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GESELLSCHAFT/019: Humanismus und Armut (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 79/2007
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Humanismus und Armut
Eine Positionsbestimmung

Von Michael Bauer


Wie stellt sich der weltliche Humanismus zur Armut? Natürlich: In einem spontanen ethischen Reflex wird sicher jedermann an seine Vorstellung von menschlicher Würde denken und sich wünschen, niemand möge arm sein. Und sicherlich wird auch der weltliche Humanismus kaum zum Verteidiger der Armut werden oder sie gar einfordern. Doch gilt es genauer hinzusehen.


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Zunächst: Was eigentlich ist Armut? Die StatistikerInnen haben quantitativ gefasst, was Armut sei und hierfür den Begriff "relative Einkommensarmut" geprägt. Dabei wird zunächst das so genannte Äquivalenzeinkommen bestimmt, das aus einer Gewichtung des Haushaltsnettoeinkommens und der Zahl der im Haushalt lebenden Personen besteht. Bei einem Äquivalenzeinkommen von 50 Prozent des Durchschnitts ist die Armutsgrenze erreicht. Bei 60 Prozent spricht man von einer Armutsgefährdung, bei unter 40 Prozent von bitterer Armut.[1]

Die Ursachen für diese mit einfachen empirischen Methoden messbare Armut sind vielschichtig. Arbeitslosigkeit und Krankheit gehören ebenso dazu wie Kinderreichtum. Besonders dann, wenn Kinder von nur einem Elternteil alleine aufgezogen werden, steigt das Armutsrisiko erheblich. Aber auch unzureichende Bildungschancen in der Kindheit sind Hauptursachen für künftige Armut. Schon aus diesen wenigen Stichworten ergeben sich die ersten Anknüpfungspunkte für eine Strategie gegen Armut. Wir kennen sie aus den Medien: Erhöhung des Einkommens von Familien, Verbesserung der Bildungschancen aller und vor allem Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Allerdings sind dies nicht nur Aufgaben der "großen Politik". Im Kleinen kann der HVD die Parolen mit Leben erfüllen und durchaus einen Beitrag leisten. Und er tut dies vielerorts bereits: zum Beispiel durch die Zahlung tariflich vereinbarter, fairer Löhne, durch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und durch Bildungsangebote, die von der Kindheit an niemanden zurücklassen.

Dazu gehören

Die im Kern ökonomische Definition von Armut gibt zwar durchaus eine grobe Orientierung und ermöglicht Vergleiche, aber sie sagt über die tatsächlichen Lebenssituationen der Menschen zunächst nur wenig aus. Dafür müssen qualitative Kriterien der Lebensführung hinzukommen. Ein solches wichtiges Kriterium ist die Frage nach der, gesellschaftlichen Teilhabe: Ist die Integration in einen sozialen Kontext gegeben? Können Kulturangebote wahrgenommen werden? Kurz: Gehört man "dazu"? Hier ist schnell festzustellen, dass materielle Armut sehr oft - freilich aber nicht immer - auch zu sozialem Ausschluss führt.

Wie bedeutend auch dieses Kriterium für die Differenzierung sozioökonomischer Lebenslagen ist, zeigt der Vergleich mit Studierenden. Ihr Einkommen ist zwar regelmäßig in der Nähe der Armutsschwelle, doch wird kaum jemand sie tatsächlich als "arm" bezeichnen. Dies hat zum einen mit dem vorübergehenden Charakter der studentischen Lebensphase zu tun, zum anderen aber mit einer Lebenssituation, die wie kaum eine andere Möglichkeiten zur sozialen Inklusion bietet und eben nicht von einer Reduzierung sozialen und kulturellen Kapitals (Pierre Bourdieu) geprägt ist, sondern von dessen Vermehrung.

Der wirtschaftliche Aspekt der Armut ist für die vielen Betroffenen drückend und quälend. Er soll und darf nicht klein geredet werden. Aber von der Lebensführung her betrachtet, heißt arm sein mehr, als nur kein Geld zu haben. Innerhalb eines umfassenden, integrierten Ansatzes zur Armutsbekämpfung ist neben der Verbesserung der ökonomischen Situation auch die Sicherstellung und Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe ein wichtiges Ziel. Diese zu gewährleisten entspricht zugleich einem Kerngedanken der humanistischen Weltanschauung und ihres Menschenbildes.

