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BERICHT/213: Schmerz und Glaube (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 87/2009 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Schmerz und Glaube
Kultursensible Ansätze mit oder ohne Humanismus?

Von Gita Neumann


Wir leben in einer Zeit, in der neben der geriatrischen die palliative (lindernde) Medizin zunehmende Bedeutung erlangt. Ein Grund dafür: In den nächsten Jahren nimmt die Anzahl von alten Menschen stark zu. Bei bis zu 75 Prozent dieser Menschen ist andauernder Schmerz ein häufiges Symptom.


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Die häufigsten Schmerzen im Alter sind solche am Bewegungsapparat, Nervenschmerzen und Tumorschmerzen. Das Erleben und Empfinden von "aussichtslosem" Leid berührt eine religiös-weltanschaulich geprägte Sinn- und Glaubensdimension. Sie überlappt sich zwar mit psycho-sozialen sowie ethischen Aspekten, ist mit diesen aber nicht deckungsgleich. So sehen es zumindest zeitgenössische Konzepte zur Leidlinderung. In einigen Veröffentlichungen werden die wichtigsten Religionen und Weltanschauungen in ihrem Bewältigungspotenzial und Ritus explizit behandelt. Dabei fällt auf: Der Humanismus kommt nirgends vor. Zu vermuten ist: Weil seine Vertreter dies auch gar nicht wollen. Aus (berechtigter?) Sorge, in die Nähe einer diffusen, auch dilettantischen Spiritualität zu geraten? Aus Ignoranz gegenüber ernsthaften philosophischen Ansätzen zu Gemütsruhe, Schmerzvermeidung oder auch trostspendender Transzendenz? Hier wären - als dezidiert nicht-religiöse Vertreter - zumindest zwei Namen zu nennen: Epikur (um 341-270 v.u.Z) und der zeitgenössische Philosoph Ernst Tugendhat.


Ethik-Charta betont Menschenrecht auf Schmerzbefreiung

Chronischer Schmerz bedeutet Probleme beim Anziehen, Laufen, Treppensteigen, Einkaufen, Kochen und birgt damit die Gefahr der sozialen Isolation und des Verlustes der Selbstständigkeit. Bei alten Menschen ist Schmerzprävalenz bei Heimbewohnern mit kognitiven Beeinträchtigungen oder Demenz besonders hoch. Jeder Mensch hat ein Recht auf angemessene Schmerztherapie, auch Neugeborene, Kinder und einwilligungsunfähige Erwachsene. Dazu hat die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) im Oktober 2007 eine viel beachtete "Ethik-Charta" vorgestellt. Schmerz wird in der modernen Wissenschaft längst nicht mehr klassisch als reine Empfindungsreaktion auf die Erregung schmerzvermittelnder Strukturen definiert. Vielmehr werden heute die Übergänge zu seelischem und existenziellem Leid hervorgehoben.

Neben Kapiteln etwa zu "Schmerz messen" oder "Umgang mit Sterbenden" findet sich dort auch ein Unterkapitel zur "Selbsttötung". Dieses stellt die diesbezüglichen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) vor und schließt mit der Feststellung: "In Deutschland findet eine konstruktive, öffentliche Diskussion des Themas Beihilfe zum Suizid nur sehr zaghaft statt."


