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STANDPUNKT/183: Leben und Tod sind Geschwister (diesseits)


diesseits 3. Quartal, Nr. 92/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Leben und Tod sind Geschwister
Gedanken eines alten Mannes und einiger anderer Herren über das Sterben

Von Ralf Bachmann


Leben und Tod sind Geschwister, die sich nicht ängstlich meiden sollten, schrieb Theodor Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" fast beiläufig. Wenn er damit recht hat, wird diesen Geschwistern gegenüber das Gleichheitsgebot der Verfassung grob verletzt. Das Leben wird gehätschelt und gepflegt, der Tod gehasst und verdrängt, wann immer es möglich ist.


Warum sind Volkstrauer- und Totengedenktage ausnahmslos auf den Spätherbst gelegt worden? Die Antwort ist einfach. Vorher haben wir dafür keine Zeit. Im Frühling, wenn alles grünt und blüht, mag keiner an Sterben denken. Im warmen Sommer freuen wir uns am Werden und Wachsen der Früchte und ärgern uns über das, was abstirbt und welkt. Im Herbst warten wir ungeduldig auf die Ernte. Selbst der Oktober erscheint uns noch golden. Erst im November, wenn die Tage trüber werden und der Wind von den Bäumen das Laub reißt, bekommt der Tod in unseren Gedanken einen Platz, und der ist trist. Der Tod, will Fontane aber sagen, gehört so selbstverständlich zu unserer Existenz wie die Geburt, das Ziel zum Lauf wie der Start, der Schlusspunkt zum Satz wie der Anfangsbuchstabe.

Wer glaubt, das Sterben sei nur ein Komma, hinter dem der Hauptsatz erst beginnt, mag auf den Himmel hoffen, den Heinrich Heine den Engeln und den Spatzen überlässt. Hat es schwerer, wer nicht vom Jenseits träumt? Nein, im Gegenteil, meint der Schweizer Nationaldichter Gottfried Keller, nachdem er sich "das Trugbild der Unsterblichkeit" aus dem Sinne geschlagen hatte. Da er "keine Aussicht habe, das Versäumte in irgendeinem Winkel der Welt nachzuholen", erscheine ihm die Welt unendlich schöner und tiefer, das Leben wertvoller und intensiver und der Tod ernster und verpflichtender. Poetisch formuliert Keller das in einem seiner schönsten Gedichte:

"Ich fahre auf dem klaren Strome,
er rinnt mir kühlend durch die Hand.
Ich schau hinauf zum blauen Dome
und such - kein bessres Vaterland."

Der Tod ist ein Gleichmacher, ihm kann keiner entgehen. Der Papst und der Atheist, die Königin und der Lakai, der Ölmagnat und die Hure, der Feldmarschall und der brave Soldat Schwejk - sie alle müssen früher oder später sterben, egal ob sie den Tod ersehnen oder verlachen, ob sie ihn weinend befürchten oder gleichmütig erwarten. Die Frist, die man fürs Dasein hat, kann lang oder kurz sein, sie bleibt immer endlich. Wer das Leben verlängern will, muss wissen: Nicht auf die Zahl der verbleibenden Tage kommt es an, sondern darauf, wie sinnvoll man sie nutzt. Am besten hat das Wilhelm Busch bildhaft gemacht.

"Es sitzt ein Vogel auf dem Leim.
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frisst,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor."

Wenn das Sterben schon unumgänglich ist, muss man mit ihm umgehen lernen. Wohl dem, dessen Verhältnis zum Tod so unverkrampft ist wie bei Woody Allen, von dem der Satz stammt: "Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte nur nicht dabei sein, wenn es geschieht." Oder beim Tischler in Ferdinand Raimunds viel gesungenem Hobellied, der sich taub stellen will, wenn der Tod ihn "zupft", aber seinen Hobel hinzulegen und der Welt Ade zu sagen bereit ist, sagt jener freundlich zu ihm: "Lieber Valentin, mach keine Umständ', geh."

Die Klassiker meinten augenscheinlich, der Tod verliere viel von seinem Schrecken, wenn sich ganz menschlich und auf gleicher Augenhöhe mit ihm verhandeln lässt. In einem Gedicht von Lessing will der Tod einen Weintrinker holen, akzeptiert aber das Versprechen seines Opfers, Mediziner zu werden und ihm die Hälfte seiner Kranken zu überlassen:

"Gut, wenn das ist, magst du leben.
Nur sei mir ergeben!
Lebe, bis du satt geküsst
Und des Trinkens müde bist."

