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BERICHT/216: Rationalismus in Polen (diesseits)


diesseits 1. Quartal, Nr. 90/2010 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Rationalismus in Polen

Von Elzbieta Binswanger-Stefanska


Vom 5. bis 6. Dezember 2009 fand in Pobierowo bei Stettin unter dem Motto "Rationalismus in der Gesellschaft" eine Versammlung der Polnischen Rationalisten-Vereinigung (PRV) statt.


Gemessen an der kurzen Zeit ihres Bestehens können die Rationalisten sich über wachsenden Einfluss in der Gesellschaft freuen.

Beeinflusst von der internationalen rationalistischen Bewegung entstand 2005 in Warschau ein Zusammenschluss von Menschen mit einer säkularen Weltanschauung. Die rund 200 Rationalisten haben sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Oberstes Ziel ist die Einhaltung der Trennung von Staat und Kirche - ein schwieriges Unterfangen in einem Land, in dem die Kirche traditionell, bedingt durch die Zerschlagung und Aufteilung des Landes durch Russland, Preußen und Österreich, den Staat ersetzte, den Menschen ihre Nationalität bewahrte. Diese Erfahrung hat sich im Unterbewusstsein der Menschen so stark verankert, dass selbst nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit eine Trennung zwischen Staat und Kirche kaum mehr vorstellbar war. Umso mehr ist es wichtig, hier eine Gegenbewegung zu installieren, um weltanschauliche Neutralität zu erlangen. Die Rationalisten versuchen, den Einfluss irrationaler Ideologien auf staatliche Gesetzesvorhaben zu beschränken. Sie setzen auf selbstbestimmtes Handeln und rationales kritisches Denken. Sie entwickeln und verbreiten eine Weltanschauung, die auf wissenschaftlicher Grundlage die uns umgebende Welt erforschen und erklären möchte. Dabei ist die Wissenschaft vor gegenwärtigen Versuchen, sie in Misskredit zu bringen oder sie zu deformieren, zu schützen. Wissenschaft muss eine öffentliche Autorität sein. Hier sehen die Rationalisten Handlungsfelder. Vielfältige Bildungsarbeit hebt nicht nur das allgemeine Bildungsniveau der Bevölkerung, es hilft auch, um unter den Bedingungen einer Informationsgesellschaft handlungsfähig und selbstbestimmt zu bleiben.


Popularität der Kirche

Die besondere Situation Polens macht die Bemühungen der Rationalisten oft schwierig. Gemeint ist die Popularität der Kirche durch ihre Rolle in der Wendezeit. Kirche diente als Zuflucht und einzige Alternative zum kommunistischen System. Sie wurde zum Symbol für Freiheit und Demokratie. Die Nachwirkungen spüren die Mitglieder der Rationalistenbewegung häufig selbst. Sie müssen sich wehren gegen gesellschaftlichen Druck, der ihre Freiheit des Denkens und des Handelns, ihrer kulturellen oder künstlerischen Freiheit einschränkt. Das geht bis zu offener Diskriminierung vor allem aus Gründen der sexuellen Orientierung oder der ethnischen Herkunft.

Im Dezember 2007 fand in Warschau der zweite gesamtpolnische Kongress "Der säkulare Staat und die Idee einer neuen Aufklärung" der Rationalisten statt. Anlass war der 100. Jahrestag der Gründungsversammlung der polnischen Freidenkerbewegung. Zu diesem Zeitpunkt gab es die erste humanistische Hochzeit. Diese Zeremonie ist ein besonderes Angebot der PRV für alle Menschen, die nicht kirchlich heiraten wollen oder können, wie beispielsweise homosexuelle Paare. Diese Eheschließungen sind zwar noch nicht rechtskräftig, aber sie erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.


Schwerpunkt Wissenschaft

Vorrangig ist die PRV bis jetzt in den Großstädten Warschau und Krakau tätig. Sie arbeitet dort eng mit Universitäten und Medien zusammen. So unterstützte 2008 zum Beispiel die Krakauer Modrzewski-Hochschule das 3. Festival des Rationalismus zum Thema "Wissenschaft - ein Fundament der Zivilisation im 21. Jahrhundert". Im Rahmen dieses Projekts rief die PRV in Zusammenarbeit mit dem Radiosender TOK FM und der Wochenzeitschrift "Polityka" zu einem landesweiten Jugendwettbewerb auf. Sieger und damit "Rationalist des Jahres 2008" wurde eine Schulklasse einer allgemeinbildenden Schule in Lodz. Alle Jugendlichen aus der Klasse haben sich für den Ethikunterricht an der Schule entschieden.

Im März 2009 fand in Warschau ein weiteres Festival des Rationalismus statt. Zusammen mit der Sektion Biologie der Warschauer Universität wurde dort unter dem Titel "Evolution - Ingenieur der Natur" das Darwin-Jahr gefeiert. Die Nähe zu den Universitäten spiegelt sich auch in der Mitgliedschaft wieder: Viele Philosophen und Biologen haben sich dort organisiert, aber auch Politiker, Journalisten und Vertreter der Medien.

In Polen gibt es darüber hinaus noch weitere säkulare Vereinigungen, so z. B verschiedene Freidenkergruppen oder säkulare Kulturorganisationen, die untereinander vernetzt arbeiten.


Elzbieta Binswanger-Stefanska ist Publizistin des Portals www.racjonalista.pl.

Der Artikel wurde übersetzt von Halina Kazimierczak.


www.racjonalista.pl
Das öffentliche Portal der Rationalistenvereinigung Polens verzeichnet in den zehn Jahren seines Bestehens 43 Millionen Aufrufe. Auf der Seite kann man sein "Coming Out" als Atheist oder Agnostiker öffentlich machen. Über 16.000 Polen haben sich hier mit Namen, Beruf und Wohnort eingetragen - mit Sicherheit kein einfacher Schritt in einem Land, in dem sich 95 Prozent der Bewohner als katholisch verstehen. Für diesen Mut zahlen viele einen hohen Preis: den Verlust sozialer Kontakte und den Ausschluss aus vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.


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Quelle:
diesseits 1. Quartal, Nr. 90 1/2010, S. 9-11
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2010