Schattenblick →INFOPOOL →WELTANSCHAUUNG → HUMANISTISCHER V.D.

AKZENTE/001: Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus? (ha)


humanismus aktuell Heft 23 - Frühjahr 2009
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Vom neuen Atheismus zum neuen Humanismus?

Von Michael Schmidt-Salomon


Atheisten gesucht

Der so genannte "neue Atheismus" ist seit etwa einem Jahr in aller Munde. Magazine wie Spiegel und Stern widmeten dem Thema Titelgeschichten und auch in Rundfunk und Fernsehen wurde zu besten Sendezeiten über den vermeintlichen "Kreuzzug der neuen Atheisten" debattiert. Ausgelöst wurde diese beachtliche Medienresonanz für das zuvor für die meisten Journalisten doch recht "unsexy" erscheinende Thema "Atheismus" vor allem durch die Buchveröffentlichungen der angelsächsischen Religionskritiker Richard Dawkins, Sam Harris, Daniel Dennett und Christopher Hitchens.

Atheist zu sein, das war im letzten Jahr eine Art "höhere Weihe". Ich weiß nicht, wie viele verzweifelte Redakteure mich anriefen und sagten: "Herr Schmidt-Salomon, wir brauchen ganz dringend einen Atheisten! Bitte sagen Sie jetzt nicht, Sie seien keiner!" Es machte gar keinen Sinn, diesen Leuten zu erklären, dass ich eigentlich Naturalist und Humanist bin. Das wollte niemand hören.

Man kann es den Medienleuten nicht einmal verdenken. Denn natürlich ist "Atheismus" ein weitaus griffigerer und verkaufsträchtigerer Begriff als etwa "Naturalismus" oder "Humanismus". Wer, bitteschön, weiß denn schon, was "Naturalismus" bedeutet? Der eine Teil der Bevölkerung wird mit dem Begriff überhaupt nichts anfangen können und der andere wird vermuten, dass Naturalisten doch "diese Spinner" seien, die so versessen darauf sind, splitterfasernackt im Supermarkt einzukaufen ...

Der Begriff "Atheismus" hat neben seiner größeren Bekanntheit natürlich auch den Vorteil, dass er für den westdeutschen Normalbürger eine "subversive Aura" besitzt, was sich medial gut ausschlachten lässt. Man spürt geradezu den Schwefelgeruch, den das Wort "Atheismus" umgibt. Atheisten, das sind für viele Zeitgenossen noch immer ziemlich fremdartige, tendenziell gefährliche Wesen - das Überbleibsel einer erfolgreichen religiösen Begriffspolitik über viele Jahrhunderte hinweg.

Allerdings: Heute lässt sich mit solchen als geheimnisvoll und subversiv gehandelten Wesen im Mediengeschäft ganz gut Quote machen. Deshalb lag es für Medienleute im letzten Jahr angesichts des Erfolgs des Buches Gotteswahn auf der Hand, ein paar ausgesuchte Atheisten durch die Manegen der Rundfunk- und Fernsehstationen zu treiben. Wie die großen Raubkatzen im Zirkus, so riefen auch sie mitunter ein schauriges Raunen im Publikum hervor. Aber dieses Phänomen legte sich recht bald. Der Sensationswert des Atheismus verglühte im Scheinwerferlicht und man stellte fest, dass "diese Atheisten" letztlich auch nur stinknormale Leute sind, kaum geheimnisvoller als Mutti Krause von nebenan.

Daher ist der Medienhype um den neuen Atheismus nun merklich abgeflaut. Mit Frank Zappa könnte man sagen: "Der neue Atheismus ist vielleicht nicht tot, aber er riecht schon irgendwie komisch!" Als Resteverwerter dieses etwas abgenagten Modethemas tun sich momentan nicht nur humanistische Akademien hervor, sondern auch evangelische wie katholische Kirchengemeinden. Ich weiß aus eigener Erfahrung: Ein geschäftstüchtiger Atheist könnte, wenn er denn wollte, momentan als Referent und Podiumsgast recht gut damit verdienen, von einer Kirchengemeinde zur anderen zu tingeln. In Kirchenkreisen hat sich nämlich herumgesprochen, dass man am Besten einen leibhaftigen Atheisten engagiert, um doch noch ein paar Leute in die Kirche zu locken.

