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BERICHT/207: Antike Religionskritik und ihre neuzeitliche Rezeption (ha)


humanismus aktuell Heft 23 - Frühjahr 2009
Hefte für Kultur und Weltanschauung

Antike Religionskritik und ihre neuzeitliche Rezeption

Von Hubert Cancik


Genius Ioci

Die Hacke'schen Höfe (1. Hof, Galerie) sind ein guter Ort, um sich über Religionskritik zu verständigen. Die Höfe befinden sich in der Spandauer Vorstadt, vor dem Rosenthaler Tor, außerhalb der Stadt. Der gelehrte Volksmund nennt die Vorstadt, in Anlehnung an die Bezeichnung "Toleranzstraße" für die Große Hamburger Straße, das "Toleranzviertel".

In einer Rede anlässlich der Enthüllung einer Büste von Moses Mendelssohn im Vorgarten des Jüdischen Schulhauses am 15. Februar 1909 heißt es: "Die Große Hamburger Straße, sie wird im Volksmund die Toleranzstraße genannt, weil Wohltätigkeitsanstalten und Beerdigungsplätze der verschiedenen Konfessionen in ihr sich befinden." [1] Zu den verschiedenen Konfessionen gehörten die Juden. Diese Konfession hatte sich, mit Erlaubnis des Großen Kurfürsten, Markgraf Friedrich Wilhelm von Brandenburg, seit 1671 wieder in Berlin, genauer: vor dem Rosenthaler Tor niederlassen dürfen.

Sie kamen aus Wien, von wo sie gerade vertrieben worden waren, und Berlin war seit 160 Jahren "judenfrei", wie man früher sagte. Christlicher Fanatismus hatte alle Juden teils aus Berlin ausgewiesen, teils auf dem Neuen Markt vor der Marienkirche auf einem Scheiterhaufen verbrannt (1510). Aber es bestand Bedarf in Berlin an wohlhabenden Steuerzahlern und kundigen Arbeitskräften. Die Wiener Juden waren Händler mit Auslandsbeziehungen, Heereslieferanten, Münzwechsler, Kreditgeber. Da konnte der Große Kurfürst gern tolerant sein und ihnen Niederlassung gewähren in der Judengasse, der späteren Sophienstraße, der ältesten Straße der Spandauer Vorstadt.

Vom Hacke'schen Markt über die Spree auf die Spree-Insel führt die Toleranzbrücke. Dieser Name hat einen ganz anderen Grund. Wenn Du auf der Mitte der Brücke stehst, so heißt es, siehst Du alle Religionen Europas - die Kuppel der St.-Hedwigs-Kathedrale, deren Vorbild das Pantheon, das Heiligtum aller Götter in Rom ist; den neuen, prunkvollen Dom der Hohenzollern; das Alte Museum, ein guter Ort der Besinnung, so die Absicht Schinkels, ja "ein Heiligtum", in der Betrachtung der klassischen Götter in der Rotunde, zu "Genuß", "Studien", "Erkenntnis"; die goldene, orientalisierende Kuppel der Neuen Synagoge; einen weiteren Turm Richtung Alexanderplatz von unklarer Denomination; ein Minarett ist noch nicht sichtbar.

Hier befindet sich eine Brücke mit Toleranzblick, ein Toleranzviertel mit Toleranzstraße und mit vielen Beispielen von Toleranz, Repression und Fanatismus. Also: die Hackeschen Höfe (Nr. 1, Galerie) sind ein guter Ort, um sich über Nutzen und Nachteil der Religionskritik für das Leben zu verständigen.


Grundbegriffe der Religionskritik

Kritik und Aufklärung

Religionskritik argumentiert intern oder extern. "Intern" ist die Kritik innerhalb einer Religion oder zwischen verschiedenen Religionen. Externe Kritik wird an der Religion von anderen Teilen einer Kultur ausgeübt (Philosophie, Recht und Politik, Kunst, Natur- und Kulturwissenschaften). Diese grobe Einteilung zeigt bereits, wie verschieden die Nöte, die Absichten und Methoden der Kritiker sein dürften. Hinzu kommt die Komplexität dessen, was man "Religion" nennt.

