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PORTRAIT/016: Hedwig Henrich-Wilhelmi - Unglaube ist der erste Schritt zur Lebensweisheit (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 87/2009 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Unglaube ist der erste Schritt zur Lebensweisheit

Von Elke Gensler


Hedwig Henrich-Wilhelmi - geboren 1833 in Mainz, gestorben 1910 in Wiesbaden. Dazwischen liegen 77 turbulente Jahre als Schriftstellerin, Dichterin, Freidenkerin, Frauenrechtlerin und Sozialistin. Zu ihrer Zeit keine unbekannte Autorin - werden ihre Dramen und Lustspiele doch auf diversen Bühnen aufgeführt.


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In ihren zahlreichen Schriften sowie in den spärlichen biografischen Notizen begegne ich einer klugen und engagierten Frau, die heute leider in Vergessenheit geraten ist. So sehr in Vergessenheit geraten, dass es keine neuere Literatur über sie gibt. Ich selber bin durch eine autobiografische Notiz in der Broschüre "frei denkend selbstbestimmt - 22 Portraits freigeistiger Frauen" (HVD Berlin 2007) auf sie aufmerksam geworden: darin ein Nachdruck aus den "Freidenker Biografien" aus dem Jahr 1922, gesammelt von dem linken Sozialdemokraten und Freidenker Konrad Beißwanger.

Mich interessiert weniger ihre literarische Bedeutung als vielmehr ihr freigeistiges Engagement, das sie bis in die USA gebracht hat. Hier war sie eine hoch gelobte Rednerin; sie publizierte im deutsch-amerikanischen "Freidenker" und ihre Vorträge wurden in einer Sammlung im Jahr 1889 in Milwaukee/Wisconsin veröffentlicht.


Erste Jahre

Ihr Vater, der Arzt Dr. Henrich, ist zwar ein Freigeist, dennoch lässt er die Tochter im katholischen Mainz in diesem Glauben erziehen. Sie wird später von einer sehr "frommen Kindheit" sprechen. Die Mutter Albertine Henrich, Tochter eines protestantischen Pfarrers, schriftstellert unter dem Pseudonym Paul Stein. Sie schreibt historische Romane über Johannes Gutenberg und über den letzten "Churfürst von Mainz".

Hedwig Henrich verfasst schon in ihrer Jugend Dramen und Lustspiele. Ihr erstes dramatisches Werk "Virginia" wird zuerst in Mainz, später auf anderen Bühnen mit Erfolg aufgeführt. In ihrer Heimatstadt wird sie bald "zu der bekanntesten und aufgesuchtesten Persönlichkeit" (Pataky, S.335). Mit 20 Jahren heiratet sie den Kaufmann, Fabrikanten und späteren Konsul Ferdinand Wilhelmi und zieht mit ihm ins pfälzische Schriesheim. Nach wirtschaftlichem Misserfolg zieht das Ehepaar nach Spanien. In der andalusischen Hauptstadt Granada erwirbt Ferdinand Wilhelmi eine neue Existenz. Die beiden Kinder Berta und Louis werden von Hedwig Henrich-Wilhelmi anfangs selber erzogen, später wird ein deutscher Hauslehrer angestellt. Die Wilhelmis unterhalten ein offenes Haus: In ihren Salon lädt Hedwig Henrich-Wilhemi spanische Dichter und Gelehrte ein. Sie übersetzt spanische Autoren ins Deutsche.


Wegweisende Bekanntschaften

Aus unbekannten Gründen verlässt sie 1866 Spanien und zieht nach Stuttgart, wo sie den Freidenker, Sozialisten und Schriftsteller Dr. Albert Dulk (1819-1884) trifft. Dulk erlebte bei der Gründungsversammlung der Deutsch-katholischen Gemeinde Leipzig sowohl Johannes Ronge als auch Robert Blum. Neben Blum hält er bei der Bestattung der Opfer der Leipziger Volkskrawalle eine Rede, wird deswegen 1846 ausgewiesen, verbringt ein turbulentes Leben mit mehreren Frauen, stellt sich für die SPD als Reichstagskandidat zur Verfügung, wird 1878 wegen Volksverhetzung und Gotteslästerung verhaftet und gilt fortan bei den Sozialdemokraten als Märtyrer. 1882 gründet er in Stuttgart die erste deutsche Freidenkergemeinde.

Albert Dulk macht Hedwig Henrich-Wilhelmi mit Freidenkern bekannt und sie taucht ein in einen Kreis freisinniger und demokratischer Schwaben. Zu diesen zählen der Schriftsteller, Journalist und Revolutionär Ludwig Pfau (1821-1894) und der Publizist und Schriftsteller Hermann Kurz (1813-1873).

Nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870/71 geht Henrich-Wilhelmi nach Genf, wo sie den Republikaner Johann Philipp Becker (1809-1886) trifft. Der Pfälzer wurde bereits 1830 politisch aktiv, hielt eine radikale Rede beim "Hambacher Fest", nahm am badischen Aufstand teil und ging nach Niederschlagung der 1848/49er Revolution in die Schweiz, wo er sich sozialistischen Ideen annäherte. So kam er in Kontakt mit Marx und Engels, mit denen sich eine Freundschaft entwickelte. Er war führendes Mitglied der 1. Internationale (1865) und Teilnehmer des Gründungskongresses der SPD in Eisenach.

All diese Bekanntschaften machen aus Henrich-Wilhelmi eine Anhängerin sozialpolitischen Engagements. Ihr Leben ändert sich radikal: die bürgerliche "Frau Konsul" interessiert sich für die soziale Frage, für den wissenschaftlichen Materialismus, stellt Fragen an Religion und herrschende Moral. Sie entdeckt die Notlage der Arbeiterinnen und setzt sich mutig für die Gleichberechtigung der Frau ein. Sie begrüßt die gerade entstehende Frauenbewegung mit den Worten: "Ebenso dürfen und müssen wir auch die Frauenbewegung unserer Tage als Vorbote einer im Sturme heranbrausenden neuen Zeit begrüßen - einer Zeit, in welcher der Unterschied der Geschlechter für die Beteiligung am Staats- und Gemeindeleben ein ebenso emphemer sein wird, wie dies heute zwischen Schwarzen und Weißen, Juden und Christen der Fall ist." (Vortragssammlung, S. 107)


Vortragstätigkeit, Kritik und Inhaftierung

Es war wohl vor allem Albert Dulk, der sie ermutigte, ihr rednerisches Talent zu nutzen, um über Freidenkertum und Frauenemanzipation aufzuklären. Zunächst tritt sie vor Freidenkervereinen auf, später wird sie auch von Arbeitervereinen als Rednerin eingeladen. Ihre Vortragstätigkeit führt sie bis nach Amerika, wo sie innerhalb kurzer Zeit eine bekannte und beliebte Rednerin ist, eine "geistreiche und hochbegabte Dolmetscherin der neuen Weltanschauung" wie es im Vorwort ihrer Vortragssammlung heißt. Wieder zurück in Deutschland, wird sie mit dem Sozialistengesetz konfrontiert. Dennoch tritt sie in überfüllten Sälen auf. Die Zuhörer strömen zu ihren Veranstaltungen. In Berlin legt ihr Adolf Stöcker Steine in den Weg. Der Hofprediger des Kaisers am Berliner Dom machte den Antisemitismus populär und versuchte, das bestehende Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Arbeiterschaft zu zerstören. Henrich-Wilhelmi greift er als "Predigerin des Unglaubens" an und macht ihr besonders zum Vorwurf, dass sie Frauen aufhetze, "Religion, Kirche und den lieben Gott zu schmähen". Schließlich erreicht er, dass Henrich-Wilhelmi nicht weiter in Berlin auftreten kann.

Erneut in den USA hat sie leider Pech und bricht sich den Fuß. Durch eine missglückte Operation hat sie von nun an lebenslang orthopädische Probleme. Trotzdem setzt sie ihre Vortragstätigkeit fort, bereist Deutschland, Österreich und die Schweiz - weiterhin kritisch beäugt von Geistlichkeit und Polizei.

Die freidenkerische Zeitschrift "Menschenthum - Sonntagsblatt für Freidenker" wirbt 1886 für ihre Vorträge im Rheinland, Thüringen, Sachsen und Preußen. Das Spektrum ihrer Vorträge reicht von naturwissenschaftlichen, pädagogischen, sozialen, philosophischen bis hin zu historischen Themen. Sie redet als Frauenrechtlerin, Freidenkerin und Sozialistin. Im gemäßigten Freidenkerorgan "Menschenthum" allerdings begegnet man ihren sozialdemokratisch gefärbten Forderungen zurückhaltend. In der Ausgabe Nr.36/1889 etwa belehrt die Zeitschrift die Rednerin, die gerade einen Vortrag über "Die Verhältnisse des Freidenkerthums zur sozialen Frage" in Mannheim gehalten hat: "Mit Recht wies die Rednerin darauf hin, dass das Freidenkerthum sich freundlich zu den Bestrebungen der Arbeiter stellen müsse, sich ein menschenwürdigeres Dasein zu schaffen. Aber die Lösung der sozialen Frage kann nicht durch die Schlagworte einer bestimmten politischen Partei erfolgen, sondern muss durch alle Parteien bewerkstelligt werden, die es wohl mit ihren minder begüterten Mitmenschen meinen. Die soziale Frage ist - das mag sich die geschätzte Rednerin ein für alle Mal gesagt sein lassen - keine Partei- sondern eine Kulturfrage."