Ich möchte nicht zu sarkastisch klingen. Natürlich ist es zunächst einmal ein schöner Erfolg, dass die säkularen Organisationen durch die Debatte um den neuen Atheismus bekannter geworden sind, dass unsere Argumente heute von mehr Menschen gehört werden und unsere Aktionen ein breiteres gesellschaftliches Echo ernten. Auf diesen Lorbeeren ausruhen dürfen wir uns jedoch nicht. Zwar wird die Frage nach Gott auch weiterhin Menschen bewegen (selbst wenn Titelgeschichten im Spiegel ausbleiben), aber es sollte klar sein, dass es für eine säkulare Position längst nicht mehr ausreichen kann, sich allein auf Religionskritik zu versteifen. Letztlich geht es doch auch bei all den Debatten, die wir führen, gar nicht wirklich um diese Projektionsfigur "Gott", sondern stets um den realen Menschen, der unter bestimmten Umständen solche Projektionen nötig zu haben scheint. Auch dies ist ein Grund dafür, warum wir vom "neuen Atheismus" zum "neuen Humanismus" voranschreitenten sollten.

Dort hinführend wird im Folgenden zunächst skizziert, was sich hinter dem Modebegriff des "neuen Atheismus" verbirgt und warum wir den neuen Atheisten in der Tat eine ganz beachtliche Leistung im Sinne der Aufklärung verdanken. Im zweiten Teil wird erklärt, warum wir uns trotz alledem langsam vom Begriff des "neuen Atheismus" verabschieden und an seine Stelle den "neuen Humanismus" setzen sollten.


Neuer Atheismus - was ist das?

Beginnen wir mit einer Annäherung an den Begriff "neuer Atheismus": Was meint dieses Modewort? Das ist im ersten Moment gar nicht so leicht zu fassen. Immerhin können wir konstatieren, dass es sich hierbei um einen erstaunlich jungen Begriff handelt. Es war wohl Gary Wolf, der Ende 2006 die Initialzündung für die Erfolgsgeschichte des Begriffs gab. In seinem Artikel The Church of the Non-Believers, erschienen in der November-Ausgabe 2006 des Wired-Magazine, brachte er das religionskritische Anliegen von Dawkins, Harris und Dennett folgendermaßen auf den Punkt:

"Dies ist die Herausforderung der Neuen Atheisten: Wir sind dazu aufgerufen, wir lockeren Agnostiker, wir hingebungslosen Ungläubigen, wir unbestimmten Deisten, denen es peinlich wäre, antike Absurditäten wie die Jungfrauengeburt zu verteidigen ..., man fordert uns Unentschlossene auf, diesen lähmenden Fluch zu exorzieren: Den Fluch des Glaubens. Die neuen Atheisten werden uns nicht schon allein deshalb vom Haken lassen, weil wir keine dogmatischen Gläubigen sind. Sie verurteilen nicht nur den Gottesglauben, sondern auch den Respekt für den Gottesglauben. Religion ist nicht nur falsch, sondern ein Übel. Nun, da dieser Kampf aufgenommen wurde, gibt es keine Entschuldigung mehr, sich vor einer Auseinandersetzung zu drücken."

Meines Erachtens trifft Wolfs Umschreibung sehr gut ein wesentliches Charakteristikum des neuen Atheismus. In der Tat besteht der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Atheismus darin, dass der letztere eben nicht nur den Gottesglauben an sich ablehnt, sondern auch den Respekt vor dem Gottesglauben attackiert.

Wenn hier erstens von Gottesglauben gesprochen wird, dann bezieht sich das ausschließlich auf den Glauben an den personalen Gott. Der unpersönliche Gott der Mystiker, der Gott Meister Eckarts, Brunos, Spinozas oder auch der rein metaphorische Gott Albert Einsteins ist niemals Gegenstand der Angriffe der neuen Atheisten gewesen. Dawkins etwa bezeichnet sich selbst als "im Einsteinschen Sinne religiös". Sam Harns widmet viele Seiten seines Buchs dem Ausloten der Möglichkeiten einer atheistischen Spiritualität. Und auch die Giordano Bruno Stiftung, die u.a. vom Spiegel zur Zentrale der neuen Atheisten in Deutschland erklärt wurde, ist - nicht ohne Hintersinn - nach einem Pantheisten benannt.

