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STANDPUNKT/173: Das gute Leben - ein Weg zum Glück (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 80/2007
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Profil
Das gute Leben - ein religionsfreier Weg zum Glück
Im Gespräch mit Heiko Ernst, Chefredakteur von "Psychologie Heute"

Mit Heiko Ernst sprach Ulrich Tünsmeyer, Bildungsreferent beim HVD Berlin.


DIESSEITS: Sie haben ein Buch über das "gute Leben" geschrieben. Was fehlt uns zu unserem Glück?

HEIKO ERNST: Ich versuche in meiner Zeitschrift das Ideal der Aufklärung hochzuhalten. Dabei kommt man sich manchmal schon ein wenig seltsam vor, denn der Trend geht stark wieder zum Obskurantismus, auch zum Okkultismus in all seinen Erscheinungsformen. Natürlich ist uns bei unserer Arbeit auch die Dialektik der Aufklärung sehr bewusst, trotzdem muss man heute mehr denn je aufklären. In der Fülle von Informationen und Wertesystemen finden sich die Menschen immer weniger zurecht. Wer es sich einfach machen will, besorgt sich ein Sinnsystem von der Stange und versucht danach zu leben. Viele suchen sich heute aus unterschiedlichen Traditionen oder Religionen zusammen, was an Versatzstücken geeignet scheint. Denken Sie an den Zulauf, den der Dalai Lama in Hamburg erfährt. Der Buddhismus als Importreligion ist heute attraktiv, weil er weniger dogmatisch, weniger missionarisch und weniger aggressiv ist als andere Religionen.

Auch wenn die Wissenschaft die letzten Fragen nicht klären kann, stellt sie uns immerhin ein Instrument zur Verfügung, mit dem wir uns über uns selbst besser vergewissern können. Sie zeigt uns, wo unsere Möglichkeiten sind. Meine Wissenschaft, die Psychologie, hat dabei eine besondere Aufgabe. Freud hat die große Selbsttäuschung des Menschen über seine Rationalität aufgedeckt und die Mechanismen freigelegt, wie und warum das geschieht. Über sich selbst ein realistisches Bild zu haben, aus der psychologischen Unmündigkeit herauszukommen, das wäre schon eine gute Voraussetzung für gelungenes Leben.

DIESSEITS: Klingt so, als wäre das noch nicht alles?

HEIKO ERNST: Lange Zeit war die Psychologie zu sehr dar auf bedacht, zumal die Humanistische Psychologie, die Selbstentfaltung zu propagieren. Selbstverständlich ist das wichtig, aber das kann schnell zu einem gut kaschierten Egoismus führen. Doch wir sind soziale Wesen, wir brauchen andere Menschen. Unser Gehirn ist ein soziales Organ, es ist auf die Stimulation durch andere angewiesen. Diese soziale Komponente kommt in der Konkurrenzgesellschaft viel zu kurz, jedenfalls in Schulen und in der Arbeitswelt. Das ist eine Abkehr von Erkenntnissen, die deutlich darauf hinweisen, dass wir am glücklichsten sind, wenn wir im Einklang mit anderen leben, wenn wir Anerkennung und Respekt durch andere erfahren, wenn wir lieben können. Denken wir an Freuds Definition von geistiger Gesundheit: Lieben und arbeiten zu können. Zwischen diesen beiden Säulen, Selbstverwirklichung in der Arbeit, Zugewandtheit in der Liebe, eine Balance herzustellen, das ist die Grundlage guten menschlichen Lebens. Wenn wir lieben und arbeiten können, können wir uns auch besser gegen die Zumutungen des Lebens wehren.

DIESSEITS: Sei es von religiöser oder esoterischer Seite, ein Vorwurf kommt immer wieder: Die Zutaten an sich sind richtig, Wissenschaft schön und gut, aber es fehlt die Orientierung am Höheren, am Transzendenten, es fehlt die Spiritualität.

