und Walter Lindemann eine besondere Traditionslinie, wirkten doch beide in der Weimarer Republik in Gotha als Freidenker-Lehrer und entwickelten dort eine breite Bildungsoffensive für die Arbeiterkinder, aber auch für Erwachsene.

Die Auseinandersetzungen im Vorstand der GpF führten Ostern 1924 auf der Leipziger Tagung der Generalversammlung zur Bildung eines paritätisch aus SPD- und KPD-Mitgliedern zusammengesetzten neuen Führungsgremiums. Auf dieser Tagung kam es auch zu einer ufer- und ergebnislosen Diskussion über ein neues Statut, das die Lindemanns ausgearbeitet hatten.

In ihrer Programmbroschüre schreiben die Lindemanns zu dieser Tagung u.a.:

"Auch heute noch bestehen ernste Meinungsverschiedenheiten über Ziel und Wege der proletarischen Freidenkerbewegung... Der Unterschied zwischen ihrer und unserer Auffassung besteht in der Hauptsache darin, dass sie unseres Erachtens 'Nur-Freidenker' sind, während wir die Einheit des Klassenkampfes betonen und der Freidenkerbewegung eine - d.h. die notwendige - Stellung im Rahmen des politischen Kampfes zuerkennen, wobei wir allerdings allen proletarischen Organisationen gegenüber mit aller Energie dafür eintreten, dass der Freidenkerbewegung die gebührende Stellung eingeräumt wird."
(6)

Das Lindemann-Programmkonzept kritisierte die das freidenkerische Selbstverständnis bis dahin prägende "Säulentheorie", die die verschiedenen Arbeiterorganisationen zwar äußerlich nebeneinander stellte, die aber "die Einheit des Klassenkampfes und die damit einheitliche Führung völlig beseitigt habe."(7) Die Lindemanns stellten heraus, dass auch die Freidenker die führende Rolle der revolutionären Kampfpartei anerkennen müssen.

Naturwissenschaftliche Aufklärung und atheistische Weltanschauung wurden daher primär in ihrer Funktion gesehen, die Arbeiter an den Klassenkampf heranzuführen und sie dabei mit einem wissenschaftlichen Weltbild auszustatten. Die Lindemanns setzten das in ihre eigene Praxis um, indem sie viele Bildungsveranstaltungen organisierten und dort auch selbst als Referenten auftraten.

Die Lindemanns knüpften an jene positiven Traditionen der Vorkriegszeit an, die der Arbeiterklasse eine Alternative zu der von den Kirchen wahrgenommenen sozialen und kulturellen Funktionen zu schaffen suchten. Die Freidenker wollten, so Anna und Walter Lindemann, den Proletarier "von der Wiege bis zur Bahre durch das Leben geleiten".(8)

Auch in den beiden großen Arbeiterparteien gab es wie in der GpF unterschiedliche Auffassungen zu Zielen und Wegen des Freidenkertums. Die KPD versuchte, sowohl die Spezifik des freidenkerischen Anliegens im Auge zu behalten und zu fördern als auch ihre massenpolitischen Ziele umsetzen, um so an die Massen heranzukommen und diese durch eine beharrliche Überzeugungsarbeit für ihre Strategie zu gewinnen. Die SPD jedoch konnte aus koalitionstaktischen Gesichtspunkten heraus eine konsequente Vertretung freidenkerischer Ziele nicht anstreben. Aus diesem Grunde wirkte die reformistische Führungsgruppe in der GpF in zunehmendem Maße auf eine Spaltung des Verbandes hin, die zur Absplitterung einer auf die SPD orientierten Sonderorganisation "Bund sozialistischer Freidenker" führte.