Jede Religion hat, um nur wenige Stichworte zu nennen, rationale und emotionale Anteile, soziale und irrationale (mystische, mythische), auch moralische und utopische. Die Aufgabe, Bedeutung, Funktion von Religion ist verschieden nach Kulturen, Epochen, Gesellschaftsschichten. Immer ist Religion eine gemeinschaftliche symbolische Handlung mit einem außeralltäglichen, transindividuellen, mythischen Bezug (Intention, Relation).

So vielfältig wie Religion ist Religionskritik. Die interne Kritik wendet sich mit religiösen Gründen gegen Missstände in der eigenen oder einer anderen Religion (z.B. Kleider- und Bauluxus der Kirchenfürsten) oder gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen; die externe mit naturwissenschaftlichen Gründen gegen einen als Wissenschaft deklarierten technomorphen Mythos (Erschaffung des Mannes aus Lehm) oder gegen die Vergöttlichung von Naturdingen: die Sonne ist nicht ein Gott (Helios, Sol), sondern ein glühender Stein (Anaxagoras, 5. Jh. v. Chr.). "Kritik" ist nicht Polemik, Apologetik, Blasphemie, sondern Untersuchung, Bewertung, Begutachtung. Zumal die externe Religionskritik versteht sich als Aufklärung. Sie will Licht ins Dunkel bringen, das Verborgene durchleuchten, Geheimnisse lüften, Scharlatane entlarven, besonders gern die frommen Betrüger; sie will den freien Gebrauch der Vernunft lehren, die Legitimität der Autoritäten befragen. Sapere aude, incipe - "mehr Vernunft wagen, und zwar gleich" - forderte Horaz (Episteln 1,2,40), und Immanuel Kant machte die Forderung des römischen Dichterphilosophen zur Parole der Aufklärung. [2]


Gründe und Formen von Religionskritik

Die drei wichtigsten Ursachen für Kritik an Religion sind: a) Missstände, Dissens und Rivalitäten in und zwischen den Religionen [3]; b) Spannungen zwischen innovativen Gruppen, Schichten und Klassen und der Religion, die prinzipiell retardierend ist, reaktiv, restaurativ; c) außerreligiöse Ansprüche von Religion.

Nur zu der letztgenannten Ursache eine Erläuterung: Die außerreligiösen Ansprüche von seiten der Religion sind in den hellenischen und römischen Religionen gering. Wissenschaft, Kunst, Erziehung und, Recht werden begründet auf Vernunft und Natur, die Ideen des Schönen und der Gerechtigkeit. Deshalb gibt es wenig und vor allem wenige zu Gewalt sich steigernde Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft, Religion und Kunst, Religion und Erziehung.

Die jüdische und die christliche Religion dagegen bilden, aus besonderen historischen Gründen, parastaatliche Organisationen mit starken außerreligiösen Ansprüchen; sie bilden Gemeinden, finanzieren Caritas, verfügen über eigene überregionale Kommunikationswege. Das war attraktiv für Mitglieder, zumal in Zeiten, in denen der Staat schwach und die Gesellschaft in Nöten war. Für die antike Kultur als solche waren diese religiösen Parallelstrukturen bedrohlich.

"Kritik" argumentiert in vielerlei Formen: mehr rational oder rhetorisch, objektiv, historisch, satirisch. Verbale Polemik führt, unter besonderen Umständen, zu Gewalt gegen Sachen und Personen. Der hellenischen und römischen Kultur ist es weitgehend gelungen, Religionskritik zu üben ohne Gewalt. Sie führten keine Kriege zur Verbreitung der eigenen oder gar zur "Ausrottung" einer "fremden" Religion. Es gibt staatliche Kontrolle von Religion, einige Prozesse wegen "Unfrommheit" (Asebie) in Athen, Repression dionysischer Kultvereine in Italien, auch Verbrennung von Büchern mit neuen Riten oder unguten Prophezeiungen.

