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VERBAND/061: Was wir als organisierte HumanistInnen gemeinsam angehen müssen (diesseits)


diesseits 2. Quartal, Nr. 91/2010 -
Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Wachstumsprobleme
Was wir als organisierte HumanistInnen gemeinsam angehen müssen

Von Frieder Otto Wolf


Der Humanistische Verband Deutschlands ist ein Erfolgsmodell. Die Bedingungen für seine weitere Entwicklung sind heute so günstig wie noch nie. Dass wir uns als organisierte VertreterInnen eines praktischen Humanismus einen Präsidentenrücktritt und allerlei bundesweite Verunsicherungen geleistet haben, hätte nicht sein müssen. Es lag offenbar auch daran, dass wir noch Schwierigkeiten damit haben, unser eigenes Wachstum zu verarbeiten und die Chancen wirklich wahrzunehmen, die sich einem praktischen Humanismus als Weltanschauung heute bieten. Wir sind als Humanistischer Verband Deutschland auf dem Weg dahin, eine bundespolitisch relevante Organisation zu werden. Heute wirken die reale Säkularität und glaubenspolitische Pluralität des durch die Vereinigung geschaffenen neuen Deutschlands eindeutig dahin, dass die Zöpfe des alten christlich dominierten "Konfessionalismus" abgeschnitten werden und unser eigenes weltanschauliches Angebot in der öffentlichen Debatte an Bedeutung gewinnt.


Als amtierender Präsident moderiere ich eine Übergangssituation. Ich tue dies mit dem klaren Bewusstsein, dass heute schon eine Reihe von Weichenstellungen nötig sind und aufgrund des Standes der verbandsinternen Debatte auch kompetent und in großer Geschlossenheit vorgenommen werden können - Dazu gehört auch, dass der/die neue Präsident/in, der/die im Februar 2011 zu wählen sein wird, und das neugewählte Präsidium, weitere wichtige verbandspolitische Entscheidungen vorbereiten, treffen und umsetzen werden. Hier kann ich nicht mehr tun, als daran zu arbeiten, die Blockierungen in der verbandspolitischen Debatte aufzulösen, wie sie sich in den vergangenen Jahren leider aufgrund nicht thematisierter Interessenunterschiede und vielleicht allzu selbstzufriedenen Diskussionsverzichts aufgebaut haben.

Wie bei verschiedenen Beratungen klar geworden ist, bedarf es dazu zum Teil einer intensivierten Pflege der innerverbandlichen Kommunikation und transparenter In-Gang-Setzung verbandsinterner demokratischer Entscheidungsprozesse. Daran arbeitet das Präsidium des Verbandes aktiv und wird in diesem Jahr zweifellos einige wichtige Fortschritte erzielen.

Zum Teil kommen in diesen Blockierungen und den mit ihnen verbundenen persönlichen Differenzen aber auch ein nicht hinreichend bearbeitetes Orientierungsproblem des Bundesverbandes hinsichtlich seines Selbstverständnisses und seiner strategischen Ausrichtung zum Ausdruck. Hier wird es helfen, eine ausdrückliche, klare und zielbewusste Debatte zu entfalten.


Die Wachstumsprobleme des HVD

Der HVD hat in den letzten Jahren neue Landesverbände gründen können. Er hat eine bundesweite Akademie gegründet, die mehrere Landesakademien unter sich vereint. Er hat sich bei wichtigen Gelegenheiten als bundespolitisch relevante Organisation bewährt. Und er ist in einem neue Dynamik gewinnenden "säkularen Spektrum" zu einem wichtigem Bezugspunkt geworden - für Auseinandersetzungen und für Kooperation.

Aber: Die Bundesakademie und die neuen Landesakademien stehen erst am Anfang und müssen sich erst noch die entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit erarbeiten. Von der Gründung neuer Landesverbände zum Aufbau einer wirksamen Präsenz des praktischen Humanismus in den entsprechenden Bundesländern ist es ebenfalls noch ein ganzes Stück des Weges. Die bundespolitische Relevanz des HVD ist weitgehend auf die Themen beschränkt, bei denen der HVD auch praktisch präsent und seit Jahren bundespolitisch aktiv ist, z.B. Patientenverfügung. Eine Übertragung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf weitere Themenfelder, auf denen wir etwas bundespolitisch Relevantes zu sagen haben, erweist sich aber als ziemlich schwierig. Auch Auseinandersetzungen und Kooperation im säkularen Spektrum fällt dem HVD in seiner gegenwärtigen Aufstellung schwerer, als wir dies selber erwartet haben.

Alles kein Grund zur Resignation. Aber eine Überprüfung und Feinjustierung unserer Rolle als bundesweit agierender Verband machen diese Entwicklungen doch nötig. Das gilt sowohl für die für uns als Organisation geradezu konstitutive Aufgabe der Pflege des praktischen Humanismus als Weltanschauung, als auch für die spezifische Aufgabe der Bundesebene unserer Organisation, sich die nötigen Instrumente ihrer Arbeit als Bundesverband zu schaffen (und auch finanzieren zu lassen).


Die Aufgabe der "Pflege der Weltanschauung"

Wir als HVD haben unsere Auffassung vom praktischen Humanismus als Weltanschauung in unserem "Humanistischen Selbstverständnis" festgeschrieben. Damit wurde eine Rahmenposition bezogen, innerhalb derer kein Konsens- und Homogenisierungszwang besteht, sondern die wir in einer pluralen Artikulation weltanschaulicher Perspektiven und damit verknüpfter politischer Optionen ausfüllen: Unser praktischer Humanismus braucht keinen Katechismus. Anstatt uns in das allzu enge Gehäuse der von den christlichen Kirchen entwickelten Konfessionalität einzusperren, pflegen wir unsere Weltanschauung im Austausch von Argumenten. Zugleich arbeiten wir immer wieder darin, gefundene Konkretisierungen dieser Grundhaltung auch praktisch zu verkörpern, in einer Kultur des Feierns, in Institutionen unseres praktischen Engagements, aber auch in Formen der Beteiligung an öffentlichen Diskursen und in der institutionalisierten Vermittlung philosophisch elaborierter Positionen, die sich im Rahmen des praktischen Humanismus entfalten.