Es war vor allem der wirkungsvollen Kompromisspolitik der KPD-Funktionäre in der GpF zu verdanken, dass die Einheit trotz der Abspaltung dieser Randgruppe noch bewahrt bleiben konnte. Die außerordentliche Generalversammlung der GpF am 1. und 2. August 1925 in Leipzig konnte sogar einen weiteren Aufschwung des Verbandes verzeichnen. Sinnfällig wurde dies insbesondere im Jahre 1927 in der organisatorischen Verschmelzung mit dem "Verein für Feuerbestattung" zu einer einheitlichen Gesamtorganisation, dem "Verband für Freidenker und Feuerbestattung" (VfFF). Die Mitgliederzahl dieses neuen Verbandes wuchs sprunghaft auf über 500.000 Mitglieder an, ab 1930 trug diese Organisation den Namen "Deutscher Freidenker-Verband".

Zugleich verstärkten sich aber in der Führung des Verbandes auch die Positionen der reformistischen Kräfte, die sich insbesondere auf die finanzstarke und daher einflussreiche Bestattungsabteilung stützten. Diese Kräfte versuchten, die auf den politischen Kampf gerichtete weltanschauliche Propaganda und die klassenmäßige Beeinflussung und Erziehung der Mitglieder Schritt für Schritt abzubauen.

Seit 1928 wurden so in zunehmendem Maße die Konflikte mit der auf die KPD orientierten Richtung unter den Mitgliedern und Funktionären verschärft mit dem Ziel, diese schrittweise aus dem VfFF hinauszudrängen. Dieses wurde leider indirekt noch durch bestimmte sektiererische Positionen seitens der KPD gefördert. Allerdings sollte sich der Spaltungsprozess dann noch über mehrere Jahre hinziehen.


Schauplatz Gotha

Einem Befragungsprotokoll über die Gothaer Freidenkerbewegung konnte ich Folgendes entnehmen: Die eher linke Ortsgruppe Gotha im Bezirk Westthüringen zählte seinerzeit 3.200 Mitglieder, und die Bezirksgeschäftsstelle hatte ihren Sitz in Gotha. Der Hauptvorstand befand sich in Berlin; dieser betrieb eine eindeutig rechtssozialdemokratische Politik. Der damalige Gothaer Vorsitzende Adolf Hertel neigte sich persönlich immer mehr dieser Richtung zu.

Im Jahre 1929 gab Hertel eine Anweisung des Hauptvorstandes bekannt, die jedoch von den sieben kommunistischen Bezirksvorstandsmitgliedern abgelehnt wurde. Hertel informierte Berlin über diese Ablehnung. Daraufhin wurden alle sieben Kommunisten, darunter auch die Lindemanns, aus dem Vorstand ausgeschlossen.

Von den 3.200 Gothaer Mitgliedern verblieben nur etwa 200 auf der Seite Hertels - sämtlich Mitglieder der SPD. Damit war die Spaltung vollzogen. In Thüringen selbst bildete sich eine starke in Opposition zum Hauptvorstand stehende Oppositionsgruppe, die auch eine neue Geschäftsstelle einrichtete. Dieser Prozess führte schließlich im Jahre 1931 zur Bildung des kommunistischen "Verbandes proletarischer Freidenker" (VpFD) mit deutschlandweit 153.000 Mitgliedern. Dieser konnte sich jedoch gegen die Spalterpolitik der Reformisten nur schwer durchsetzen und daher in der kurzen Zeit bis zur Errichtung der Nazi-Diktatur kaum eine wirkungsvolle Tätigkeit entfalten. Bereits im Jahr 1931 wurde gegen diesen Verband im Rahmen der Faschisierungspolitik des Monopolkapitals ein Tätigkeitsverbot verhängt, und schließlich wurde er durch eine Notverordnung vom 5. Mai 1932 gänzlich zerschlagen. Unmittelbar nach der faschistischen Machtergreifung wurden schließlich auch alle anderen freidenkerischen und freigeistigen Vereine verboten. Freidenkerische Arbeit wurde sogar als Hochverrat verfolgt! Tausende Funktionäre und Mitglieder hatten unter Verfolgung und Einkerkerung zu leiden.


