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BERICHT/200: Wenn das Altwerden zur Last wird (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 84/2008
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Wenn das Altwerden zur Last wird
Alterssuizid, Prävention, Ausmaß der Verzweiflung

Von Gita Neumann


Medienwirksam hat Ex-Senator Dr. Kusch den Suizid der 79-jährigen Bettina Sch. inszeniert. Ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde ein letztes Tabu - worüber die Betroffenen selbst allerdings längst intensiv nachdenken: Alterssuizid. Oder zumindest der dringende Wunsch, es so gern selbst in der Hand zu haben, wann Schluss sein soll. In Deutschland sind etwa 40 Prozent der jährlich rund 11.000 offiziellen Suizid-Toten im Rentenalter. Zur Zeit scheidet rein rechnerisch etwa alle zwei Stunden ein über 65-jähriger Mensch hierzulande freiwillig aus dem Leben. Tendenz steigend - das Risiko nimmt mit zunehmendem Alter deutlich zu (während die Zahl der jüngeren Suizidenten rückläufig ist).

Eindeutiges Hauptmotiv: Die Angst, es zu Hause nicht mehr allein zu schaffen, ins Pflegeheim zu müssen. Hintergründe: Verminderte Lebensqualität durch vielseitige Krankheitsbeschwerden (Lähmungen, Atemnot, chronische Schmerzen, Inkontinenz, Minderung oder Verlust von Seh- oder Hörfähigkeit), Verlusterfahrungen, empfundene Sinnlosigkeit. So kommt es zum Bedürfnis, endlich nur noch Ruhe und Frieden zu finden. Oder zum bilanzierten Empfinden, mit 80 sei das eigene Leben jetzt doch abgerundet und man möchte entspannt in den Tod gehen. Ein besonderes Problem: Die suizidale Verstimmung durch Altersdepression - hier kann allerdings der nötige Antrieb vetloren gegangen sein, den Sterbewunsch in die Wirklichkeit umzusetzen.

Experten schätzen die versuchten Selbsttötungen mindestens zehnmal - manche meinen sogar: fünfzigmal - höher ein als die Zahl der vollendeten. Opferzahlen von Gewalttaten oder Verkehrsunfallen - alles verschwindend klein im Vergleich zu dieser unvorstellbaren Größe. Und fast ebenso unvorstellbar: Das (bisherige) öffentliche Schweigen darüber. Hinzu kommen die unzähligen "verkappten" Fälle, die eigentlich gar kein richtiger Suizid sind: Ältere Menschen, die aufgehört haben, ihre Medikamente einzunehmen - oder zu essen oder zu trinken.


Schockierende Ahnungslosigkeit des Umfeldes

Es gibt ziemlich klare Unterscheidungskriterien zwischen dem Alterssuizid und dem Suizid anderer Gruppen. "Der unbedingte Wunsch zu sterben - das ist typisch für Selbsttötungen im Alter", sagt Dr. Peter Klostermann, Rechtsmediziner an der Berliner Charité. "Hochbetagte Menschen wollen nicht gefunden oder von der Putzfrau gerettet werden. Das unterscheidet sie von jüngeren Menschen, bei denen Suizidversuche oft Hilfeschreie sind, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen."

Klostermann weiß, wovon er spricht. Für seine Studie zum Alterssuizid (bereits 2004) untersuchte er 172 Fälle 65-95-Jähriger, die sich das Leben genommen hatten. Er las Abschiedsbriefe, sprach mit den Hinterbliebenen, sichtete Obduktions- und Polizeiprotokolle. Es zeigte sich: Diese Selbsttötungen waren keine affektive Kurzschlussreaktionen, vielmehr lange geplant. Dennoch hatten weder die Angehörigen noch die Hausärzte bis auf seltene Ausnahmen nicht die geringste Ahnung. Suizid durch "Medikamentencocktails" waren den "Gebildeten", vorrangig selbst aus Medizinberufen, vorbehalten, die man oft in guter Bekleidung in der aufgeräumten Wohnung vor sortierten Dokumenten fand.


"Harte" Suizidmethoden und Abschiedsbriefe

Die allermeisten der älteren Menschen wählen, wie Klostermann feststellte, allerdings so genannte harte Methoden: Erhängen, Ersticken, Stürzen, Erschießen; Mittel wie Chemikalien, Strom, Messer. Sie sehen sich oft gezwungen, gewaltsame Methoden zu wählen, bzw. grausame - wovon Protokolle eines Todeskampfes zeugen. Diese können zudem noch andere Menschen in Mitleidenschaft ziehen. (Ein Thema, worüber in Zeitungen und Medien nicht berichtet werden darf: Durchschnittlich drei bis vier Mal pro Tag werfen sich suizidwillige Menschen vor Züge - ein Teil der Bahnverspätungen rührt daher.)