Bewältigungspotenziale in religiösen und nicht-religiösen Lehren

Neben der Selbstbestimmung wird in der Ethik-Charta der DGSS dem Komplex "Schmerz und Religion" besondere Bedeutung eingeräumt. Betont werden die positiven Bewältigungs- und Behandlungseffekte des Glaubens. Dort heißt es: "Eine effektive Schmerz- und Symptomkontrolle respektiert nicht nur die individuelle Spiritualität des Patienten; sie erkennt zudem in dem gelebten Glauben des Einzelnen ein Potenzial, den gewählten, notwendigen Behandlungsweg in seinem Verlauf positiv zu beeinflussen." Es folgt eine diesbezügliche Darstellung der monotheistischen Weltreligionen (siehe unten). Deren traditionelles Verständnis von Schmerz als Gottesstrafe - auch für kollektive - Sünde scheint dabei heute völlig ausgeblendet. Doch ist gerade dies der verbindende Charakterzug zwischen den monotheistischen Religionen. Dies wird besonders deutlich im Kontrast zu den Lehren von Buddhisten, Hindus und auch Epikureern - wobei die nicht-religiöse Lebensphilosophie letzterer in einschlägigen Publikationen eben nie aufgeführt wird. Dabei hätte sie einiges beizutragen: Nach Lehre des griechischen Gelehrten Epikur gelten Freiheit von Schmerzen und von Angst sowie die Gemütsruhe als höchste Güter. Sie sind ein Glück, das gegen alle äußeren Widrigkeiten erreichbar sein kann. Weil Epikur das Streben nach wohlverstandener Lust (gr.: hedone) allem menschlichen Handeln zugrundelegt, stand seine Lehre jahrhundertelang unter strengster Kirchenkritik.

Im spirituellen Sinn beachtlich ist - gut 2000 Jahre nach Epikur - der Beitrag des Philosophen Ernst Tugendhat. Er hat - als Sprachanalytiker ein Verächter jeden Pseudotiefsinns - sein letztes Werk dem Umgang mit Lebensende und hohem Alter (auch dem eigenen) gewidmet. Es geht ihm um die - durch Reflexion - zurückdrängbare "Egozentrizität", d. h. um eine zu gewinnende "Transzendenz"-Haltung, die sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt. Überwindung von Todesangst und spiritueller Trost können durchaus teuer erkauft sein: nämlich damit, dass man keine Leidenschaften mehr hat.


Gefragt wie nie: Weltanschauliche Angebote

In einer Landesdrucksache aus NRW vom 28. April 2009 fordern alle im Parlament vertretenen Parteien einhellig in den Hospiz-, Alten- und Pflegeeinrichtungen eine "kultursensible Öffnung" und die "Weiterentwicklungen der Angebote für Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen und Lebenseinstellungen". Ob im Handbuch der Palliativmedizin, den Finanzierungsrichtlinien für Hospizarbeit oder einer aktuellen Broschüre zur Bestattungskultur: Wer sich heutzutage Themen wie Schmerzlinderung, Todesfurcht, Wahrheit am Krankenbett, Trost und Trauer widmet, kommt in Deutschland um eine pluralistische Werte-Perspektive nicht mehr herum.

Das gilt auch für die jüngsten "Empfehlungen zum Umgang mit Sedierung am Lebensende", die im Juni von der Akademie für Ethik in der Medizin herausgeben werden (neben Medizinern und Theologen hat eine Vertreterin des Humanistischen Verbandes mitgewirkt). Bei der palliativ oder auch terminal genannten Sedierung geht es darum, unerträgliches Leiden - auch seelischer und psychiatrischer Natur! - mit bewusstseinsdämpfenden Mitteln zu lindern, wenn dies anders nicht mehr möglich ist. Das Problem: Der vorweggenommene soziale Tod vor dem biologischen.

In einem Entwurf zu diesen Empfehlungen heißt es: "Es ist damit zu rechnen, dass sich eine allgemeine Haltung dahingehend verstärkt, eine vermeintlich legitime Angebotsmöglichkeit des 'schmerzlosen Sterbens im Schlaf' für sich in Anspruch zu nehmen. Womöglich wird sogar als vermeintliches Recht von den Ärzten verlangt, in suizidaler Absicht unter Sedierung mit dem Essen und Trinken aufhören zu können." Ein Korrektiv gegen solche Zumutung könnte "die unverzichtbare Auseinandersetzung auch mit den existenziellen, spirituellen und religiösen Aspekten sein, die jeder Einzelne im Rahmen seiner selbstverantwortlichen Lebensführung zu leisten hat."