Zweitens attackieren die neuen Atheisten in erster Linie Religionsauffassungen, die sich selbst noch Ernst nehmen, nicht jene Formen von "Religion light", die man hierzulande noch vorwiegend antrifft. Wären alle Religionsgemeinschaften weltweit auf dem Stand der EKD, bräuchte man wohl keinen neuen Atheismus. Allerdings ist ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall - und auch hier in Deutschland mehren sich die Zeichen für einen religiösen Umbruch. Die "Religion light" scheint ein Auslaufmodell zu sein, während die fundamentalistischen Strömungen immer stärker zulegen. Je früher wir dies begreifen und angemessen darauf reagieren, umso besser.

Doch kommen wir zurück auf die Unterscheidung von altem und neuem Atheismus: Da es bekanntlich auch schon in der Vergangenheit Religionskritiker gab, die scharf formulierten und den etablierten Religionen in keiner Weise Respekt entgegenbrachten (Beispiel: Nietzsche), ist die Begriffsbelegung "alt / neu" historisch nicht unproblematisch. Wenn vom alten Atheismus gesprochen wird, so kann damit eigentlich nur der in Wahrheitsfragen eher defensive, aus taktischen Gründen zurückhaltend agierende Atheismus der letzten Jahrzehnte gemeint sein. Der Unterschied zwischen altem und neuem Atheismus wäre demnach der Unterschied zwischen einem eher nüchtern-abgeklärten Atheismus und einem eher kämpferisch-aufgeklärten. In Anlehnung an eine berühmte Redewendung von August Graf von Platen möchte ich den Unterschied zwischen dem alten und dem neuem Atheismus folgendermaßen fassen:

"Der alte wägt und misst es, der neue spricht: So ist es!"



Toleranz oder Respekt?

Die Besonderheit des neuen Atheismus besteht in der Tat darin, dass er Klartext spricht - auch da, wo es so manchem nicht angebracht erscheint. Taktisches Lavieren ist jedenfalls nicht Sache des neuen Atheismus. Er ist kompromisslos aufklärerisch bis an die Schmerzgrenze. Für ihn gilt in besonderer Weise das Wort Karlheinz Deschners: "Aufklärung ist Ärgernis: Wer die Welt erhellt, macht ihren Dreck deutlicher."

Aufklärung ist vor allem deshalb ein Ärgernis, weil sie Gefühle verletzt. Wer unsinnig erscheinende Positionen vertritt, der hat natürlich kein großes Interesse daran, dass dies allzu offensichtlich wird. Und womit verteidigt man sich in diesem Fall am Besten? Nun, mit dem Argument, dass doch jede Position, so merkwürdig sie bei genauerer Betrachtung auch erscheinen mag, irgendwie "Respekt" verdient. Doch gerade gegen dieses "Dogma des Respekts" stellt der neue Atheismus seine Geschütze auf. Dies ist der eigentliche Tabubruch, und er ist es wert, dass wir uns mit ihm etwas eingehender beschäftigen.

Das Wort Respekt (von lateinisch "respectus": Zurückschauen, Rücksicht) bezeichnet eine Form der Achtung und Ehrerbietung gegenüber einer anderen Person, ihren Handlungen oder Überzeugungen. Da die neuen Atheisten Humanisten sind, die für die Universalität der Menschenrechte streiten, haben sie natürlich keinerlei Schwierigkeiten, auch sehr religiöse Menschen als Menschen zu respektieren.

Ihrer Meinung nach haben aber viele menschliche Handlungen und Überzeugungen keinen Respekt verdient. Dies gilt insbesondere für religiöse oder ideologische Weltanschauungen, die sich per Gewalt oder per hermeneutischer Sprachspiele einer kritischen Überprüfung entziehen. Wer solchen Ideensystemen mit Respekt, d.h. mit Rücksichtnahme oder gar Ehrerbietung begegnet, der verrät die Ideale der Aufklärung. Hierauf hat schon Immanuel Kant hingewiesen.

Ist aber fehlender Respekt gegenüber bestimmten Glaubensüberzeugungen oder -handlungen gleichbedeutend mit fehlender Toleranz ihnen gegenüber? Genau dies wird den neuen Atheisten häufig vorgeworfen, auch von manchen Konfessionslosen, was sich hierzulande nicht zuletzt in der Kontroverse um das "kleine Ferkel" zeigte.

