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KIRCHE/0003: Calvin und die "Bad Bank" Jesus (Ingolf Bossenz)


Calvin und die »Bad Bank« Jesus

Mitten im Jahr der großen Krise liegt der 500. Geburtstag
des Reformators, der als Wegbereiter des Kapitalismus gilt

Von Ingolf Bossenz


Die Geschichte ist bisweilen von bizarrer Ironie. Ausgerechnet in diesem Jahr, dem das schlimmste ökonomisch-soziale Desaster seit der Großen Depression 1929-33 prophezeit wird, steht der 500. Geburtstag jenes Mannes an, der dank Max Weber als geistiger Wegbereiter des Kapitalismus gilt: Johannes Calvin. Die größte Ausstellung zur Erinnerung an den rigiden Reformator, der am 10. Juli 1509 im nordfranzösischen Noyon zur Welt kam und am 27. Mai 1564 im schweizerischen Genf starb, gibt es in Berlin - einer Stadt, die zwar vor allem lutherisch geprägt ist, aber im Zuge hugenottischer Einwanderung calvinistische Einflüsse erfuhr. Wer war Johannes Calvin? Der Begründer einer durch die Aufhebung des Zinsverbots unterfütterten asketischen Arbeitsethik, die dem modernen Kapitalismus zum Durchbruch verhalf - postulierte der deutsche Soziologe Max Weber 1904/05 in seinem Aufsatz »Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus«. Ein »Tyrann«, der den Versuch »einer völligen Gleichschaltung eines ganzen Volkes« unternahm - schrieb der österreichische Dichter Stefan Zweig 1936 in dem Roman »Castellio gegen Calvin«.

Der Mann, »der die Lehre der Prädestination in einem erschütternden, die menschliche Freiheit völlig vernichtenden Radikalismus enden ließ« - meinte der katholische Philosoph Georg Siegmund im Buch »Der Kampf um Gott« (1960).

»Der Angstneurotiker Calvin war ein Sadist, der den Menschen mit täglich unzähligen Verfehlungen behaftet sah, weswegen er ständige göttliche Züchtigung verdiene.« - So das Urteil des Religionswissenschaftlers Hubertus Mynarek in seinem 1999 erschienenen Buch »Die neue Inquisition«.

»Ein Theologe und Kirchenvater von europäischem Format« - tat Jan Peter Balkenende, Ministerpräsident der Niederlande, bei der Eröffnung der Ausstellung im Deutschen Historischen Museum (DHM) kund. Die Niederlande sind heute mit 21 Prozent das europäische Land mit dem zweithöchsten Anteil reformierter, also calvinistischer Christen an der Gesamtbevölkerung (Schweiz 36, Ungarn 20, Deutschland 2,3 Prozent).

Wer war Johannes Calvin?

Die Ausstellung, die das DHM gemeinsam mit der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (Niedersachsen) ausrichtet, hat wohlweislich nicht den Reformator selbst, sondern dessen Glaubenslehre zum Titel: »Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa«. Denn auch nach dem Durchschreiten der insgesamt acht Expositionsbereiche im Pei-Bau des Museums an der Straße Unter den Linden bleiben Person und Werk des Mannes, der nach Martin Luther (1483-1546) die religionspolitische Bühne betrat und diesen an Radikalität weit übertraf, merkwürdig blass. Eine intellektuelle Nachbereitung, beispielsweise durch den ausgezeichneten Katalog, ist zu empfehlen.

Dabei sparten die Ausstellungsmacher nicht an eindrucksvollen Exponaten. Berühmte Bücher, wertvolle Briefe, eindrucksvolle Bilder, Abendmahlskannen und -kelche, sonstiges kostbares Kirchengerät sowie andere prachtvolle Artefakte geben facettenreichen Einblick in eine bewegte Epoche. Eine Opulenz, die Schlichtheit und puritanische Beschränkung von Calvins reformierter Kirche streckenweise konterkariert.

Diese Ambivalenz liegt zweifellos daran, dass Theologie, um die es letztlich geht, gegenständlich schwer fassbar und darstellbar ist. Doch gerade im Fall des Gelehrten und Humanisten Michel Servet ging es um Theologie - mit tödlichen Folgen. Sicher hat Stefan Zweig, der in seinem Roman »Castellio gegen Calvin« Analogien zum Hitlerregime herstellte, das Bild Calvins negativ überzeichnet.

Tatsache aber bleibt, dass der Spanier Servet auf Betreiben Calvins 1553 in Genf auf dem Scheiterhaufen landete, weil er die heilige Dreifaltigkeit und die Göttlichkeit Christi verleugnete. Tatsache bleibt, wie der Soziologe Ulrich Beck schreibt, »dass in Genf ein Protestant, nämlich Calvin, in Komplizenschaft mit der päpstlichen Inquisition einen Protestanten öffentlich verbrennen lässt« und damit »die christliche Religion und die wahre Frömmigkeit und Liebe des Nächsten verrät«. Zwei Jahre später hatte Calvin, der von einem veritablen Gottesstaat träumte, seine Macht in Genf durchgesetzt. Nach Ansicht des in Kapstadt lebenden Theologen Michael Skriver war die »bewusst langsame, anderthalb Stunden in Anspruch nehmende Verbrennung von Michel Servet keine grausame zeitbedingte Episode«. »Es lagen ihr«, betont Skriver gegenüber ND, »tief verankerte theologische Einstellungen zugrunde, die uns noch heute bedrängen.«

