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WISSENSCHAFT/012: Die Vermessung des Glaubens (diesseits)


diesseits 4. Quartal, Nr. 85/2008 - Zeitschrift des Humanistischen Verbandes

Die Vermessung des Glaubens

Das Gespräch mit Ulrich Schnabel führte Helmut Fink.


Eine neue Forschungsrichtung macht von sich reden - die Glaubensforschung. Sie kümmert sich weder um Gottesbeweise noch um deren Widerlegungen, sondern untersucht, was der Glaube im Menschen und in der Gesellschaft bewirkt. Ulrich Schnabel, Wissenschaftsredakteur der ZEIT, hat alle dazu relevanten Studien gesichtet und in seinem Buch "Die Vermessung des Glaubens" aufbereitet. Für den weltlichen Humanismus als Religionsersatz gab er im diesseits-Interview eine eher vorsichtige Prognose ab.


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DIESSEITS: Herr Schnabel, ist es nicht vermessen, etwas so Subjektives wie Glauben vermessen zu wollen?

ULRICH SCHNABEL: Natürlich ist es vermessen, einen solchen Titel zu wählen. Nichtsdestotrotz glaube ich, die Zeit ist reif, zumindest mal einen solchen Versuch zu wagen. Was mich motiviert hat, war die Beobachtung, dass in den vergangenen Jahren eine Fülle von Studien zum Glauben aus verschiedensten Disziplinen entstanden ist und ich das Gefühl hatte, dies müsste mal geordnet und interpretiert werden.

DIESSEITS: Welchen Zugang haben Sie gewählt, welche Fragen untersucht?

ULRICH SCHNABEL: Ich habe versucht, die beobachtbaren Wirkungen des Glaubens, soweit sie sich wissenschaftlich beschreiben lassen, darzustellen. Es geht mir dabei nicht um die Frage, ob so etwas wie Gott oder Allah tatsächlich existiert oder nicht, sondern es geht darum, welche Rückwirkung solche Vorstellungen auf das menschliche Verhalten haben. Es geht also um die Auswirkungen des Glaubens und nicht um dessen Gegenstand.

DIESSEITS: Sie nennen das zusammenfassend Glaubensforschung. Welche Wissenschaften tragen dazu bei?

ULRICH SCHNABEL: Mehrere Disziplinen: Da sind zum einen die Evolutionsbiologie und die Anthropologie, die die Frage zu beantworten versuchen, warum es seit Urzeiten in jeder Gesellschaft irgendeine Art von religiösem System gibt. Dann ist es die Religionspsychologie, die erfragt, welche Auswirkungen der religiöse Glaube auf das Verhalten der Gläubigen hat. Sind diese vielleicht hilfsbereiter als andere Menschen? Dann gibt es natürlich die Hirnforschung, die ja in den vergangenen Jahren mit Aufsehen erregenden Experimenten z.B. zur Meditation auf sich aufmerksam gemacht hat. Und als Letztes, und das ist vielleicht ein wenig ungewöhnlich, betrachte ich auch die Medizin, die zum Beispiel fragt, ob Gebete irgendeine nachweisbare Wirkung haben.

DIESSEITS: Und, haben Gebete eine Wirkung, macht Religion den Menschen gesünder?

ULRICH SCHNABEL: Die großen Fürbitte-Studien die untersucht haben, ob Gebete anderer für kranke Menschen einen Effekt haben, kamen alle zu dem Ergebnis: Da gibt es nichts. Gebete haben keine äußere Wirkung auf einen Kranken. Was sie aber auch gezeigt haben ist, dass Gebete für den Betenden selbst eine psychologische, eine tröstende Wirkung entfalten können.

DIESSEITS: Es gibt ja Behauptungen, dass religiöse Menschen schneller gesunden, hat das vielleicht mit dem Geborgenheitsgefühl zu tun?