Das wirft die Frage auf: Sind die alten Atheisten wirklich toleranter als die neuen Atheisten? Die Antwort darauf lautet aus meiner Sicht eindeutig: Nein! Die alten Atheisten sind nicht toleranter als die neuen, sie sind nur ein wenig ignoranter! Um diese bewusst pointierte Behauptung zu belegen, ist es nötig, die Begriffe zu klären, die im Toleranz-Diskurs leider allzu häufig durcheinander geraten:

Fangen wir an mit dem Begriff Toleranz: Toleranz ist eine Last. Das sagt schon die etymologische Herkunft des Wortes über das lateinische "tolerare", das von "tolus" ("Last") abgeleitet ist und das man mit "ertragen", "durchstehen", "aushalten" oder "erdulden" übersetzen kann.

Toleranz meint die Fähigkeit, störende bzw. verstörende Formen des Andersseins oder Andershandelns erdulden zu können. Wer tolerant ist, der nimmt es hin, dass andere Menschen in unangenehmer Weise anders denken, handeln, empfinden. Zweifellos ist das politische Toleranzgebot, das nicht zuletzt aus den bitteren Erfahrungen der zahllosen Glaubenskriege geboren wurde, eine der hervorragendsten Errungenschaften der Moderne, die es zu verteidigen gilt, was jedoch keineswegs bedeutet, dass man einer grenzenlosen Toleranz (übrigens ein Widerspruch in sich!) das Wort redet.

Leider wird der Begriff der Toleranz sehr häufig verwechselt mit dem der Akzeptanz, obwohl beide Begriffe bei genauerer Betrachtung etwas sehr Unterschiedliches meinen. Akzeptanz leitet sich vom lateinischen "accipere" ab, das "annehmen", "übernehmen", "gutheißen" bedeutet. Was man akzeptiert, das duldet oder toleriert man nicht nur, man ist mit ihm einverstanden - was allerdings nicht unbedingt heißen muss, dass man das, was man akzeptiert, für sich selbst in seinem eigenen Leben anwenden möchte.

Tolerieren muss ich nur, was ich nicht akzeptiere, was ich nicht respektiere, was mir vielleicht sogar im höchsten Maße lächerlich vorkommt. Anders gewendet: Wer alles respektiert, alles akzeptiert, der kann gar nicht tolerant sein, da er gar keine Lasten zu ertragen, zu erdulden hätte.

Doch wie könnte ein Mensch, der bestimmte Überzeugungen hat (beispielsweise humanistische), in die Lage versetzt werden, auch völlig gegenteilige Überzeugungen (beispielsweise rassistische) in einer Weise gutzuheißen, zu respektieren, dass er die Lasten nicht spürt, die dadurch entstehen? Nun, er muss bloß das tun, was Mitläufer aller Epochen stets getan haben, was vor allem in der Zeit der Judendeportationen in Deutschland zum Volkssport wurde: Man muss einfach kontinuierlich ausblenden, was stören könnte. Das Allheilmittel, das in dieser Hinsicht seit Menschengedenken großartige Dienste leistet, ist die Ignoranz.

Der Begriff Ignoranz geht auf das lateinische Substantiv ignorantia ("Unwissenheit", "Dummheit") zurück und bezeichnet gemeinhin die Unfähigkeit oder den Unwillen, prinzipiell bedeutsame Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen. Manch einer, der tolerant erscheint, ist in Wirklichkeit nur ignorant, bemerkt also gar nicht die Lasten, die er zu erdulden hätte oder gegen die er sich möglicherweise wehren müsste. Wer sich heute beispielsweise nicht darum kümmert, was innerhalb islamistischer Gruppierungen Frauen und Kindern angetan wird, der neigt weit eher dazu, sich in repressiver Weise tolerant zu äußern ("Leben und Lebenlassen: Lasst die Leute doch machen, was sie wollen!"), als diejenigen, die einen guten Einblick in die Szene haben.

Damit zurück zum neuen Atheismus: Die Kritik des neuen Atheismus zielte niemals auf das imaginäre Wesen "Gott", sondern auf das sehr reale Phänomen der menschlichen Ignoranz, konkret: auf den weit verbreiteten Unwillen bzw. die Unfähigkeit, die realen Inhalte der religiösen Glaubenssysteme und die daraus resultierenden Folgen zur Kenntnis zu nehmen.