Das Hospizkonzept geht ganz selbstverständlich von "vier Säulen" (medizinisch, pflegerisch, psycho-sozial und spirituell) aus. An der Universität Köln ist 2008 ein palliativmedizinisches Forschungsprojekt angelaufen zur "Validierung eines deutschsprachigen Instruments zur Messung eines gesteigerten Todeswunsches". Als Teilziel wird dabei genannt: Genaue Erfassung spiritueller Bedürfnisse und Ressourcen Schwerkranker und Sterbender anhand von Fallanalysen zu Sinndeutungssystemen und Lebensstrategien. Es soll dabei um eine anthropologische "Grundidee des Humanen" gehen, um Kategorien wie Hilflosigkeit, Grenzerfahrung, Leid, Erlösung, Scheitern, Erduldung, Freiheit, Transzendenz, Angst, Hoffnung, Todesfurcht.


Greift das Humanistische Selbstverständnis zu kurz?

Die einschlägige Stelle im "Humanistischen Selbstverständnis" lautet: "Humanistinnen und Humanisten wenden sich dagegen, Leid zu verklären und treten ein für das Recht auf Leidminderung und auf Hilfe zu einem selbst bestimmten Sterben. (...) Menschen [können] mit schmerzhaften, zum Teil unlösbaren Problemen zu leben lernen, ohne in Resignation zu verfallen... Der Angst vor Sinnleere und Bedeutungslosigkeit des individuellen Lebens kann durch ein bewusst humanes Leben begegnet werden. Auch verdrängte Ängste und Wünsche können individuell und gemeinschaftlich bearbeitet werden."

Dies würde wohl erlauben, auch den Humanismus zumindest in die Reihe der relevanten Religionen und Weltanschauungen einzureihen (zumal er darüber hinaus medizin- und bioethisch Spezifisches beizutragen hat). Allerdings: Die hinter dem Selbstverständnis durchscheinende Haltung deutet nicht eben auf die Bereitschaft hin, das Phänomen Todesfurcht oder Todeswunsch zusammen mit einem kranken Menschen geduldig auszuhalten. Oder das Thema kultur- und geisteswissenschaftlich auszuloten. Vielmehr hört es sich so an, als möchte man lieber auf Rezepte zurückgreifen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dabei kann es bei der spirituellen Begleitung gerade darum gehen: Um das Zulassen oder gar aktive Befördern von Fragen, worauf sich Zweifel, Versagensangst, existenzielles Leid überhaupt beziehen. Und um die Frage nach dem ewig unbeantwortbar bleibenden "Warum?"

Dies scheint dem Humanistischen Selbstverständnis zumindest in der vorliegenden Fassung eher fremd zu sein. Förderlich wäre ein Blick in die hospizliche Praxis des Humanistischen Verbandes (was die dort von den Krankenkassen eingeforderte spirituelle bzw. "humanistisch-seelsorgerische" Begleitung betrifft). Im jetzigen humanistischen Selbstverständnis bedient man sich einer Sprache, die besonders geeignet ist, um gesellschafts- und globalpolitische Denkkategorien und rational-ethische Urteilskriterien zu transportieren. Ob das aber für eine Weltanschauungsgemeinschaft reicht - sofern sie sich überhaupt zu ihrem positiven "spirituellen Potenzial" bekennen möchte? Das Menschenrecht auf Schmerztherapie und wertorientierte Selbstbestimmung, das zeigt die Ethik-Charta der DGSS, ist zumindest auch von einer Position aus einzufordern, die sich für dezidiert weltanschaulich neutral ausgibt.


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Wie halten sie es jeweils mit Leid und Schmerzbekämpfung?