ULRICH SCHNABEL: Da kann durchaus etwas dran sein. Wenn man als religiöser Mensch sich in seiner Gemeinde aufgehoben fühlt, Besuch bekommt, dann kann das für den Umgang mit einer Krankheit durchaus heilsam sein. Das ist dann aber weniger ein religiöser Effekt als ein sozialer. Ebenso kann ein Glaube helfen, eine Krankheit eher anzunehmen und nicht so stark damit zu hadern. Es kommt dabei aber sehr auf die Art des Glaubens an. Dazu gibt es eine interessante Studie des Religionspsychologen Sebastian Murken, der Brustkrebspatientinnen untersuchte. Diese Studie zeigt: Frauen, die ein positives Gottesbild haben, die etwa überzeugt sind, dass alles, was Gott tut, wohlgetan ist, und dass er ihnen persönlich wohlwollend gegenübersteht, die konnten ihre Krankheit gut annehmen, ihr einen Sinn abgewinnen. Andere Patientinnen dagegen, die ein eher strenges Gottesbild hatten, für die Gott auch jemand ist, der für vergangene Sünden bestraft, die quälten sich zusätzlich mit Schuldgefühlen. Bei ihnen hatte der Glaube eher einen negativen Effekt. Es kommt also durchaus darauf an, wie man glaubt. Man könnte auch sagen: Letztlich ist man selbst für die Wirkung seines Glaubens verantwortlich.

DIESSEITS: Was ist entscheidender, der Inhalt einer entsprechenden Weltanschauung oder die Intensität, mit der sich jemand seiner Weltanschauung hingibt und ihr vertraut?

ULRICH SCHNABEL: Sebastian Murken hat seine Ergebnisse in dem prägnanten Satz zusammengefasst: "Der Glaube hilft vor allem denen, die stark daran glauben, dass er ihnen hilft." Man muss schon wirklich überzeugt sein, von dem, was man glaubt. Der Glaubensinhalt ist dabei zweitrangig. Das zeigen auch psychologische Experimente, die versuchen nachzuprüfen, inwiefern ein religiöser Glaube Auswirkungen auf das Wohlbefinden hat. Menschen die nur schwach gläubig sind, die zweifeln, klagen häufiger über Krankheitssymptome wie Depressionen oder Kopfschmerzen als Menschen, die sehr überzeugt sind - entweder von ihrem Glauben an Gott oder davon, dass es keinen Gott gibt. Diesen Studien zufolge käme es also mehr auf die Entschiedenheit an und weniger auf den Inhalt des Glaubens.

DIESSEITS: Das erinnert ja stark an den Placeboeffekt. Könnte man sagen, Religion beruht darauf?

ULRICH SCHNABEL: Ein Teil der Wirkungen von Religion ist meiner Meinung durchaus mit dem Placeboeffekt zu erklären. Dort erleben wir ja, dass die Erwartungshaltung, der Glaube an ein Medikament, beim Patienten neuropsychologische Wirkungen in Gang setzen kann, die genau die erwartete Heilung bewirken. Das ist nicht nur Einbildung, das lässt sich mittlerweile in neurobiologischen Studien gut nachweisen.

DIESSEITS: Seit kurzem macht das Stichwort Neurotheologie die Runde. Worum geht es da?

ULRICH SCHNABEL: Die Neurotheologie ist meines Erachtens zunächst ein ziemlich aufgeblasener Begriff, der alles umfasst, was sich im Spannungsfeld zwischen Neurobiologie und Religion abspielt. Im Detail bezieht er sich meist auf Studien, die irgendeine religiöse Praxis neurobiologisch untersuchen. Da werden zum Beispiel meditierende Mönche im Kernspintomographen untersucht und dann wird geschaut, welche Hirnareale dabei aktiv sind. Bekannt sind auch die Experimente des kanadischen Neuropsychologen Michael Persinger, der versucht hat, mit magnetischen Signalen so etwas wie religiöse Erfahrungen auszulösen.

DIESSEITS: Hat das funktioniert?

ULRICH SCHNABEL: Persinger meint: Ja. Interessant sind aber die Ergebnisse schwedischer Wissenschaftler, die im Jahr 2005 Persingers Experimente wiederholten. Sie nutzten dieselben Instrumente, arbeiteten aber doppelblind. Das heißt, ein Teil der Versuchspersonen bekam tatsächlich die magnetischen Stimulationen, die auch Persinger seinen Probanden verabreicht hat - bei einer Kontrollgruppe dagegen hat man nur so getan. Auch ihnen wurde der spezielle Magnethelm aufgesetzt, auch sie saßen mit dunklen Brillen in schalldichten Kammern - nur war das Magnetfeld gar nicht angeschlossen. Erstaunlicherweise haben auch diese Leute zum Teil von mystischen Erfahrungen berichtet. Das lag aber nicht an irgendwelchen magnetischen Signalen, sondern alleine an der Phantasie dieser Personen. Abgeschirmt von allen äußeren Reizen kann man offenbar die tollsten Dinge erleben.