Höhen und Tiefen der Bewegung

Zu den herausragenden Traditionen der proletarischen Freidenkerbewegung, die in hohem Maße auch ihrer kommunistischen Richtung zuzuordnen sind, zählt insbesondere das Eintreten für die Entwicklung und Verbesserung der Kultur des Alltagslebens weitester Teile der Arbeiterklasse. Das Angebotsspektrum reichte dabei von Fragen der Sozialhygiene und Wohnkultur über die Bestattungsfrage bis hin zur ästhetischen und wissenschaftlich anspruchsvollen Lebenskultur und bezog nicht zuletzt auch die Organisierung von Frauen, Jugendlichen und Kindern ein.

Impulse und Ergebnisse der selbstorganisierten proletarischen Freidenkerbewegung, die vor 100 Jahren in Eisenach ihren Ausgang nahm, und die wir nach 1945 in der DDR in anderer Form weitergeführt haben, sind heute kaum noch auf ihre Ursprünge zurückzufolgen. Es fehlen zu viele schriftliche Zeugnisse gerade aus der Anfangszeit.

Ich habe daher versucht, in besonderem Maße Höhen und Tiefen der Bewegung darzustellen. Denn die Lehren aus diesen sind gerade für unser Traditionsbild und noch mehr für unsere weitere verbandspolitische Arbeit unverzichtbar.

Von 1933 bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland keine organisierte Freidenkerbewegung mehr. Der Deutsche Freidenker-Verband konnte sich im Westen Deutschlands erst am 17. März 1953 als Gesamtverband für die Bundesrepublik neu konstituieren. Er erreichte nie wieder die Bedeutung des Verbandes, die er in den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts hatte. In der DDR wurde von der politischen Führung der regierenden Arbeiterpartei, der SED, ein Freidenkerverband nicht mehr als notwendig erachtet. Denn wesentliche Forderungen der Freidenkerbewegung waren ja Staatsdoktrin geworden. Erst in der Endzeit der DDR, im Januar 1989, gab es - angesichts sich abzeichnender gravierender gesellschaftlicher Konflikte - mit dem "Verband der Freidenker der DDR" (VdF) eine Verbandsneugründung. Dieser und der westdeutsche Verband schlossen sich am 1. Juni 1991 zum gemeinsamen "Deutschen Freidenker-Verband" (DFV) zusammen.


Waltraud Roth ist Mitglied des Landesverbandes Thüringen des DFV


Anmerkungen:

(1) "Der Freidenker." Correspondenzblatt und Organ des Deutschen Freidenker-Bundes. 4.Jg., 1. Nov.1985. Nr.9. S.69.

(2) Dieter Fricke: Handbuch zur Geschichte der Arbeiterbewegung 1869-1927. Bd. 2. Berlin 1987, S. 1032.

(3) Bernhard Menke: "Zur Kirchenaustrittsbewegung." Die Neue Zeit. 32. Jg. 1913/14.

(4) Denkschrift von Pfarrer Stäglich, Berlin-Schöneberg: Die deutsche evangelische Kirche und das Freidenkertum. o.J.

(5) Der Atheist. 18. Jg. 1922. Nr.7.

(6) Walter u. Anna Lindemann: Die proletarische Freidenker-Bewegung. Geschichte - Theorie - Praxis. Gotha 1926, S.5.

(7) a.a.O., S. 38.

(8) ebd.


*


Quelle:
Freidenker - Nr. 4-08 Dezember 2008, Seite 23-29, 67. Jahrgang
Herausgeber:
Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.
Schillstraße 7, 63067 Offenbach
E-Mail: vorstand@freidenker.de
Internet: www.freidenker.de

Erscheinungsweise: vierteljährlich
Bezugspreis jährlich Euro 10,- plus Versand.
Einzelheft Euro 2,50 plus Versand.
(Für die Mitglieder des DFV ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.)


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2010