HEIKO ERNST: Transzendenz heißt ja auch erst einmal, das eigene Ich zu transzendieren. Das kann auch im Zusammenleben mit anderen geschehen, wenn wir merken, dass das Ich noch nicht die Grenze des Ganzen sein muss. Der Gemeinschaftsgeist kann natürlich sehr leicht missbraucht werden. Die Flucht in die Wärme einer Gesinnungsgemeinschaft ist eine beliebte Entlastungsstrategie, um der Komplexität heutigen Lebens zu entgehen. Es ist wahnsinnig anstrengend, immer rational zu denken, die Welt mit Abstand zu betrachten, sich wieder und wieder die Mühe zu machen, zu hinterfragen und nicht gleich zu glauben. Um dieser Anstrengung zu entgehen, flüchten so viele, auch intelligente Menschen, in Sinnsysteme, die ihnen all das etwas vereinfachen, die Antworten und Lebenspraktisches bereit halten. Das funktioniert auch nebeneinander. Es gibt Menschen, die grundsätzlich rational leben, die sich aber auch Rückzugszonen gönnen, in denen sie sich gestatten, mal nicht so genau nachzufragen, den Zweifel und die ewig bohrende Vernunft auszuschalten. Es ist doch auch mal schön, sich an ein Ritual zu verlieren. Wir brauchen als Menschen offenbar auch dieses irrationale Element, die Flucht in den Rausch, in die Ekstase, manchmal wollen wir buchstäblich außer uns sein. Als Ausflüge auf Zeit hat das seine Berechtigung. Es wird dann bedenklich, wenn das eigene Denken dauerhaft durch solche Systeme ersetzt wird.

DIESSEITS: Lässt sich das Religionen vorwerfen?

HEIKO ERNST: Nein, das wäre zu global, die Realität ist anders. Religiöse Menschen sind nicht per se irrational, darunter gibt es ebenso mündige und klar denkende Menschen. Umgekehrt ist nicht jeder Areligiöse unbedingt ein Ausbund an Rationalität oder an Humanität. Maßstab ist immer, inwieweit eine Religion totalitär von einem Menschen Besitz ergreift, wie sehr sie sein Denken korrumpieren kann.

Dem Islamismus kann man das schon vorwerfen, er ist intolerant und steht für inhumane Ziele.

Unsere Kirchen in Europa beschwören heute ja die Koexistenz von Vernunft und Glauben. Der jetzige Papst tut sich da besonders hervor. Er sieht im Glauben eine Vollendung der Vernunft. Nun bin ich kein Theologe und kenne die Feinheiten der Argumentation nicht. Aber ich denke, dass der Absolutheitsanspruch seiner Interpretation schon ausreicht, um diesen Gedanken zu widerlegen. Seine neueste Botschaft, dass es außerhalb der katholischen Kirche nun doch kein Heil gibt, dass andere Kirchen weniger wert sind, ist der Versuch, der Konkurrenz mit Profilschärfung zu begegnen. Man setzt wieder auf Abgrenzung. Aber als Nichtgläubiger kann ich da doch ganz gelassen bleiben, was gehen mich die Machtspielchen der Deutungshoheit an

DIESSEITS: Einige bleiben ganz und gar nicht gelassen. Die Neuen Atheisten, auch Brights genannt, besinnen sich ganz bewusst auf alte Freidenkertraditionen, auf den Kampf gegen Religionen. Sie machen religiöse Dogmen verantwortlich für unmenschliches Leben und verrückte Wahntaten.

HEIKO ERNST: Auch für Seelenverkrüppelung! Die Psychotherapeuten Eugen Drewermann und Tilmann Moser haben ja mit der "Gottesvergiftung" und ähnlichen psychischen Schäden abgerechnet, die eine sehr rigorose Moral in der katholischen Kirche angerichtet hat. Man muss gar nicht immer gleich an Kreuzzüge und Hexenverfolgung denken, der Glaube richtet mitunter auch im Alltag in der Psyche der Menschen großen Schaden an.

DIESSEITS: Obwohl ja Kriege oft auch religiös begründet werden.