Doch die vermeintlich "todsicheren" Wege, aus dem Leben zu scheiden, misslingen nicht selten und hinterlassen um so schwerere Schädigungen, insbesondere Querschnittslähmungen, Verstümmelungen, Organerkrankungen. Und das bei Menschen, die ohnehin darunter litten, keine Kraft zum Weiterleben mehr zu haben. Nun könnte man sagen: Würde man ihnen eine garantiert sichere, sanfte und schmerzfreie Option der begleiteten Suizidhilfe anbieten, würden davon ja noch mehr Gebrauch machen - so sind sie wenigstens abgeschreckt. Aber: Spricht nicht die empirische Realität der oben genannten Zahlen dagegen? Und: Ist das human? Lassen sich Suizide älterer Menschen überhaupt verhindern - etwa durch Zwangseinweisung in die Psychiatrie?


Suizidalen Entwicklungen vorbeugen - aber wie?

Das Problem ist so gravierend, dass es endlich auch zum Thema zahlreicher Fachkongresse und Debatten unter Psychologen, Psychiatern, Alrersforschern, Medizinern, Lebensberatern und Seelsorgern wird. 2002 initiierte die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) ein Nationales Suizidpräventionsprogramm. Deren Arbeitsgruppe "Alte Menschen" hat das Heft "Wenn das Altwerden zur Last wird - Suizidprävention im Alter" herausgegeben. Dieses wird auch vom HVD - das Heft ist kostenfrei - an Interessenten, Betroffene und professionell Tätige abgegeben - um bestehende Hürden bei der Bestellung per Internet oder dauerbesetztem Publikationsversand der Bundesregierung zu unterlaufen. Die Initiative zur Suizidprävention wird unterstützt vom Bundesgesundheitsministerium. Zahlreiche Verbände haben sich angeschlossen.

Der Humanistische Verband Deutschlands trägt mit seinen Angeboten zur Lebensberatung und -hilfe ebenfalls dazu bei. Im vorigen Jahr wurden in Berlin - neben den traditionsreichen Hilfen und Gruppen zur Trauer- und Verlustbewältigung - die ersten humanistischen Berater ausgebildet. Sie sind ehrenamtlich tätig. Ihre Aufgabe: Zuhören; Selbstreflexion des Gegenübers begleiten; bestehende Anpassungsbereitschaft auch an widrige Umstände fördern; Verständnis zeigen - gegenüber vermindertem Selbstwertgefühl, gedrückter Stimmung, Kränkung. Vielleicht nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein? Aber etwas muss getan werden, Patentrezepte gibt es nicht. Auch keine medikamentösen oder therapeutischen gegen die Altersdepression - wenngleich hier oft ein Abklingen erreicht werden kann.

Ein weiteres Problem: Alle Experten - wie z. B. vom Hamburger Therapiezentrum für Suizidgefährdete - sind sich einig: Die betroffenen alten Menschen suchen von selbst nie Beratungs- oder Therapiehilfe auf. Stattdessen wenden sie sich eher an Suizid- bzw. Sterbehilfegesellschaften wie Dignitas, Dignitate oder jetzt an den Verein von Dr. Kusch. Bei denen meinen sie - nicht zu unrecht - sicher sein zu können, mit ihrem Anliegen zunächst einmal Verständnis zu finden. Das Paradoxe: Die absolute Akzeptanz und das - nicht verurteilende - Ernstnehmen des Sterbewunsches eint Suizidprophylaxe und Suizidhilfe. Der Unterschied ist empirisch betrachtet viel geringer, als manche glauben möchten. Unabdingbar ist es nämlich auch in der Suizidvermeidung, sich auf die als unerträglich empfundene Situation des Gesprächspartners einzulassen. Und unbestritten ist, dass allein die Aussicht auf einen letzten "Ausgang" zu einer spürbaren Entlastung führt. Oftmals wird dann diese mögliche Option nie in Anspruch genommen werden. Aber was, wenn doch einmal?


Der Verzweiflung gerecht werden

Der Humanistische Verband Deutschland (HVD) ist mit Sicherheit keine Sterbehilfe- oder Suizidvereinigung. Wer so etwas tatsachenwidrig in verleumderischer Weise behauptet, hat u. U. mit zivilerechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Der HVD ist als Weltanschauungsverband dem gelungenen Leben und der Sinnvermittlung verpflichtet. Er leistet auch Hilfe für Bedürftige, u. a. durch krankenkassenfinanzierte Hospizarbeit. Wobei er allerdings "die Beihilfe zum Freitod zumindest nicht kategorisch ablehnt" - wie der SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 7. Juli 2008 zutreffend schreibt. Zitiert wird die Referentin Lebenshilfe des HVD, die sich zu bekannten Suizidhelfern von (früher) H.-H. Atrott bis (jetzt) R. Kusch wie folgt äußert. Bei ihnen "vermischt sich immer missionarischer Eifer mit Geltungssucht". Zu einer gefährlichen Mischung führe zudem die "maßlose Dankbarkeit" der Sterbewilligen, die "schmeichle dann natürlich schon dem Ego" des Helfers. Der Präsident des HVD, Dr. Horst Groschopp, hat sich in einer Pressemitteilung zu dieser Debatte ausführlich erklärt. In einem Interview vom 4. Juli mit dem Pressedienst hpd geht es auch um das Buch "Wege zu einem humanen, selbst bestimmten Sterben" (Amsterdam, Juli 2008) der niederländischen Ärzte P. Admiraal, B. Chabot u.a. Es ist (unter www.wozz.nl/de) gegen 25.- Euro Vorauszahlung auf ein niederländisches Konto für jeden weltweit in deutscher Sprache erhältlich. Mit seinen über 140 Seiten, auch über palliative Begleitung und den Einbezug von Angehörigen, handelt es sich dabei keineswegs um ein schnelles "Rezept", wie sich jemand umbringen kann. Der HVD hat sich deshalb entschlossen, sich an der Verbreitung dieses Buches zu beteiligen. Er wird das Buch auf Wunsch bereithalten für seine Mitglieder und Förderer, die beim HVD den Prozess einer sorgfältig aufgesetzten Patientenverfügung durchlaufen haben, sowie für Ärztinnen und Ärzte.