Die Hinrichtung des Häretikers Servet war der Sündenfall des Calvinismus. Dass er in der Ausstellung eher beiläufig behandelt wird, hängt wohl mit deren Anspruch zusammen, den die Kuratorin Sabine Witt mit Blick auf Calvin so formuliert: »Wir korrigieren das verbreitete Bild von Kulturfeindlichkeit und herzlosem Radikalismus, das sich mit seinem Namen verbindet.« Man habe, so der zweite Kurator Ansgar Reiß, zudem »nicht versucht, die theologischen Inhalte des Calvinismus durch Inszenierungen greifbar zu machen«, da sich diese »zentral auf die Schrift und nicht auf irgendwelche Inszenierungen oder auf emotional aufgeladene Bilder« beziehen. Eine begreifliche Beschränkung. Allerdings wird damit die folgenreichste theologische Leistung Calvins und zugleich der Wesenskern des calvinistischen Glaubens nur schwer zugänglich - die Lehre von der Prädestination, der göttlichen Vorherbestimmung.

Demnach hat Gott von vornherein entschieden: Der eine Teil der Menschen ist zur ewigen Seligkeit bestimmt. Den anderen Teil der von ihm geschaffenen Menschen hat der Schöpfer »zu nie endenden Höllenqualen vorherbestimmt, ohne dass sie durch ein sittlich hochstehendes Leben und Tun irgendetwas an seinem Beschluss ändern könnten«, so der Religionswissenschaftler Mynarek. Der Theologe Skriver verweist auf die verhängnisvollen Auswirkungen der Prädestinationslehre. Gehöre diese doch zu den »religiösen oder politischen Ideologien, die zu unmenschlichen Handlungen führen, aber gleichzeitig mehr oder weniger erfolgreich ein gutes Gewissen vermitteln. Alles, was schicksalhaft geschah, hatte Sinn in der Unergründlichkeit Gottes, in Prädestination zu Seligkeit oder Verdammnis; wichtig war nur, dass man sich selbst seiner Privilegierung bewusst blieb und eventuell auftretende Zweifel durch materiellen Erfolg kompensieren konnte.« So bildete der Calvinismus ein Kernstück der Apartheid-Ideologie in Südafrika, das als außereuropäisches Land in der Ausstellung nicht erfasst ist. Skriver dazu: »Die niederländischstämmigen Buren in Südafrika waren durch den Calvinismus geprägt. Aus der Lehre über die Vorbestimmtheit des menschlichen Schicksals und der Überlegenheit der weißen Rasse wurde die Rassentrennung gerechtfertigt.«

Die Doktrin von der prädestinierten göttlichen Gnadenwahl war es denn auch, die Calvin als geistigen Wegbereiter des modernen Kapitalismus erscheinen lässt. Danach war diese Wahl durch den Gläubigen zwar nicht beeinflussbar, aber zumindest erkennbar - am wirtschaftlichen Erfolg des Einzelnen. Wer also hart arbeitete, sparsam lebte und auf diesem Wege zu Reichtum und Wohlstand gelangte, hatte damit ein klares Zeichen seiner göttlichen Erwählung.

Vor Calvin galt der Satz Jesu, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in den Himmel komme. War das Postulat aus dem Matthäus-Evangelium seinerzeit eine Revolution, muss man Calvins Umkehrung wohl als Konterrevolution deuten: den Reichen das Himmelreich, den Armen die Hölle. Für den Soziologen Max Weber war dieser Antrieb zur Verifizierung göttlicher Gnade oder Ungnade ein zentraler Impuls zur Ausformung kapitalistischer Produktionsverhältnisse in protestantisch-puritanisch geprägten Gesellschaften, wie sie die Niederlande, England und später die USA in der Übergangsperiode vom 17. bis zum 19. Jahrhundert darstellten. Weber betrachtete die Lehre von der doppelten Prädestination als das reformierte »Zentraldogma«, dem eine - wie er hervorhob - »pathetische Unmenschlichkeit« innewohne, weil nach dieser Anschauung durch Gott »von Ewigkeit her nach gänzlich unerforschlichen Ratschlüssen jedem Einzelnen sein Geschick zugeteilt« sei.

Der Mannheimer Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch verglich in einer Veranstaltung anlässlich der DHM-Ausstellung Jesus mit einer »Bad Bank«, jener jetzt popularisierten Abwicklungseinrichtung für faule Finanzen. Schließlich, so Hörisch, habe ja der Heiland sämtliche Sünden der Welt auf sich genommen und die Menschen damit »entschuldet«.

Das kapitalistische Desaster, von dem es heute zu entschulden gilt, geht gewiss auch auf die Sakralisierung des wirtschaftlichen Erfolgs zurück. Calvin kann dafür allerdings nicht mehr in Haftung genommen werden.


Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa.
DHM Berlin, bis 19. Juli, täglich 10-18 Uhr. Katalog 25 EUR.
www.dhm.de


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Juni 2009
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 29.04.2009


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2009