Die Religion der Fremden ist Gegenstand von Neugier, wissenschaftlichem Interesse, auch scharfer Kritik. Herodot beschreibt die Religionen der Ägypter und Perser, er ist der Vater der Religionsgeschichtsschreibung. Cornelius Tacitus beschreibt die Religion der Germanen und Judäer. Beide Völker sind Feinde des römischen Imperium, jedoch aus politischen, nicht aus religiösen Gründen. Die germanische Religion, meint Tacitus, kann römisch "interpretiert" werden; die jüdische gibt ihm Stoff für eine antisemitische Konstruktion: Das Judentum ist ihm eine "Gegen"-Religion.

Der Text des Senators Cornelius Tacitus ist gebildet, geistreich und anspruchsvoll formuliert: "klassischer Antisemitismus". Tacitus kritisiert auch die neue Herrscherverehrung der Caesaren und die Barbarismen der germanischen Religion: seine Darstellung der jüdischen Religion jedoch ist der entschiedenste, ausführlichste, gelehrteste religionskritische Text der Antike. Aber selbst dieser Text führte nicht zu Repression oder Pogrom. Die Judäer in der Stadt Rom, deren es viele gab, blieben unbehelligt, auch als in der Provinz Syrien-Judaea die Römer gegen Zeloten oder Bar-Kochba kämpften.


Religionskritik in der Antike

Übersicht

Die Kritik der jüdischen Religion bei Tacitus ist ein wichtiges und leider wirkungsvolles Zeugnis für antike Religionskritik. Es ist aber keineswegs das früheste und auch nicht das radikalste und wirkungsvollste. Die antike Religionskritik beginnt in der archaischen Epoche Griechenlands mit Xenophanes und Pythagoras, also im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Die radikalsten Positionen werden in der "attischen Aufklärung" (5. Jh. v.Chr.) formuliert.

Am wirkungsvollsten in der Religions- und Geistesgeschichte Westeuropas waren die verführerischen Verse des Lukrez und Ciceros Religionsgespräch Über das Wesen der Götter. Lukrez preist die epikureischen seligen Götter im Jenseits dieser Welt und verwirft jede positive Religion, ihre Mythen und Dogmen. Cicero bietet milde Skepsis, Wahrscheinlichkeit - nicht Wahrheit, sondern intelligente Möglichkeiten, sich der herrschenden Religion zu entziehen oder diese sich anzupassen.

Drei Beispiele antiker Religionskritik möchte ich näher erläutern: a) den Anfang der Religionskritik mit Xenophanes und den Pythagoreern; b) die Entlarvung von Religion als Betrug und Herrschaftsmittel in dem Drama Sisyphos; c) die Entdeckung der individuellen Religionsfreiheit.


Xenophanes und die Pythagoreer

Zu Beginn der Geschichte der griechischen Philosophie im 6. Jh. v.Chr., als der Prophet Jeremia in Israel weissagte, haben Xenophanes und Pythagoras vier zentrale "Dogmen" der griechischen Religion attackiert. Sie leugnen die Vielzahl und die Menschenförmigkeit der Gottheit und verwerfen die Verehrung von Götterbildern und das Tieropfer. Es gibt nur einen Gott (heis theos), behauptet Xenophanes, er ist nicht an Gestalt oder Denkvermögen den Menschen ähnlich; selbst unbewegt, erschüttert er alles durch seine Vernunft. [4]

Wenn die Kühe Hände hätten, so spottet Xenophanes, so würden sie ihre Götter kuhförmig malen, die Äthiopier plattnasig und schwarz, die Thraker blauäugig und rothaarig. [5] Die Götter, heißt das, sind Projektionen der Menschen; Gottesbilder sind abhängig von der jeweiligen Kultur. Die Bilder sind unwahr, die Mythen bei Homer und Hesiod sind Verleumdungen [6]; die Verehrung der Bilder wird unsicher. Die eigene Theologie - ein Gott, nicht menschenähnlich, Vernunftwesen - vertritt Xenophanes nicht als unanfechtbare Offenbarung. Klares Wissen über die Gottheit, sagt er, habe niemand; auch seine eigenen Meinung sei nur "wahrscheinlich". [7]

Dies ist der Ursprung der europäischen Religionskritik: rational und universal, spöttisch, furchtlos, gegen Konvention und Autoritäten wie Homer und Hesiod, und gewaltfrei.