Der HVD als Bundesverband kann sich aus dieser Aufgabe nicht heraus halten. Gewiss wird auch weiterhin der Schwerpunkt dieser Pflege dort liegen, wo die entsprechende Praxis stattfindet, bei den Landes-, Regional- oder Ortsverbänden. Und ebenso klar ist, dass die Bundesakademie - alleine und in Kooperation mit anderen vergleichbaren Einrichtungen -hier in Zukunft wichtigere Aufgaben wird übernehmen müssen. Aber wenn es etwa darum geht, in der bundespolitischen Debatte unsere Position aus der Perspektive des praktischen Humanismus zu erarbeiten - wie sich dies in der Frage des "assistierten Suizids" abzeichnet - oder wenn es darum gehen wird, das sich verändernde Rechtsverständnis in Bezug auf den weltanschaulichen Unterricht an Schulen durch ein bundesweit koordiniertes Angebot an "Humanistischer Lebenskunde" aufzugreifen, muss der Bundesverband die Formen entwickeln, wie er hier wirksam tätig werden kann.

Das heißt keineswegs, dass damit der Bundesverband an die Stelle der bisher auf diesen Feldern konkret agierenden Zusammenhänge treten soll. Ganz im Gegenteil, er sollte vor allem daran arbeiten, derartige bereits vorhandene Kompetenzen immer besser auch bundesweit zur Geltung zu bringen. Präsidiumsmitglieder und Bundesbeauftragte sollten aber auch selber dazu in der Lage sein, sich bundespolitisch einzubringen, wo immer neue Herausforderungen an den praktischen Humanismus auftreten. Und zwar keineswegs in der Perspektive, alles selber zu machen, sondern auch für neue Tätigkeits- und Debattenbereiche vor allem die bereits dort tätigen MitstreiterInnen zu finden.


Die Aufgaben einer bundespolitischen Wirksamkeit und einer bundesweiten Organisierung

Damit ist bereits der Grundgedanke ausgesprochen, wie sich der HVD als Bundesverband realitätstüchtig weiterentwickeln kann. Denn er kann die falsche und lähmende Alternative durchaus überwinden, die in den vergangenen Jahren einige Debatten blockiert hat: einerseits das Wirken als bloße "Clearing-Stelle" für Aktivitäten, die anderswo stattfinden, und andererseits als einem professionalisierter Zentralverband, der als solcher überall handeln kann. Dazu gehört, dass er immer wieder daran arbeitet, als Netzwerkorganisation sowohl die bereits vorhandenen Stärken vor Ort auch bundesweit zur Geltung zu bringen als auch die bundespolitischen Herausforderungen, vor denen der praktische Humanismus heute steht, in alle Bereiche des Verbandes hinein aktiv zu vermitteln.

Präsidium und Bundesbüro, aber auch die öffentliche Darstellung und die interne Kommunikation des HVD werden sich bewusst an diesem Leitbild ausrichten müssen. Dann werden wir nicht nur die Entwicklung des praktischen Humanismus in allen Landesverbänden nachhaltig stärken können, sondern auch die bundespolitische "Sichtbarkeit" und Relevanz des HVD deutlich und dauerhaft erhöhen. Das wird nicht ohne erhebliche gemeinsame Anstrengungen gehen - was auch ein entsprechendes finanzielles Engagement erfordert. Aber es wird sich lohnen - und zwar für alle Seiten im Verband.

Ich erwarte, dass der Bundeshauptausschuss im Juni erste Klarstellungen in diesem Sinne treffen wird, und hoffe, dass zur BDV im Februar 2011 ein Paket von Beschlüssen vorliegt, das die Organisationsentwicklung des Bundesverbandes in diesem Sinne ausrichtet und stabilisiert. Dann können Präsidium und PräsidentIn auf gesicherten Grundlagen agieren, um konkrete bundespolitische Aufgaben anzupacken.


Der "glaubenspolitische" Ort des HVD

Präsidium und PräsidentIn werden im kommenden Jahr auch daran arbeiten müssen, konkreter zu bestimmen, wie sich der HVD "glaubenspolitisch" verortet: Welche Stellung nimmt er unter den Konfessionsfreien ein und wie bezieht er sich auf sie - will er sie alle alleine vertreten oder kann der HVD dabei arbeitsteilig in einem Konvoi agieren? Wie reagiert er auf die immer noch tief sitzende kulturelle Differenz zwischen Ost und West in unserem Lande? Und nicht zuletzt: Wie kann der praktische Humanismus mit der längst etablierten kulturellen Pluralität in Deutschland und in Europa umgehen, nachdem die anhaltende Migration viele Menschen ins Land gebracht hat, denen die Tradition europäischer Säkularität erst einmal fremd ist - die aber eigene Formen mitgebracht haben, sich gegenüber den kulturellen Ansprüchen ihrer religiösen Traditionen abzugrenzen. Ein praktischer Humanismus, dem es gelingt, auf diese Fragen tragfähige Antworten zu finden, kann hierzulande nur immer wichtiger werden. Daran gemeinsam zu arbeiten, sollten wir jetzt schon anfangen.


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Quelle:
diesseits 2. Quartal, Nr. 91 2/2010, S. 12-13
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
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Internet: http://www.humanismus.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010