Der neue Atheismus erscheint deshalb als so ungeheuer respektlos, weil er konsequent aufklärt, d.h. den Nebel vertreibt um jene intellektuellen Absonderlichkeiten und ethischen Unzulänglichkeiten der Religionen, die ein halbwegs aufgeklärt denkender Mensch schlichtweg verdrängen muss, wenn er den religiösen Glaubenssystemen noch irgendwie respektvoll gegenübertreten will. Ein durchschnittlich aufgeklärter deutscher Katholik will deshalb auch nicht wissen, dass der Vatikan noch in der Gegenwart Tausende von Exorzisten ausbildet, er will auch nicht wissen, was beim Abendmahl nach katholischer Doktrin wirklich verspeist wird. Das würde ihm nämlich arg auf den Magen schlagen und den letzten Funken Respekt, den er seiner eigenen Religion vielleicht noch entgegenbringt, zum Erlöschen bringen. Also heißt die Devise: Augen zu und durch! Gewisse Dinge ignoriert man lieber. Dass der neue Atheismus derartige "Geheimnisse des Glaubens" lüftet, macht den eigentlichen Skandal aus.

Halten wir fest: Dass neue Atheisten zwar religiöse Menschen, nicht aber religiöse Überzeugungen respektieren, bedeutet nicht, dass sie solche Überzeugungen nicht erdulden, nicht tolerieren würden. Vielmehr ist das Recht auf Weltanschauungsfreiheit für neue Atheisten ein so hohes Gut, dass sie aktiv für die Rechte der Religionen streiten würden, wenn diese vom Staat unrechtmäßig eingeschränkt würden. Wir sehen: Echte Toleranz setzt keinesfalls Respekt voraus, im Gegenteil! Das Dogma des Respekts verhindert vielmehr echte Toleranz. Denn es gründet nicht auf aufgeklärtem Sachverständnis, sondern auf purer Ignoranz.

Dass der neue Atheismus durch seinen Angriff auf die Ignoranz die Diskrepanz von Toleranz und Akzeptanz offen gelegt hat, gehört zu seinen wichtigsten aufklärerischen Leistungen. Warum? Weil die produktive Streitkultur der Aufklärung gerade von dieser Differenz von Akzeptanz und Toleranz lebt, also vom freundlich-feindlichen Widerstreit der Positionen, dem Aushalten von Widersprüchen, aus denen gesellschaftlicher Fortschritt überhaupt erst erwächst.

Das Dogma des Respekts hingegen läuft auf kulturelle Gleichschaltung und gesellschaftliche Stagnation hinaus. Religiöse Dogmatiker mögen sich eine solche Kultur der Denkverbote vielleicht erträumen, aufgeklärte Humanisten sollten derartigen Entwicklungen jedoch in aller Entschiedenheit entgegen treten. Ignorantes Mitläufertum, das aus Opportunitätsgründen es allen irgendwie Recht machen will, hat der Aufklärung jedenfalls mehr geschadet als genutzt.

Hierzu noch eine kurze Randbemerkung: Wir sollten in diesem Zusammenhang keinesfalls übersehen, dass einige säkulare Organisationen aufgrund ihrer stärkeren gesellschaftlichen Einbindung größere Rücksicht auf die "herrschende Meinung" nehmen müssen und insofern auch größere Schwierigkeiten mit der aufklärerischen Respektlosigkeit des neuen Atheismus haben. Der Humanistische Verband (HVD) etwa kann das "Dogma des Respekts" nicht in gleicher Weise unterlaufen wie es die Giordano Bruno Stiftung (gbs) kann, die von staatlichen Zuschüssen völlig unabhängig ist. In solchen Unterschieden sollten wir allerdings keine kontraproduktiven Gegensätze sehen, sondern vielmehr eine notwendige Rollenverteilung in unserem gemeinsamen Engagement für eine humane, aufgeklärte Gesellschaft. Ich denke, es wäre vorteilhaft, wenn uns diese Rollenverteilung stärker bewusst wäre, denn es würde helfen, unnötige Konfrontationen zu vermeiden.