Pythagoras untergräbt den zentralen Ritus der griechischen Religion, das Tieropfer. Da die Seelen der verstorbenen Menschen durch Tiere und Pflanzen wandern, bis sie als Menschen wiedergeboren werden, besteht, so sagt er, die Gefahr, dass bei einem Tieropfer nicht nur ein Mensch, sondern möglicherweise sogar ein Verwandter geschlachtet werde: Opfer ist Mord.

Empedokles [8] hat die Situation eindringlich geschildert: Der Vater hebt seinen eigenen Sohn, der die Gestalt gewechselt hat, empor (über den Altar), betet, schlachtet ihn und besorgt ein schlimmes Mahl in seinem Hause. Fleischverzehr ist Sünde; alles Lebendige ist miteinander verwandt, Teil der einen Weltseele, durch dasselbe Recht der Natur geschützt.

Das sind schwer zu widerlegende Gründe, mit Leidenschaft verkündet und bis in die Spätantike immer wieder von Einzelnen und Gruppen vertreten. Die Mehrzahl der Griechen blieb beim Tieropfer, beim Verzehr von Lebendigem und bei der Bilderverehrung.

Aber der Dissens blieb gewaltfrei: Xenophanes und die Pythagoreer haben nicht etwa dazu aufgerufen, die falschen Götterbilder zu zerschlagen oder die Opferaltäre umzustürzen, die Künstler und Priester zu erschlagen. Es gab starke politische, rechtliche, moralische Ordnungen, die den Umschlag der Spekulation in religiös motivierte Gewalt verhindern konnten.


Sisyphos: Religion als Erfindung, Betrug, Herrschaftsmittel

Eine externe, radikale, nicht auf religiöse Reform, sondern auf die Entlarvung von Religion zielende Kritik hat, gegen Ende des 5. Jahrhunderts die "attische Aufklärung" geschaffen. In dem Bruchstück eines Dramas mit dem Titel Sisyphos erfindet "ein kluger Mann" die Götter, damit die Menschen, auch wenn sie nicht beobachtet werden, den Gesetzen folgen; den Göttern nämlich, so sollen sie glauben, bleibe nichts verborgen. [9]

Der kluge Mann siedelt die Götter im Himmel an, weil Blitz und Donner die Menschen schrecken. Religion beruht also auf Unwissenheit und Angst; sie ist erfunden und "mit lügnerischen Worten" den Menschen aufgeschwätzt. Religion dient dazu, die Menschen zu kontrollieren.

Diese Kritik reduziert und entlarvt Religion als ein durch Menschen geschaffenes-Mittel der Herrschaft: Insofern ist der Sisyphos aufklärerische Religionskritik. Der Autor des Dramas ist unsicher - Kritias oder, eher, Euripides, beide Angehörige der Oberschicht in Athen. Sisyphos aber, der im Drama diese Religionskritik vorträgt, endet als großer Betrüger in der Unterwelt, wo er, vergeblich und immer wieder den Stein auf den Berg hinauf zu wälzen versucht. Der Sprecher, der Religion als Erfindung und die Götter als Betrug entlarvt, ist selbst ein notorischer Lügner, einer, der sogar den Tod betrügen konnte. Welchen Wahrheitsanspruch hat seine Religionskritik?


Religionsfreiheit

Religionskritik, ob intern oder extern, ob zur Reform oder zu radikaler Aufklärung, braucht nicht nur eine kreative und unabhängige Intelligenz, sondern auch Meinungsfreiheit und eine Öffentlichkeit, die nicht von einer bestimmten Religion dominiert ist. Sie beruht auf gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen, die ihrerseits nicht von der Religion garantiert werden können. Die "offene Gesellschaft", die hierfür vorausgesetzt ist, bietet "sehr viele Formen" der Lebensgestaltung - so Perikles in seinem Hymnus auf Athen (Thukydides 2,37,1-2; 2,41,1).

Der Name, der damals für die Verfassung dieser mindestens partiell und programmatisch freien und gleichen Bürger erfunden wurde, ist "Volks-Herrschaft" - demokratia. Diese athenische Gesellschaftsordnung gibt noch dem Apostel Paulus die Möglichkeit, in Athen, auf dem Markt und dem Areopag, mit Pantheisten und Atheisten über die richtige Religion zu diskutieren (Lukas, Apostelgeschichte 17).