Dr. Groschopp im hpd-Interview:
... alle, die darüber demokratisch entschieden haben, dass der HVD das Buch in den genannten Grenzen auf Wunsch hin verbreitet, das Präsidium und einige unserer Experten und Expertinnen, haben das Vorausexemplar gelesen und ihr Urteil war einhellig: "humanistisch und einfühlsam. ... Die Sprache ist einfach und verständlich, gerade in der Sachlichkeit bestechend. Gleich eingangs wird auf Übereinstimmungen mit dem deutschen Nationalen Ethikrat verwiesen.
... die Humanistische Union (HU) ihr anderes Herangehen als das des HVD noch einmal bekräftigt. Sie wollen über die Neufassung des Paragraphen 216 Strafgesetzbuch "Tötung auf Verlangen" gehen. Das wollen wir nicht. ... "Tötung auf Verlangen" soll verboten bleiben - da sind wir eisern.


"Menschheit hat noch keine Erfahrung mit neuer Situation"

Hintergrund für die beschlossenen Vergabekriterien ist zum einen, dass alle Optionen auf "passive und indirekte Sterbehilfe" durch eine Patientenverfügung einem aktiven Tun prinzipiell vorzuziehen sind - und zumindest den Betroffenen bekannt sein müssen.

Zum anderen, dass der HVD die Möglichkeit des ärztlich verantworteten, konttollierten und begleiteten Suizids befürwortet. Und zwar in Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen. Aber auch, weil damit vermeintlicher zukünftiger "Geschäftemacherei" und "wildem Alterssuizid" besser entgegengewirkt werden kann als mit hilflosen Verbotsversuchen.

Auch Dr. Klostermann plädiert für diesen "dritten Weg". Er unterstützt, wie der HVD und zahlreiche namhafte Persönlichkeiten (darunter mit Prof. Bettina Schöne-Seifert ein Mitglied des Nationalen Ethikrates), die informelle ärztliche Initiative der Internetseite www.sterbehilfe.de. Diese setzt sich für ein neues, vertrauensvolles Arzt-Patientenverhältnis ein und weist jeden (neuen) ethischen Paternalismus zurück.

Es wäre grundfalsch und zynisch, den Schluss zu ziehen: Der HVD verträte die Auffassung, es könne sich doch jeder selbst das Leben nehmen, wenn ihm danach ist. Es geht vielmehr darum, die bange Frage vieler Menschen ernst zu nehmen, die lautet: Was wird aus mir, wenn ich nicht mehr so kann, wie es meinem Anspruch ans Leben entspricht - wenn ich müde und am Ende bin? Mit Tabu und Vorenthaltung von verfügbaren Informationen werden wir dem Ausmaß der Verzweiflung nicht gerecht. Und auch nicht der vetständlichen Sorge, die bereits Menschen mittleren Alters befällt.


Gita Neumann ist Dipl. Psychologin, Sozialwissenschaftlerin und (Medizin-)Ethikerin, tätig als Referentin Lebenshilfe im HVD-Landesverband Berlin, Mitglied der Akademie "Ethik in der Medizin" (AEM, Göttingen)


Bestellmöglichkeiten: Das Buch "Wege zu einem humanen, selbst bestimmten Sterben" der niederländischen WOZZ-Stiftung (Kostenerstattung: 25 Euro) ist unter den o. g. Vergabekriterien für (Förder-) Mitglieder des HVD sowie für Ärzte beim HVD-Bund in Berlin zu bestellen. HVD-Bund, WallstraBe 61-65,10179 Berlin, Tel. 030 61 390434, hvd@humanismus.de.
(Im Internet unter: www.wozz.nl/de).
Das (kostenfreie) Heft "Wenn das Altwerden zur Last wird - Suizidprävention im Alter" wird an alle interessierten (Förder-) Mitglieder abgegeben.
(Im Internet unter: www.suizidpraevention-deutschland.de oder www. bmfsfj.de)
Bei Bestellung über den HVD-Bund wird zusätzlich um eine Pauschale für Verschickung/Porto von 2,50 gebeten.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 84/September/08, S. 12-14
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2009