Abschied vom neuen Atheismus

Nachdem ich im ersten Teil meiner Ausführungen doch recht offensiv Werbung für den neuen Atheismus gemacht habe, mag es vielleicht seltsam erscheinen, dass ich im nächsten Schritt sogleich den Abgesang auf ihn anstimme. Allerdings bin ich in dieser Hinsicht sehr unsentimental, denn der Begriff "neuer Atheismus" war von Anfang an ein ziemlicher Etikettenschwindel. In Wahrheit handelte es sich dabei nämlich nicht bloß um einen unspezifischen, wenn auch streitbaren Atheismus.

Der "neue Atheismus" war bzw. ist vielmehr die sichtbare Vorhut eines viel grundlegenderen Veränderungsprozesses. Wenn man so will, ist der neue Atheismus nur die religionskritische Spitze eines weltanschaulichen Eisberges. Und das, was sich unterhalb der medialen Oberfläche des "neuen Atheismus" befindet, ist weitaus interessanter als das, was bislang sichtbar wurde. Unter der Oberfläche zeigen sich nämlich die Konturen einer neuen Weltanschauung, die über bloße Religionskritik weit hinausgeht. Ich möchte diese Weltanschauung als "naturalistischen Humanismus" bzw. in Analogie zum "neuen Atheismus" als "neuen Humanismus" bezeichnen.

Ich gehe zwar davon aus, dass weitgehend bekannt ist, was die Begriffe "Humanismus" und "Naturalismus" bedeuten. Dennoch möchte ich, um der Gefahr zu entgehen, dass vielleicht doch jemand Naturalismus mit Naturismus verwechselt und somit die Metapher des "nackten Affen" allzu wörtlich nimmt, jeweils eine kurze Arbeitsdefinition geben:

Mit dem Begriff "Humanismus" belegen wir gemeinhin all jene Ideensysteme, die erstens vom Menschen als aktivem Gestalter seiner Welt ausgehen und die zweitens eine konsequente Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen - etwa im Sinne der Erklärung der universellen Menschenrechte - anstreben.

Der Begriff "Naturalismus" kennzeichnet demgegenüber eine wissenschaftlich-philosophische Grundhaltung, die unterstellt, dass es im Universum mit "rechten Dingen" zugeht, d.h., dass weder Götter noch Dämonen noch Gespenster noch Kobolde in die Naturgesetze eingreifen, ja dass alles, was ist, ausschließlich auf natürlicher Basis existiert. Das bedeutet u.a., dass auch die so genannten "höheren kognitiven Fähigkeiten" des Menschen notwendigerweise Naturkausalitäten unterworfen sind, sich also nicht über diese erheben können.

Die sog. neuen Atheisten waren und sind Naturalisten. (Dies, nebenbei, war auch der Grund, warum Dawkins & Co. so häufig fälschlicherweise mit den "Brights", der internationalen Naturalistenbewegung gleichgesetzt wurden. Andreas Müller wird in seinem Referat sicherlich auf diese, nicht un problematische Verwechslung, eingehen.) In welchem Verhältnis stehen aber nun Naturalismus und Atheismus zueinander?

In gewisser Weise kann man den Naturalismus als Erweiterung, aber auch als Einschränkung des Atheismus begreifen: Eine Erweiterung ist er insofern, als er nicht bloß die Existenz von Göttern abstreitet, sondern sämtliche übernatürlichen Kräfte ausschließt. (Ein Atheist könnte prinzipiell noch an Horoskope glauben, ein Naturalist nicht!) Eine Einschränkung des Atheismus bedeutet der Naturalismus insofern, als er prinzipiell Gottesvorstellungen erlaubt, (wie der metaphorische "Gott" Einsteins) nicht im Widerspruch zu den Naturkausalitäten stehen. Dies zeigt, wie problematisch es ist, Atheismus und Naturalismus so einfach, wie es oft getan wurde, gleichzusetzen.

Die Grafik zeigt zwei Mengen: die Naturalismus-Menge und die Humanismus-Menge, die sich in der Mitte überschneiden. In dieser Schnittmenge finden wir den neuen, naturalistischen Humanismus, um den es mir geht. Auf der linken Seite, außerhalb der Schnittmenge, sehen wir die Menge des antihumanistischen Naturalismus, die all jene naturalistischen Ideensysteme umfasst, die mit humanistischen Grundüberzeugungen nicht in Einklang zu bringen sind.