Buddhismus

Der Buddhismus erklärt die Weltzusammenhänge ohne Glauben an einen Gott oder mehrere Götter. Er wird daher eher als philosophische Lebenskunst statt als Religion angesehen. Bis der Mensch sich aus seiner Unkenntnis, seinem Nichtwissen, befreit, hält das Karma, also seine Taten, aber auch Gedanken, Absichten und Sehnsüchte, ihn in seinem Leid gefangen. Völlige Auslöschung der Gier kann zur Überwindung (Nirvana) führen. Mit Übungen der Meditation und der Methode der Achtsamkeit kann versucht werden, eine schmerz- und stressfreie innere Stille zu erzielen.

Hinduismus

Hindus glauben an eine Vielzahl von Gottheiten und an Wiedergeburt. Sie akzeptieren Schmerz als Folge eigener schuldhafter Taten. Ein schlechtes Karma lässt sich aufheben, wenn sie durch Leiden hindurchgehen oder es sogar in ekstatischen Schmerzprozessionen freiwillig suchen. Eine Besonderheit stellt die rituelle Selbsttötung als "Lohn der Asketen" dar.

Judentum

Im alten Testament lautet die Antwort auf den Sinn des Leides: Leiden ist Gottes Strafe unserer Sünden wegen, Leiden ist Chance zu Läuterung und Buße, Leiden gilt als Prüfung und Glaubenszeugnis. Laut "Ethik-Charta" der DGSS wird in der zeitgenössischen jüdischen Bioethik die besondere Bedeutung des Patientenwillens hervorgehoben: "Der Patient übernimmt bei der Entscheidungsfindung für die anstehende Behandlung eine aktive und verantwortungsbewusste Rolle. Schmerzen sollen unverzüglich behandelt werden, und in diesem Zusammenhang ist der Patient die entscheidende Instanz hinsichtlich der Frage, wie viel und welch großen Schmerz er ertragen kann."

Christentum

Im Christentum gibt es Leiden als Strafe, als Märtyrererfahrung und als Mitleiden. Die Leiden Christi, also der Kreuzestod Jesu, bilden für die Erlösung im Christentum die wesentliche Voraussetzung. Die "Ethik-Charta" ergänzt die christliche Haltung zur Schmerztherapie wie folgt: "Das Potenzial der Wissenschaft, mit ihren Mitteln die Situation eines Patienten zu verbessern, stellt grundsätzlich einen Segen dar... Dort aber, wo die medizinische Leistungsfähigkeit Grenzen erreicht, ist es besonders wichtig, den Wunsch des gläubigen Patienten nach Seelsorge und Fürbitte zu respektieren... Der Patient darf, wenn er will, mittels der Möglichkeiten der Medizin eine weitgehende Schmerzlinderung auch dann beanspruchen, wenn diese mit dem Risiko der Lebensverkürzung verbunden ist. Gemäß dem Prinzip der 'doppelten Wirkung' darf dieses tödliche Risiko unter den gegebenen Umständen hingenommen werden, sofern das Eintreten des Todes nicht beabsichtigt ist."

Islam

Allah prüft die Gläubigen durch das Leid. Bei den Sunniten hat das Leid keine Heilsbedeutung. Bei den schiitischen Passionsspielen können die Gläubigen jedoch durch ertragenes Leiden Sünden abbüßen. Die "Ethik-Charta" erläutert die "Pflicht eines Gläubigen, sich medizinisch behandeln zu lassen... Erscheint eine Heilung als nicht möglich, ist es die vordringliche Aufgabe des behandelnden Arztes, dem betreffenden Patienten, ohne hierbei notwendigerweise zu lügen, eine positive Botschaft zu vermitteln... Ein früherer Tod darf nur als Nebenfolge der Schmerzbekämpfung hingenommen werden." Voraussetzung hierfür allerdings ist, dass eine Übereinstimmung mit Familie und Glaubensgemeinschaft besteht, denn gemäß der islamischen Ethik ist das Wohlbefinden des Einzelnen nicht isoliert zu sehen.


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 87 2/2009, S. 22-24
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. August 2009