Bei Ludwig Gleim ruft ein Greis von 88 Jahren, der ein großes Bündel Reisig nicht mehr zu schleppen vermag und es vor Mattigkeit absetzt, den Tod herbei. Der kommt postwendend und fragt den Alten, ob er ihn für immer von seiner schweren Last befreien soll.

"Ach, lieber Tod", versetzt darauf
der arme Greis, "hilf sie mir auf!"

Das Personifizieren des Todes ist in der Literatur häufig und geht auf den alten Volksglauben vom Tod als einem Knochenmann mit Hippe zurück, der sich in vielen Redensarten und Wendungen bis heute erhalten hat: mit dem Tode ringen, der Tod hat angeklopft, den Tod vor Augen sehen, amerikanisch: to shake hands with death. Die Sprache wimmelt überhaupt von Bildern mit dem Tod. Einer sieht aus wie der leibhaftige Tod, der andere ist tausend Tode gestorben, dem Dritten nahm der Tod die Feder aus der Hand. Auch zu Superlativen kommt man mit seiner Hilfe. Die meisten, die sich totgelacht haben, leben noch heute. Wenn es im Saale totenstill wurde, folgt todsicher bald stürmischer Beifall, es sei denn, das Publikum ist todmüde.

Aber Vorsicht: Todschick hat mit dem Sensenmann nichts zu tun, es stammt vom französischen tout chic ab. Und todsicher verwirrte mich in der Schule. An der Uhr des Leipziger Neuen Rathauses steht der lateinische Spruch: Mors certa, hora incerta. Was heißt das, testete mich der Pauker mit einem alten Lateinlehrerkalauer: Der Tod ist gewiss, die Stunde ungewiss oder Todsicher geht die Uhr falsch. Er war vielleicht überzeugt, dass ich als Antwort wissend lache. Doch ich wurde nur stutzig. Eigentlich stimmt beides, sagte ich zögernd. Da stutzte wiederum er.

Im 90. Psalm befasst sich Moses, der Gottesknecht, gemäß der Lutherschen Bibelübersetzung unter anderem mit der durchschnittlichen Lebenserwartung des Menschen: "Unser Leben währet 70, wenn es hoch kommt 80 Jahre, und wenn es köstlich war, so ist es Mühe und Arbeit gewesen." Geht man vom Alter anderer biblischer Gestalten aus, man denke nur an Methusalem mit seinen 969 Lenzen und an die (zugegebenermaßen mit göttlicher Hilfe erfolgte) Nachwuchszeugung bei Abraham (99) und Sara (96), ist das für damals eher zu niedrig angesetzt. Und heute kann man bekanntlich mit 80 noch Bundeskanzler sein und mit 106 gar auf der Bühne singen. Dennoch: Wer 80 erreicht hat, muss schon an argem Realitätsschwund leiden, wenn er nicht wahrhaben will, dass am nahen Ende des Tunnels kein Licht mehr ist. Darüber zu jammern ist sinnlos und dumm. Vor der großen Abreise muss man frohen Mutes die nötigen Koffer packen und sein Haus bestellen, so gut es geht. Stellt sich heraus, dass man diese Arbeit zu früh angepackt hat - umso besser, dann kann man geschenkte Tage, Monate oder Jahre unbeschwert genießen.

Zugegeben, ich habe um der positiven Aussage willen manches physische und psychische Wehwehchen der lebensfrohen, aber schmerzgeplagten Altrentner unserer Tage unterschlagen, obwohl die zu ihren Lieblingsthemen zählen. Aber vielleicht wird ja eines Tages am Himmelsthron über den Verbesserungsvorschlag nachgedacht, den der Chansonnier Otto Reutter schon vor 85 Jahren für den Ablauf des Lebens zur Diskussion gestellt hat, eine Idee, die heute mit einem Schlag die unseligen Folgen des demografischen Wandels beheben könnte:

Der Tod ist ein schlechter Abschluss vom Leben.
Es wäre viel schöner sicherlich:
Erst sterben, dann hätte man's hinter sich -
Und nachher leben.


*


Quelle:
diesseits 3. Quartal, Nr. 92 3/2010, S. 30-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. November 2010