Ein Beispiel hierfür wäre der "Sozialdarwinismus", der aus den oftmals grausamen Überlebensstrategien, die sich im Verlauf der biologischen Evolution herausgebildet haben, antihumanistische Sollenssätze ableitet. Auf der rechten Seite entdecken wir den antinaturalistischen Humanismus, also die Menge der humanistischen Konzeptionen, die im Widerspruch zum Naturalismus stehen. Hierzu gehören neben den religiösen Humanismen auch jene säkularen Humanismus-Konzeptionen, die von einer gewissermaßen "gottgleich" über den körperlichen Prozessen schwebenden Vernunft des Menschen ausgehen.

Klar ist, dass die naturalistische Entzauberungswelle nicht nur die traditionellen Gottesvorstellungen, sondern auch die traditionellen Menschenbilder ins Wanken gebracht hat. Die Folgen dieser Entzauberung sind gravierend - nicht zuletzt auch für die die ethische Debatte: Denn wenn der naturalistisch entzauberte Mensch, wie alle anderen Lebewesen auch, zwingend Naturgesetzen unterworfen ist, wenn er sich nicht mehr auf eine angeblich "frei schwebende, autonome Vernunft" berufen kann, welchen Sinn machen dann noch Begriffe wie "Freiheit" und "Würde", "gut" und "böse"? Wie verhalten sich Naturalismus und Ethik zueinander? Wie lässt sich das naturalistische Projekt der "Hominisierung" des Menschen mit der ethischen Forderung nach seiner "Humanisierung" in Einklang bringen? Kurzum: Wie könnte eine Ethik für nackte Affen aussehen? Auf diese Fragen müsste der "neue Humanismus" befriedigende Antworten geben.


Charakteristika des neuen Humanismus

Abschließend sollen in gebotener Kürze einige Charakteristika des neuen Humanismus darstellen, die mir als bemerkenswert erscheinen:

Der neue Humanismus dürfte erstens für viele Menschen eine noch größere Provokation darstellen als der neue Atheismus. Denn er greift nicht nur ihr Gottesbild an, sondern darüber hinaus ihr Selbstbild. Zudem ist die Anzahl derjenigen, die sich vom neuen Humanismus beleidigt fühlen könnten, ein gutes Stück größer als die Anzahl derer, die sich über die Respektlosigkeit des neuen Atheismus beklagten. Schließlich geraten hier nicht nur Gläubige ins Visier der Kritik, sondern auch all jene säkular denkenden Menschen, die es als unschicklich ansehen, den Menschen im Tierreich zu verorten.

Wie dem neuen Atheismus - zweitens - geht es auch dem neuen Humanismus um eine Aufhebung von Ignoranz. In seinem Fall gilt die Kritik dem Unwillen oder der Unfähigkeit vieler Menschen, die relevanten Ergebnisse der modernen Wissenschaften (insbesondere die Ergebnisse der Kosmologie, der Evolutionsbiologie und der Hirnforschung) zur Kenntnis zu nehmen und in ihr Selbst- und Weltbild zu integrieren.

Anders als der neue Atheismus versteht sich drittens der neue Humanismus nicht bloß als Opposition, sondern ganz bewusst als säkulare Alternative zur Religion. Er scheut sich deshalb nicht davor, sich selbst als "Weltanschauung" zu begreifen, allerdings geht er dabei nicht von unerschütterlichen Dogmen aus, sondern von Hypothesen, die jederzeit überprüft und verändert werden können. Im Unterschied zu Religionen und politisch-religiösen Ideologien gibt es für den neuen Humanismus keine heiligen Schriften und auch keine unfehlbaren Propheten, Priester oder Philosophen. Das kritisch-rationale Fundament, auf dem er gründet, macht den neuen Humanismus zu der wohl ersten Weltanschauung, die den Anspruch hat, sich selbst aufzuheben, wenn ihre grundlegenden Prämissen sich als falsch erweisen sollten.

Gewiss: Wenn der neue Humanismus eine echte Alternative zur Religion sein soll, so darf er nicht bloß Theorie bleiben, er muss praktisch werden. Das bedeutet u.a., dass soziale Institutionen geschaffen werden müssen, die vom Geist des neuen Humanismus getragen sind (etwa Kindertagesstätten, in denen Kinder nach den neuesten Erkenntnissen der Lernforschung gefördert werden und in denen sie die grundlegenden Werte eines humanen Zusammenlebens spielerisch erfahren).