Henrich-Wilhelmis Grundgedanke ist jeweils das Beharren auf der Vernunft als Grundlage der Humanität. In ihrer Religionskritik macht sie sich ein Wort Diderots zu eigen ("Unglaube ist der erste Schritt zur Lebensweisheit") und gerät prompt in Konflikt mit dem Strafgesetzbuch. Aufgrund des berüchtigten Paragraphen 166 ("Gotteslästerungsparagraf") wird sie zunächst wie ein Schwerverbrecher per Steckbrief gesucht, um dann in einem Münchner Restaurant vom Platz weg verhaftet zu werden. Allerdings wird sie schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. In weiteren deutschen Städten enden die Prozesse ebenfalls mit Freispruch. In Hagen allerdings wird sie zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, ohne dass man sie drängt, die Strafe anzutreten. In einem Vortrag "Der Begriff der Gotteslästerung", gehalten in der Freireligiösen Gemeinde Berlin am 8. März 1891, erklärt sie die Umstände der Verurteilung und übergibt die Akte der Öffentlichkeit. Erst einige Monate später tritt sie die Strafe an und geht in das Gefängnis.

Kurz nach dem Gefängnisaufenthalt in Hechingen - sie konnte sich den Ort selbst aussuchen - nimmt sie ihre Vortragstätigkeit wieder auf. Als begehrte Rednerin mietet ihr der Freidenkerverein Köln den berühmten Gürzenichsaal. 5000 Karten sind bereits verkauft, als die Stadtväter es mit der Angst zu tun bekommen: Unter dem Vorwand, es handele sich um eine sozialdemokratische Versammlung, wird den Freidenkern der Saal gekündigt, so dass der Vortrag nicht stattfinden kann.


Letzte Jahre

Allmählich wird das Reisen für sie beschwerlich. Sie lehnt auch das Angebot ab, ganz nach Amerika zu ziehen. Stattdessen lässt sie sich in Untertürkheim bei Else Dulk nieder. Sie widmet sich zunehmend ihrer Korrespondenz und nimmt wieder ihre schriftstellerische Arbeit auf. Es klingt nach Resignation wenn sie bemerkt "Zwar setzte ich, trotz vieler Mühen und Beschwerden, meine Agitationstätigkeit noch mehrere Jahre fort. Doch sie griff mich immer mehr an, und die Freude daran erlahmte. Das viele, oft anstrengende und hastige Reisen, die häufig recht späten nächtlichen Versammlungen, die endlosen polizeilichen Widerwärtigkeiten und Chikanen und - last not least - das Schwinden der Illusion, durch alle diese schon gebrachten Opfer und aufgewendeten Mühen etwas Erhebliches bewirkt, erreicht zu haben, ließ mich schließlich die Flinte ins Korn werfen mit der dringenden Mahnung, dass eine jüngere, stärkere Kraft sie dort aufheben und mutig, wie ich es getan, weiter führen möge." (Beißwanger, S. 18)

Die letzten Lebensjahre verbringt sie in Wiesbaden. Trotz einer sich ankündigenden schweren Krankheit, die auch ihre geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt, hält sie hin und wieder Vorträge. Sie stirbt 77-jährig am 8. Februar 1910 in Wiesbaden. Ein amerikanischer Freidenker widmet ihr in dem in Milwaukee erscheinenden "Freidenker" einen poetischen Nachruf, der ihr Leben und Wollen spiegelt:


Der Frau, der nicht Kerker und Bande
Den Geist, den freien, erdrückt,
Die stolz von Lande zu Lande
Das Wort, ihr Schwert, hat gezückt;
Das Wort, das den Menschen verkündet
Die erkenntnisgeborene Tat:
"Wenn alle die Völker, verbündet,
Einträchtig tagen im Rat.
Wenn Dummheit und Aberglaube,
Wenn Herrschsucht und Niedertracht
Besiegt sich winden im Staube
Der Himmel auf Erden lacht!
Wenn frei von Vorurteilsketten
Das Glück durchwandelt die Welt,
Und Mann und Weib nicht mehr betten
Die Lieb' mit dem schmutzigen Geld!
Wenn freundliche Nachsicht richtet
Des Nebenmenschen Schuld
Und, statt dem Hasse, errichtet
Den Altar mit liebreicher Huld!
Drum breitet mein Lied die Schwingen
Und hebt sich empor zum Blau:
Ein Memoriam will es bringen
Der besten und edelsten Frau!
Der Frau, die Tyrannen und Knechte
Wohl schlugen in Bann und Acht,
Weil feurig für Menschenrechte
Die Herzen sie rings entfacht.
Der Frau, der nicht Siechtum und Schmerzen
Den stolzen Willen gebeugt,
Und die mit liebreichem Herzen
Des Geistes Kinder gezeugt! -



Zum Weiterlesen:

• Pataky, Sophie: Lexikon deutscher Frauen der Feder, Berlin 1898
• Gerling, Friedrich Wilhelm: Leben und Wirken der Frau Hedwig Henrich-Wilhelmi, München 1910
• Vorträge von Hedwig Henrich-Wilhelmi - gehalten in Amerika in den Jahren 1887-1889, Milwaukee 1889


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 87 2/2009, S. 28-31
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2009