Denn eine der tragenden Säulen dieses Menschenbildes ist die Selbstbestimmtheit des Menschen. Sie kann jedoch nur zum Tragen kommen, wenn das Individuum auch die Möglichkeit zur eigenen Entscheidung hat. Erst dann entsteht Selbstbestimmung. Dieser Gedanke hat unmittelbare Auswirkungen auf die "Philosophie" des Verbandes und seiner Angebote. Er führt im politischen Humanismus zum Beispiel zu klaren Positionen bei der Autonomie am Lebensende, und im praktischen Humanismus zum Angebot der Mithilfe bei der Abfassung einer Patientenverfügung.

Bloße Alimentierung ist unhumanistisch

Auch im Zusammenhang mit dem Thema Armut kann eine spezifisch humanistische Position entwickelt werden, wenn dabei Selbstbestimmtheit und Selbstbestimmung des Menschen zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht werden. Auch hier müssen politische Forderungen an der Vorstellung eines autonom und selbstverantwortlich handelnden Menschen ausgerichtet sein. Insofern ist der bloße Alimentierungsstaat "unhumanistisch", der aktivierende Sozialstaat mit der Präferenz der Hilfe zur Selbsthilfe dagegen "humanistisch"[2] - dies unter der Voraussetzung, dass ein Mindestmaß an ökonomischer Absicherung diese Selbsthilfe überhaupt ermöglicht. Die Perspektive des praktischen Humanismus in diesem Zusammenhang mag am Beispiel des Projektes "Schuldnercoach" des HVD-Nürnberg deutlich werden. Bei diesem Projekt helfen Ehrenamtliche dabei, eine Überschuldungssituation zu bewältigen und sie zu überwinden. Die Beratung ist offen nicht nur für diejenigen, die "unverschuldet in Not geraten" sind, sondern auch für jene, die sich durchaus selbst in diese Situation gebracht haben. Denn die Selbstbestimmtheit des Menschen bedeutet auch, am Ende negative Ergebnisse für sich selbst produzieren zu können - und zu dürfen, ohne dass andere den Zeigefinger heben. Dies gebietet der Respekt vor der Selbstbestimmtheit anderer. Ein grundlegendes Element dieses Coaching-Prozesses ist es daher, dass die Ratsuchenden erkennen, wie sie in diese Situation geraten sind und die Verantwortung dafür übernehmen. Darauf aufbauend können gemeinsam Lösungsstrategien erarbeitet und umgesetzt werden.

Zusammenfassend ist es Aufgabe humanistischer Sozialarbeit, engagiert und mit menschlicher Wärme zu helfen, aber auch den Menschen in seiner Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung wahrzunehmen und ihn dabei zu begleiten und zu unterstützen, seine Möglichkeiten zu erkennen und zu entwickeln. Das findet sich übrigens ebenfalls in den Grundsätzen humanistischer Bildungsarbeit wieder. Nicht nur aus einem unmittelbaren mitmenschlichen Impuls, auch aus der weltanschaulichen Perspektive heraus ist es unerträglich, wenn Kindern Bildungschancen verwehrt werden und sie so in der Entwicklung ihrer Selbstbestimmung beeinträchtigt und behindert werden.

Humanistische Sozialarbeit

Freilich wäre es naiv zu meinen, das könne gleichsam voraussetzungslos stattfinden. Der gesellschaftliche und politische Rahmen, in dem wir uns bewegen, ist zwar nicht unveränderbar, zunächst aber vorgegeben. Innerhalb des Möglichen allerdings an die Grenzen zu gehen und auch darauf hinzuwirken, sie zu weiten, kann von einer humanistischen Sozialarbeit mit Recht gefordert werden. Sie ist daher nolens volens immer auch politisch.