Eine späte Errungenschaft in dieser Tradition ist der Begriff "Religionsfreiheit" und seine juristische Fassung. Der Ausdruck libertas religionis wird um 200 n.Chr. von Tertullian entwickelt. Er wendet die stoische Lehre, dass jede moralische Handlung frei sein müsse, auf die religiöse Handlung an: Niemand kann gezwungen gut sein, niemand unter Zwang fromm sein. Religionsfreiheit, sagt Tertullian, ist Menschenrecht (ius humanum). Der römische Staat, der Christianer zum Opfer zwingt, handelt gegen die Prinzipien von Religion und Recht. [10]

Aber erst in den Jahren 311-313 wurde die Forderung Tertullians erfüllt. Kaiser Galerius hebt die Maßnahmen auf, mit denen Diocletian die Christianer unterdrückt hatte. Galerius gewährt ihnen Religionsfreiheit; sie dürfen sich als Gruppe konstituieren, Versammlungen abhalten, Vereinshäuser errichten. Die Kaiser Licinius und Konstantin beschließen: "daß wir sowohl den Christianern als auch allen (anderen) die Verfügungsgewalt geben, der Religion zu folgen, die ein jeder will ... (damit du weißt), daß wir freie und vollständige Fähigkeit den Christianern gegeben haben, ihre Religion zu pflegen ... Auch den anderen ist in ähnlicher Weise die Möglichkeit, ihre Religion und Observanz auszuüben, offen und frei, sodaß jeder die freie Verfügungsgewalt in der Verehrung dessen hat, was sich ein jeder ausgewählt hat." [11]

Die Kaiser gewähren nicht Toleranz, sondern Religionsfreiheit: "die freie Möglichkeit, der Religion zu folgen, die ein jeder will". Die Wahlfreiheit hat nicht eine ethnische, politische, religiöse Gruppe, sondern jeder Einzelne - so ist es ius humanum (Menschenrecht) und Wesen der Religion. Und "alle" (omnes) sollen diese Freiheit haben, nicht nur die Christianer.

In dieser Epoche der Religionsfreiheit (4. Jh. n. Chr.) entsteht eine umfangreiche Religionskritik und Versuche, Toleranz und Religionsfreiheit moralisch, politisch, juristisch zu begründen. Am Bekanntesten ist wohl die Schrift des Kaisers Julian Gegen die Galiläer, d.h. gegen die Christianer, deren Ursprung in Galiläa liegt.


Zusammenfassung und Ausblick

Antike Religionskritik

Die Religionskritik in der Antike, wie ich sie in einem knappen Überblick vorgestellt habe, läuft - und dies ist die erste Lehre aus dieser Geschichte - sozusagen von Anfang an neben der jeweils praktizierten Religion einher.

Alle Philosophen jeglicher Schule haben die Gottesvorstellungen, die Mythen und Riten der traditionellen Religion kritisiert - Xenophanes, Empedokles, Heraklit, Plato, Epikur, Lukrez, Cicero, Seneca. Metaphysische Spekulation und philosophische Ethik entwickeln neue Begriffe von Ursprung, Natur, höchstem Sein, Gut, Weltseele, von Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Gewissen.

Sie stehen oft in Spannung zu der alten, institutionalisierten Religion. Die Religionskritik reflektiert die sozialen Schichtungen. Die "Hochreligion", von Oberschichten und ihrer Intelligenz getragen, rationalisiert, sublimiert, ästhetisiert. Sie kritisiert - von hoher, sicherer Warte herab - den billigen, unaufgeklärten Aberglauben der "Massen", kann aber auch eben diesen "Aberglauben" bewusst, aus herrschaftstechnischen Gründen, bestätigen ("Kritias").

Die wichtigsten Argumentationsmuster sind (a) Rationalisierung (Harmonisierung von "Widersprüchen", reinere Gotteskonzeption, Nutzung naturphilosophischer/wissenschaftlicher Erkenntnisse); (b) der ethnographische Vergleich mit Nichtgriechen (Kritik grausiger Riten; Ablehnung der Menschenopfer bei Puniern, Druiden, Germanen; der edle Wilde als Muster: Inder, Baktrier, Germanen); (c) Historisierung (Entstehung oder Erfindung von Religion; Vergleich der Gegenwart mit der Frühzeit); (d) Allegorese; (e) Spiritualisierung (Verinnerlichung; 1. Jh. n.Chr.: Epiktet, Persius, Seneca).

Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die interne und externe Religionskritik der Antike gewaltfrei. Radikale Aufklärung betreibt Protagoras (5. Jh. v.Chr.) in seiner Schrift Über Götter. Am Anfang der Schrift stand ein erkenntnistheoretischer Methodensatz: "Über Götter vermag ich nichts zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind, noch wie beschaffen an Gestalt."

Schon in der Antike wurde der Satz auf Atheismus vereinfacht. [12] Die Entstehung bzw. Erfindung von Religion wird untersucht von Prodikos (2. Hälfte 5. Jh. v.Chr.), Demokrit, "Kritias". Eine Widerlegung dieser naturphilosophischen und sophistischen Theorien unternimmt Plato in seinem zweiten Staatsentwurf (Gesetze, Buch X). Seine Kritik fordert Internierung, Umerziehung, Kapitalstrafe für die radikalen Religionskritiker.

Die Götter Epikurs sind anthropomorph, ewige Gestalten, ohne Bedürfnisse und Sorge; Opfer, Gebet und Divination sind hierwenig sinnvoll. Todesangst, Träume, Strafangst, Unkenntnis der Naturgesetze erzeugen auf einer bestimmten Kulturstufe die Vorstellung von Göttern und die traditionelle Religion. [13] Der "Fortschritt" der Erkenntnis, die Vernunft der atomistischen Philosophie aber könnte die Dunkelheit "aufklären". [14]


Zur Wirkungsgeschichte antiker Religionskritik in der Neuzeit

Die hier skizzierte antike Religionskritik ist in sehr großem Umfang in der Neuzeit benutzt worden. Winfried Schröder, ein hervorragender Kenner der neuzeitlichen Religionskritik, schreibt: "Angesichts dieser Antizipationen ist der neuzeitlichen Religionskritik kaum eine ... Originalität zuzusprechen". [15] Auch die antiken Einwände gegen das Christentum werden von der Aufklärung reaktiviert.

Der Traktat von den drei Betrügern prangert die Lehren und Taten von Moses, Jesus und Mohammed an und kritisiert den "vernunftlosen Glauben". [16] Friedrich Nietzsche benutzt, um seinen geistesaristokratischen Antisemitismus zu stützen, die Kritik der jüdischen Religion bei Tacitus. Überall Lukrez: Sein Lehrgedicht über die Natur der Dinge ist in der Aufklärung "nahezu allgegenwärtig". [17]

Ein erst vor wenigen Jahren erschlossener Text möge ein Beispiel geben für die umfassende und intensive Rezeption der antiken Religionskritik in der Neuzeit. "Der Wiederbelebte Theophrast" sammelt um die Mitte des 17. Jahrhunderts alle Zeugnisse der antiken Religionskritik. [18] Der Autor bleibt aus Furcht vor der Inquisition anonym. Er stellt sein Werk unter den Namen des Theophrast (ca. 371 - ca. 287 v.Chr.), eines Schülers des Aristoteles, der Werke Über die Götter und Über die Frömmigkeit verfasst hatte.

Da diese Werke weitgehend verloren sind, gibt der barocke Autor vor, sie ersetzen zu wollen. [19] Die Thesen jedoch, die er mit großer Gelehrsamkeit vorträgt, sind keineswegs im Sinne Theophrasts, sondern Thesen einer radikalen, humanistischen Frühaufklärung: "Es gibt keine Götter"; "die Welt ist ewig"; "die Religion ist eine politische Kunst"; "jede Religion ist gut"; "die Seele ist sterblich"; "der Tod betrifft uns nicht"; "leben nach der Natur". Wir verdanken also dem aufklärerischen Bedürfnis der Neuzeit die umfangreichste Sammlung antiker Religionskritik, wie sie in dieser Vollständigkeit, Systematik und Schärfe in der Antike selbst nicht existiert hat.