DIESSEITS: Zur Frage, wie Religionen entstehen und wie ihre Verbreitung zu erklären ist, gibt es ja auch evolutionsbiologische Erklärungsansätze. Was sagt die Forschung dazu?

ULRICH SCHNABEL: Da gibt es vor allem zwei Hauptstränge. Die individuelle Komponente erfragt, wie ein Individuum dazu kommt, religiöse Vorstellungen zu entwickeln. Kurz gefasst lautet die Erklärung in etwa so: Durch unsere Art und Weise die Welt zu betrachten, haben wir geistige Fähigkeiten entwickelt, die uns helfen, uns zum Beispiel in andere Menschen hineinzuversetzen oder abstrakte geistige Begriffe zu entwerfen, die losgelöst von einem materiellen Substrat existieren. Das hat dem Menschen beim Überleben geholfen, doch genau diese Fähigkeit prädestiniert ihn auch dazu, sich etwa ein Leben nach dem Tod vorstellen zu können oder die Existenz einer Seele, die das normale Leben überdauert. Es gibt ganz interessante Versuche mit Kindern, denen man ein Puppenspiel vorführt, in dessen Verlauf eine Maus stirbt. Danach werden die Kinder gefragt: Hat die Maus noch Hunger, ist ihr noch kalt, liebt sie noch ihre Mutter? Darauf antworteten die Kinder: Nein, essen müsse sie nicht mehr, kalt sei ihr auch nicht, aber sie habe immer noch Gefühle. Da gibt es also offenbar schon bei Kindern ganz rudimentäre Vorstellungen davon, dass irgendetwas das Leben überdauert.

Der zweite Erklärstrang bezieht sich auf die gesellschaftliche Komponente der Religion. Diese Erklärungen machen an eindrucksvollen Beispielen klar, dass eine religiös organisierte Gesellschaft häufig einen stärkeren Zusammenhalt hat als eine weltlich organisierte. Unter anderem deshalb, weil man religiös codierte Verhaltensweisen wie die zehn Gebote als Verfügungen einer höheren Macht deklarieren kann, die politisch nicht verhandelbar sind. Das ist ein großer Unterschied. Politische Entscheidungen können wieder rückgängig gemacht werden, neue Koalitionen können geschmiedet werden. Aber wenn erst mal religiöse Normen als gesellschaftliche Ordnung etabliert sind, lassen sich diese nur schwer ändern. Das erzeugt einen großen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ob dieser dann im Einzelnen wünschenswert ist oder nicht, ist eine ganz andere Frage, Stichwort Taliban.

DIESSEITS: Ist es nicht auch denkbar, dass der weltliche Humanismus mit seinen säkularen Inhalten die gesellschaftliche Rolle von Religionen übernimmt?

ULRICH SCHNABEL: Das ist eine interessante Frage. Natürlich ließe sich das vorstellen. Aber Vorsicht: In der Menschheitsgeschichte ist dies ja immer mal wieder versucht worden, nach der französischen Revolution oder in der Sowjetunion nach der Machtübernahme der Kommunisten. Diese wollten etwa alle religiösen Riten durch kommunistische Riten ersetzen und die Macht der Kirche ausmerzen. Funktioniert hat es nie, das ging immer schief. Ich glaube der Grund dafür ist, dass die Religionen eine psychologische Dimension des Menschen ansprechen, die man durch rein rationale Konstrukte einfach schwer erreichen kann. Insofern würde ich annehmen, dass man mit dem Humanismus die Religion nicht einfach ersetzen kann. Andererseits zeigt das Beispiel Europa ja sehr deutlich, wie eine aufgeklärte Haltung eine zu starke Macht der Kirchen durchbrechen kann. Wir sind ja in Europa auf dem Wege zu einer humanistischen Gesellschaft. Wir basieren unser Rechtssystem auf juristischen und politischen Überlegungen und nicht mehr auf kirchlichen Dogmen.

DIESSEITS: Das heißt, ein weltlicher Humanismus muss dann auch mit Rücksicht auf die emotionalen Bedürfnisse des Menschen daherkommen, eine Feierkultur bieten, wenn er erfolgreich sein will?