HEIKO ERNST: Es heißt dann ja oft, sie wären nur religiös verbrämt, in Wirklichkeit gehe es ja um ganz andere Dinge. Aber es ist in vielen Fällen genau das religiöse Wahnsystem, das Kriege oder Terror anzettelt. Der Islamismus verleitet junge Männer dazu, ihr Leben wegzuwerfen, Ungläubige dabei mitzunehmen - und da warten dann 72 Jungfrauen.

Es ist begrüßenswert, dass es jetzt eine atheistische Offensive gibt. Die ist wohl dringend notwendig. Es verwundert nicht, dass diese Brights aus den USA kommen, wo ein Präsident religionsgeleitet Kriege anzettelt. Und wo Kreationismus in den Schulen gelehrt werden soll. Es stellt sich nur die Frage, was man damit erreicht. Um ein Bild zu gebrauchen, das auf Atheisten zwar nicht passt: Ob sie nicht nur den Bekehrten predigen? Werden diese atheistischen Manifeste nicht eher von Menschen gelesen, die sich ohnehin vom Glauben abgewendet haben? Was Dawkins, Hitchens und die anderen sagen, ist schließlich starker Tobak. Aber ihrer Argumentation kann man sich schwer entziehen. Das merkt man auch daran, dass die Gegenangriffe fast immer auf die Person zielen. Da werden dann dem Dawkins persönliche Macken vorgeworfen, die Sachargumente sind eher dünn. Dann wird behauptet, die Neuen Atheisten seien ja genauso dogmatisch wie die, die sie angreifen, also verblendet und intolerant. Ich hoffe auf starke Verbreitung dieser Titel, ich hoffe, dass der Zweifel an den Religionen gesät wird, dass endlich wieder eine Diskussion in Gang kommt über ihren Wert. Gut wäre auch, wenn das in unsere Schulen Einzug hält. Schlimm genug, dass auch bei uns über Schöpfungsgeschichte im Biologieunterricht spekuliert wird. Das darf nicht passieren! Da kann man gar nicht genug argumentieren und den Unterschied von Wissenschaft und Religion betonen.

DIESSEITS: Können denn die Brights neben aller wissenschaftlichen Aufklärung und offensiven Argumentation auch moralische Orientierung bieten?

HEIKO ERNST: Es gibt eine reiche Tradition, die uns eigentlich genug Grundlage sein kann, um heute ein moralisches Leben zu führen - ganz ohne Religion. Die fängt in der Antike an, bei Platon, Aristoteles, Epikur, Marc Aurel, geht weiter bis zu den Aufklärern, bis zu Kant und Freud. Die haben alle ausreichend vor-gedacht, wie wir ein gerechtes, moralisches, humanes Leben führen können. Wenn sich die Religion als ergänzendes Element betrachten würde, sagen wir mal zuständig für das, was wir nicht wissen können, Trost der Trostbedürftigen, Unterstützung der Armen, praktizierte Nächstenliebe, dann hätte sie ihre Daseinsberechtigung.

Beachtlich ist nämlich schon, was das Neue Testament beigesteuert hat, vor allem die Idee der Feindesliebe und der Vergebung. Das war schon ein großer Paradigmenwechsel, der manchmal auch vorgelebt wurde. Dass der Gedanke dann im Christentum so wenig durchgehalten wurde, ist nur menschlich. Auch Philosophen haben ja nicht immer gemäß ihren eigenen Maximen gelebt. Für mich enthält das Neue Testament somit akzeptable Gedanken, die gleichberechtigt - aber eben nur gleichberechtigt - neben den anderen großen Ideen stehen. Sie gehören zu unserer abendländischen Tradition, und sie lassen sich gut vereinbaren mit anderen philosophischen, mit wissenschaftlichen Systemen.

DIESSEITS: Das haben Sie ja auch gezeigt, als Sie aus atheistischer Sicht einen Teil des katholischen Wertesystems analysierten. Ich spiele auf Ihr Buch "Die sieben Todsünden" an. Es erfragt, was diese über tausend Jahre alten Bilder für unsere Gesellschaft, für unsere moderne Selbstfindung bedeuten können.