Diese humanistische Position unterscheidet sich übrigens durchaus von der christlichen. Dort kommt die Forderung nach "Barmherzigkeit" von außen und von oben, nämlich aus der angeblichen Ebenbildlichkeit mit einem göttlichen Wesen, das jenseitigen Lohn verspricht, und der Exegese biblischer Sentenzen. Hier dagegen finden die Begründungen ausschließlich aus dem Menschen und der Conditio humana selbst heraus statt. Das ist ein gravierender Unterschied und eine von der Wurzel her andere Perspektive. Für den weltlichen Humanismus entstehen Solidarität und Unterstützung auf Augenhöhe, und sie lassen sich nur im Diesseits der Gegenwart verwirklichen. Auch wenn die Ergebnisse nicht selten sehr ähnlich sein mögen, reicht es daher für den weltlichen Humanismus nicht aus, die christliche Sozialethik einfach zu säkularisieren, indem das Religiöse herausgestrichen wird. Wir müssen selber denken.

Diese Überlegungen sind nicht mehr als eine Skizze; vieles fehlt, manches ist sicher angreifbar. Vermutlich liegt es im Wesen einer so verstandenen humanistischen Sozialarbeit, dass sie nicht alle erreichen kann und manchmal auch scheitern muss.

Was zum Beispiel ist mit denen, die sich nicht selbst helfen können - oder wollen? Gibt es einen "humanistischen Zwang" zur Teilhabe und zur Aktivität?

Der weltliche Humanismus hat erst spät begonnen, sich mit gesellschaftlichen Phänomenen in einer weltanschaulichen Perspektive zu beschäftigen und eigene Positionen und Antworten zu entwickeln. Zwar wusste man zu diesem und jenem politisch etwas zu sagen, doch das Warum blieb oftmals unbestimmt. Nun machen es nicht nur die verbandliche Weiterentwicklung, sondern auch das Vorhandensein eigener Angebote erforderlich, verstärkt an der theoretischen Fundierung auch des praktischen Humanismus, wie ihn der HVD pflegt, zu arbeiten und zur gesellschaftlichen Sinndeutung einen eigenen, unverwechselbaren Beitrag zu leisten. Die Humanistischen Akademien können - und sollen - dazu wichtige Impulse geben.


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[1] Erwachsene und Kinder erhalten hierbei unterschiedliche Gewichtungsfaktoren. Der Haupteinkommensbezieher des Haushalts erhält das Gewicht 1,0, weitere Personen des Haushalts, die älter als 14 Jahre sind, den Gewichtungsfaktor 0,5 und Kinder bis zu 14 Jahren den Faktor 0,3. Dies wird in Relation zum gesamten Nettoeinkommen des Haushaltes gesetzt. Für eine fünfköpfige Mittelschichtsfamilie mit zwei voll erwerbstätigen Erwachsenen mit einem monatlichen Nettoeinkommen von je 2000 Euro und drei Kindern im Alter von 7, 10 und 15 Jahren ergibt sich also folgende Beispielrechnung: 2000 Euro + 2000 Euro + 462 Euro Kindergeld = 4462 Euro Haushaltsnettoeinkommen. Nun das Nettoäquivalenzeinkommen: (4462 Euro 1+1+0,3+0,3+0,5) = 1439,35 Euro. Für 2003 wurden folgende durchschnittliche monatliche Nettoäquivalenzeinkommen ermittelt: Deutschland gesamt: 1.564 Euro; alte Bundesländer: 1.624 Euro; neue Bundesländer: 1.335 Euro. Die Armutsrisikogrenzen/Armutsgrenzen lagen damit in Deutschland gesamt bei 938/782 Euro; alte Bundesländer: 974/812 Euro; neue Bundesländer: 801/661,50 Euro.
(Quelle: Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2004/2005)

[2] Ich vermute, dass hier Widerspruch aufkommt und freue mich auf eine Gegendarlegung. Die Diskussion wird uns weiterbringen.


Michael Bauer ist Geschäftsführer des HVD-Nürnberg und Vizepräsident der Humanistischen Akademie Bayern. Der von ihm zusammen mit Alexander Endreß herausgegebene Sammelband "Neue Armut, Unterschicht und Prekariat - Aspekte sozialer und ökonomischer Unterprivilegierung" mit Beiträgen u.a. von Christoph Butterwegge, Uta Meier-Gräwe, Armin Pfahl-Traughber, Horst Groschopp und Sebastian Braun erscheint Anfang 2008 als Band 3 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Bayern im Aschaffenburger Alibri-Verlag.


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 79/2007, S. 13-14
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"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. Oktober und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 12,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2007