Folgerungen

Der "wiederbelebte Theophrast" zeigt, wie antike und neuzeitliche Religionskritik unauflöslich miteinander verbunden sind. Abschließend ist festzuhalten:

Die Antike war eine multireligiöse Gesellschaft; Religionskritik ist ein fester und wichtiger Bestandteil unseres antiken Erbes und damit der europäischen Religions- und Geistesgeschichte.
Zu diesem Erbe gehört die individuelle Religionsfreiheit als Menschenrecht.
Antike Religionskritik ist weitgehend gewaltfrei; es gibt keine Religionskriege und keine Inquisition. [20]
Antike Religionskritik ist öffentlich, sie setzt Meinungsfreiheit voraus und eine Öffentlichkeit, die nicht von einer bestimmten Religion dominiert wird.
Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, freie Öffentlichkeit setzen starke gesellschaftliche Institutionen voraus (Justiz, Bildungswesen, Wissenschaft und Kunst), die ihrerseits religionsfrei begründet sind.

Referat zu einer Diskussion über Religionskritik am alten Sitz der Heinrich-Böll-Stiftung in den Hacke'schen Höfen am 3. April 2008.


Anmerkungen

[1] Zitiert bei Heinz Knobloch, Die Toleranzstraße, in: Neue Berliner Illustrierte 1987, S. 80-82.

[2] I. Kant, Was ist Aufklärung? 1784; das Horaz-Zitat steht im Eingang der Abhandlung.

[3] Beispiele: (a) Kritik an Riten (gegen die Tieropfer), an Kultfunktionären (passim; jüngster bedeutender Fall: die Paedophilie und Homoerotik katholischer Priester in Österreich und den USA); als "abergläubisch" eingestufte Praktiken (Wundersucht; schwitzende oder weinende Marien-Statuen in Italien). - (b) Mythen- und Dogmenkritik (die Ewigkeit der Höllenstrafen). - (c) Religionskritik zwischen Religionen sind in der hellenischen und römischen Kultur selten.

[4] Griechischer Text und deutsche Übersetzung bei S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield, Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart 1994 (KRS), S. 178-197, frg. 170-172.

[5] Xenophanes, frg. 168 und 169 (KRS).

[6] Xenophanes frg. 166 (KRS).

[7] Xenophanes, frg. 186-187 (KRS).

[8] Empedokles frg. 414-417 (KRS).

[9] Übersetzung in: Musa Tragica, Die Griechische Tragödie von Thespis bis Ezechiel, 1991, 120-123.

[10] Tertullian, Apologeticum 24,5-6; ad Scapulam 2.

[11] Schreiben des Licinius bei Lactanz, de mortibus persecutorum 48; griechische Fassung bei Euseb, historia ecclesiastica 10,5.

[12] Cicero, "Über die Natur der Götter" 1,24,63; Diogenes Laertios 9,51 f.

[13] Lukrez 1,151-155; 3,1011-1023; 5,1161-1240.

[14] Lukrez 6,1453; 3,1-30.

[15] W. Schröder, Religionskritik, in: Der Neue Pauly 15/2, Sp. 701.

[16] Anonymus, Traité des trois imposteurs / Traktat über die drei Betrüger (L'esprit de Mr. Benoit de Spinoza) (verfaßt ca. 1680-1700), hg. v. W. Schröder, Hamburg 1992.

[17] W. Schröder, Religionskritik. Paul Henry Thiry d'Holbach (1728-1789) veranlaßt N. de Lagrange, eine kommentierte Neuübersetzung von Lukrez zu erarbeiten. Karl Ludwig von Knebels deutsche Übersetzung erscheint 1831 in 2. Aufl.

[18] G. Canziani / G. Paganini (Hg.), Theophrastus Redivivus, Florenz 1981.

[19] Theophrastus Redivivus, Einleitung.

[20] Sonderfälle sind die Asebie-(Gottlosigkeits-)Prozesse in Athen; die Repression des Bacchanalia in Italien; die Verfolgung von Christianern und Manichäern; gelegentliche Ausweisung von Astrologen, Philosophen, Judaeern aus Rom.


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Quelle:
humanismus aktuell, Heft 23 - Frühjahr 2009, Seite 12-18
Hefte für Kultur und Weltanschauung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. April 2009