ULRICH SCHNABEL: Schauen Sie sich unsere Gesellschaften an, da gibt es alle möglichen Ersatzhandlungen für religiöse Kulte. Fußball z. B. ist so ein Rahmen, der vielen Leuten ein Massenerlebnis erlaubt, bei dem man auch mal all das ausleben kann, was man in seinem rationalen Alltag nicht mehr kann. Der menschliche Geist sucht sich immer wieder solche Ventile, die seine biologisch archaischen Bedürfnisse befriedigen. Nur glaube ich nicht, dass sich das rational etablieren lässt. Wie gesagt, genau das haben die genannten Versuche in der Geschichte ja gezeigt. So etwas entsteht ganz oft von selbst, auch der Kult um Stars hat wohl mit dieser Sehnsucht zu tun. Man möchte Leute gerne hemmungslos bewundern, sich eine Art Sphäre des Heils schaffen, in der sich all die Vorstellungen bündeln, die man sich vom "Guten" macht.

DIESSEITS: Macht Religion die Menschen moralisch besser?

ULRICH SCHNABEL: Da muss man den Religionsvertretern leider sagen: Nein. Psychologische Experimente zeigen jedenfalls, dass eine Religionszugehörigkeit die Menschen nicht automatisch besser macht. Zum Teil sind Gläubige sogar intoleranter oder stärker autoritätsgläubig. Man muss dabei ein bisschen differenzieren, es gibt viele Experimente mit sehr unterschiedlichen, sich auch widersprechenden Ergebnissen. Aber ganz generell kann man sagen: Gläubige sind im allgemeinen nicht hilfsbereiter, zumindest nicht gegenüber allen ihren Mitmenschen. Gegenüber den Mitgliedern ihrer eigenen Glaubensgemeinde dagegen kann dies durchaus anders sein.

DIESSEITS: Sie haben in Ihr Buch einen kleinen Religionstest zur Selbsteinschätzung für die Leser aufgenommen. Verraten Sie uns, wie Ihre eigenen Testergebnisse aussahen?

ULRICH SCHNABEL: Bei mir ergab sich eine Art Weltanschauungsmix, der stark buddhistisch geprägt ist. Das passt insofern, als der Buddhismus eine Religion ist, die mit wissenschaftlichen Ergebnissen kompatibel ist, weil er eben keine Schöpfungsgeschichte lehrt und keinen personalen Gott kennt, sondern eher die Unbeständigkeit allen Seins betont.

Ich selbst bin vor zwanzig Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil ich mit den christlichen Glaubenssätzen nichts mehr anfangen konnte. Ich habe dann Physik studiert, bin also ein in der Wolle gefärbter Naturwissenschaftler und als solcher natürlich prinzipieller Skeptiker. Zugleich habe ich auch angefangen, Zen-Meditation zu betreiben, eine Praxis, die man auch als eine Art Bewusstseinstechnik beschreiben könnte. Man muss im Zen nichts glauben, sondern übt die Konzentration und lernt, sich selbst ins Gesicht zu sehen. Allerdings habe ich durch die langjährige Beschäftigung mit dem Zenbuddhismus angefangen, das Christentum auf eine etwas andere Art zu sehen. Ich glaube, dass viele christliche Glaubenssätze auf tiefe Wahrheiten hinweisen, sie werden nur leider immer wieder falsch verstanden.


(Leser, die Interesse am Religionstest haben, können sich an Diesseits wenden (diesseits@humanismus. de). Die Auflösung der zehn Fragen verrät jedem, aus welchen individuellen Bausteinen sich seine Weltanschauung zusammensetzt.)

Zum Weiterlesen: Schnabel, Ulrich: Die Vermessung des Glaubens.
München : Karl Blessing Verlag, 2008. - 24,95 Euro


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Quelle:
diesseits 4. Quartal, Nr. 85/Dezember/08, S. 23-25
Herausgeber: Humanistischer Verband Deutschlands
Wallstraße 61-65, 10179 Berlin
Telefon: 030/613 904-41
E-Mail: diesseits@humanismus.de
Internet: http://www.humanismus.de

"diesseits" erscheint vierteljährlich am
1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember.
Jahresabonnement: 13,- Euro (inklusive Porto und
Mehrwertsteuer), Einzelexemplar 4,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2009