Letztlich geht es jedoch um mehr, nämlich um eine evolutionäre Weiterentwicklung der Gesellschaft als Ganzes, ja des gesamten globalen Dorfes. So brauchen wir dringend eine neue, humanistische Ökonomie, in der die Spielregeln des Wirtschaftens so definiert sind, dass es nicht mehr so schnell zu den gegenwärtig besonders offensichtlichen Automatismen sozialer Ungerechtigkeit kommt.

Wir brauchen, um ein weiteres Feld anzudeuten, auch einen neuen, humanistischen Strafvollzug, der nicht mehr auf dem archaischen, antinaturalistischen Konzept von Schuld und Sühne aufbaut, sondern der die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verbrechen durch einen humaneren und zugleich realistischeren Umgang mit Straftätern reduziert. Wir brauchen nicht zuletzt auch eine neue humanistische Bildung, in der Wissen nicht mehr nach dem Bulimie-Konzept (erst Wissen anfressen, dann zum Zeitpunkt der Prüfung wieder auskotzen) erworben und gleich wieder verloren wird, sondern in der Wissen nachhaltig in den Köpfen erhalten bleibt, weil es für die Lernenden von existentieller Bedeutung ist.

All dies sind aus humanistischer Sicht notwendige evolutionäre Veränderungen, die, wenn sie denn überhaupt je eintreffen, sicherlich noch Generationen brauchen werden. Doch sollte man sich hiervon nicht entmutigen lassen. Immerhin können wir - und das sollte doch ein wenig Hoffnung provozieren - auf eine lange humanistisch-aufklärerische Tradition zurückblicken, die gerade in den letzten Jahrhunderten für einen erstaunlichen Fortschritt in unserer kulturellen Evolution gesorgt hat.

Wenn man sich mit dieser Tradition etwas eingehender beschäftigt, dann stellt man fest, dass auch der neue Humanismus so "neu" eigentlich gar nicht ist. Schon Epikur und Demokrit lieferten erste Ansätze für diesen neuen Humanismus und La Mettrie gab ihm bereits vor 250 Jahren eine erstaunlich modern erscheinende Form. Damals, zu La Mettries Zeiten, waren die Bedingungen für den neuen Humanismus weit ungünstiger, als sie es heute sind. Ich meine, wir sollten die günstigen Gelegenheiten, die sich uns heute bieten, dringend nutzen, um den neuen, naturalistischen Humanismus theoretisch weiterzuentwickeln und ihn praktisch mit Leben zu füllen.

Hier bieten sich meines Ermessens auch fruchtbare Koalitionen für die Zukunft an: Wenn die humanistischen und naturalistischen Bewegungen, die sich zur Zeit formieren, künftig stärker zusammenarbeiten und eine neue Synthese wagen, so könnte dies ein starker Motor sein für die kulturelle Evolution jener zufällig entstandenen Affenart, der wir allesamt, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, angehören.

Wissenschaftlichen Schätzungen zufolge entstand unsere Spezies, Homo sapiens, vor etwa 150.000 Jahren. Davon haben wir rund 140.000 Jahre als Jäger und Sammler gelebt. Die Höhlen haben wir, so gesehen, erst vor Kurzem verlassen. Angesichts dessen, finde ich, ist diese Akademietagung eigentlich schon eine ganz beachtliche Leistung, auf der wir aufbauen können - auch wenn künftige Generationen vermutlich über unsere stümperhaften Versuche, uns in der Welt zurechtzufinden, schallend lachen werden ...


Vortrag, gehalten auf der Tagung "Neuer Atheismus" und moderner Humanismus in Berlin am 25. April 2008


*


Quelle:
humanismus aktuell, Heft 23 - Frühjahr 2009, Seite 27 - 34
Hefte für Kultur und Weltanschauung
Herausgegeben von der Humanistischen Akademie Berlin
diese Ausgabe in Kooperation mit der Humanistischen Akademie
Deutschland
Redaktion: Wallstr. 65, D-10179 Berlin
Tel.: 030/613904-34 / Fax: 030/613904-50
E-Mail: info@humanistische-akademie.de
www.humanismus-aktuell.de
www.humanistische-akademie-deutschland.de

"humanismus aktuell" erscheint in der Regel
zweimal im Jahr.
Einzelpreis: 10,00 Euro
Abo-Preis: 6,50 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2009