HEIKO ERNST: Die sieben Todsünden sind zwar in der Zusammenstellung und in der Namensfindung eine Erfindung der frühen Mönche, damit ein kirchliche Erfindung. Auf die Sünden selbst hat die Kirche kein Copyright. Die Regeln sind entstanden aus dem großen sozialpsychologischen Experiment der Mönchsgemeinschaften, die durch Selbstbeobachtung herausgefunden haben, welche menschlichen Eigenschaften geistiger Disziplin und einem Gemeinschaftsleben am meisten entgegenstehen. Dabei greifen sie auf antike Traditionen zurück. So gibt es schon bei Aristoteles die Lehre von den mäßigen und unmäßigen Emotionen und von den Tugenden. Er favorisiert die mittlere Gefühlslage als Tugend: Alles in Maßen, nicht zuviel, nicht zuwenig. Hinzu kommt die anthropologische Sicht der Dinge. "Sünden" sind biologisch angelegte Eigenschaften des Menschen, manche sind in der sozialen Evolution entstanden, wie zum Beispiel der Neid. Die Todsünden des Leibes sind biologisch verankerte Konstanten, die in bestimmten Lebenskontexten besonders hinderlich sind. Hat man das Keuschheitsgelübde abgelegt, ist der Sexualtrieb nicht willkommen. Das eigentlich Interessante ist das Spiel mit dem Mehr oder Weniger, wie viel lasse ich zu, was unterdrücke ich. Im Laufe der Zeit hat die Frage, welches die schlimmste Todsünde sei, viel Streit heraufbeschworen. Mal war es der Stolz, weil er sich gegen Gott erhebt, mal wurde die Völlerei als Einfallstor für alle anderen Gefahren des menschlichen Lebens gebrandmarkt. Nach dem Motto, wer beim Essen nicht maßhalten kann, ist auch für alles andere verloren. Diese manchmal haarspalterischen, manchmal sehr klugen Begründungen haben mich fasziniert. Und die Sünden reichen jenseits der Kirche bis in die Gesellschaftstheorie hinein, Geiz und Stolz und Zorn sind in der Moderne wichtige Themen der Psychologie, Psychiatrie oder Soziologie. Und auch in der Justiz spielt die Frage eine Rolle: Was ist ab wann strafbar, wofür können wir etwas, was ist dem freien Willen unterworfen, was nicht?

DIESSEITS: Und sie spielen eine Rolle in den Medien, denken wir an Filme wie "Sieben"!

HEIKO ERNST: Richtig. Ich habe die Todsünden in meinem Buch ja auch als Primärfarben der menschlichen Seele bezeichnet, die Farben, mit denen der Mensch sich selber malt. Sie bilden den Kern unseres Wesens, er wird immer berührt, wenn wir von Gier oder Neid oder Zorn sprechen. Das sind archaische Impulse, die wir alle kennen. Jeder war schon mal habgierig oder neidisch oder zornig. Und wir wissen auch, welche Extremformen das annehmen kann. Die große Weltliteratur greift sich gelegentlich so eine Todsünde heraus und macht sie zur zentralen Emotion. Denken wir an Othello und Lagos tödlichen Neid auf ihn, denken Sie an Michael Kohlhaas, der sich selbst vernichtet, nur um seinen Zorn ausleben zu können. Diese Figuren sind faszinierend für uns, und in Filmen wie "Sieben" fasziniert uns der Aspekt der Strafe. Dort wird jemand umgebracht in einer Form, die dem Laster angemessen ist. Die Strafe erfolgt sozusagen spiegelbildlich, wie es auch bei Dante schon in den Höllenstrafen beschrieben war. Alles in allem kann das religiöse Raster der sieben Todsünden als eine sehr irdische, kritische Prüfinstanz des Zeitgeistes dienen. Hölle und jüngstes Gericht muss man nicht hineinlegen.


Zum Weiterlesen:
Die im Interview angesprochenen Bücher von Heiko Ernst "Das gute Leben. Der ehrliche Weg zum Glück" und "Wie uns der Teufel uns reitet. Von der Aktualität der 7 Todsünden" erschienen beide bei Ullstein.


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Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 80/2007, S. 28-31
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. Oktober und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 12,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2007