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VEGETARIERBUND/382: 120 Jahre - Die wechselvolle Geschichte des VEBU (natürlich vegetarisch)


natürlich vegetarisch 03/12 - Sommer 2012
Das Lifestyle-Magazin

120 Jahre - Die wechselvolle Geschichte des VEBU

Von Renate Brucker



Lange hatten die Verhandlungen, in die sich sogar Leo Tolstoi einschaltete, gedauert, bis am 7. Juni 1892 im Leipziger Gasthaus Pomona die Gründung des Deutschen Vegetarierbundes gefeiert werden konnte. Da nur in Sachsen Vereine als juristische Personen galten, wurde diese Stadt Sitz des Dachverbandes, zu dem sich der durch Eduard Baltzer 1867 in Nordhausen gegründete "Deutsche Verein für natürliche Lebensweise", der Berliner "Deutsche Verein für harmonische Lebensweise" und einige andere Lokalvereine unter dem Vorsitz des Lehrers Ernst Hering zusammenschlossen. Von etwa 400 Mitgliedern im Gründungsjahr wuchs der Verein bis 1904 auf 1.474, die sich auf wenige Großstädte wie Berlin, Leipzig oder Frankfurt konzentrierten.


Vorgänger der "natürlich vegetarisch"

Die "Vegetarische Warte", deren zentrale Themen das Wesen des Vegetarismus und seine Verbreitung waren, erschien monatlich. Hatte die Argumentation auf Ethik, Gesundheit, Sparsamkeit und Einfachheit oder Natürlichkeit aufzubauen? Waren aus ethischen Gründen auch Leder, Milch und Eier zu meiden? Wie stand es mit der vegetarischen Lebensweise in anderen Kulturen? Praktische Lebenshilfe boten Artikel über Ernährung, Gesundheitsvorsorge, Gartenbau und Rezepte. Über das vielfältige Vereinsleben wurde mit Adress- und Mitgliederlisten, Kassen- und Tätigkeitsberichten informiert.


Vereinsleben

Ernst Herings Nachfolger, Dr. med. Gustav Selß (1905-1915), versprach verbesserte Werbung, Zusammenarbeit mit anderen Lebensreformbewegungen und durch drei bezahlte Stellen eine stärkere Professionalisierung. Ein siebenköpfiger Vorstand, ein noch größerer Verwaltungsrat und verschiedene Ausschüsse bildeten mit der Geschäftsstelle in Frankfurt/ Main einen aufwändigen Apparat. Ein großer Erfolg war der erste Internationale Vegetarierkongress 1908 in Dresden mit der Gründung der Internationalen Vegetarier Union (IVU). Unstimmigkeiten in der Vereinsführung verursachten um 1910 eine Austrittswelle und die Neugründung von Vereinen, zum Beispiel des "Vereins vegetarischer Frauen" 1910 in Dresden durch Martha Förster und 1913 der "Vegetarischen Gesellschaft" unter dem Vorsitz ihres Ehemannes Georg Förster. In der "Gesellschaft zur Förderung des Tierschutzes und verwandter Bestrebungen" (1907) hatte Magnus Schwantje alle ethischen Bestrebungen verbinden wollen.


Berlin - Zentrum vegetarischen Lebens

Berlin bot vegetarisch lebenden Menschen eine reiche Auswahl an Aktivitäten: zwei Vereine und mehrere Interessengruppen, 19 vegetarische Gaststätten, einen Gesangsverein, Vorträge, Kochvorführungen, eine Leihbibliothek, Waisenhaus- und Altenheimfonds, Tanzveranstaltungen, Feste, Wochenendausflüge und sportliche Wettbewerbe. Die Vereinsveranstaltungen, die meist auch Nichtvegetariern offenstanden, sollten nicht nur den Mitgliedern Unterhaltung, Information und Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln, sie sollten auch der Werbung dienen und Vorurteilen gegenüber Vegetariern entgegenwirken.


Hochvegetarismus

Nach dem Ersten Weltkrieg differenzierte sich die vegetarische Bewegung weiter. Neue Vereine, ein zweiter Dachverband und politische Gruppen, die neben dem Vegetarismus noch weitere politische Ziele verfolgten, wurden gegründet. Der bekannteste war neben dem "Bund für radikale Ethik" (Magnus Schwantje) der "Internationale Sozialistische Kampfbund" Leonard Nelsons.

Der Vegetarierbund konzentrierte sich unter seinem Vorsitzenden, Studienrat Bruno Wolff (1931-1935), Nachfolger von Studienrat Dr. Gustav Schläger (1915-1930), zunehmend auf ethische Argumente. Statt des "alten" Vegetarismus ("Nichts vom toten Tier") forderte der "neue, zukunftsweisende Hochvegetarismus": "Überhaupt nichts mehr vom Tier". Das Prinzip wurde vom Deutschen Vegetarierbund also schon 15 Jahre vor der Schöpfung des Wortes "vegan" in England vertreten. Dabei wurde ebenfalls der Begriff der "Ehrfurcht vor dem Leben" benutzt, den Magnus Schwantje 1908 zum ersten Male nachweislich verwandte, und auch der Begriff "Tierrechte".


Die Auflösung

Wie in vielen ideellen Organisationen sanken mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise ab 1929 die Mitgliederzahlen. Die "Vegetarische Warte" erschien nur noch unregelmäßig und stellte 1933 ihr Erscheinen ein. 1933 sahen einige vegetarische Verbände - allerdings nicht der "Bund für radikale Ethik" und der "Internationale Sozialistische Kampfbund" - eine "Zeitenwende" durch die Kanzlerschaft des angeblichen Vegetariers Adolf Hitler heraufziehen. Bruno Wolff veröffentlichte in der "Vegetarischen Warte" einen Aufruf, der die Bekämpfung der Wirtschaftskrise durch Anordnung des Vegetarismus als nächste Aufgabe des "Führers" forderte.

Ganz im Gegensatz zu diesen Forderungen galt Vegetarismus als politisch unerwünscht, da des Pazifismus verdächtig, und wurde durch die Presse sowie bürokratische Maßnahmen bekämpft. Da vegetarische Organisationen im Ausland die deutsche Regierung kritisierten, wurde die Teilnahme deutscher Vegetarier an internationalen Kongressen behindert. Vegetarismus galt - gemäß der offiziellen Ernährungslehre des Dritten Reiches - lediglich als eine zeitlich begrenzte Diätform.

Die existierenden Vegetarierverbände sollten in einer "Deutschen Gesellschaft für Lebensreform" - unter einem von der NSDAP eingesetzten Leiter - gleichgeschaltet werden. Dies verhinderte der Vegetarierbund nach schriftlicher Abstimmung der Mitglieder, indem er sich am 18.2.1935 auflöste. Die wichtigsten anderen Vereine folgten noch im selben Jahr.


Neugründung

Am 29.5.1946 trafen sich zum ersten Mal nach dem Krieg vegetarisch lebende Menschen in Sontra bei Kassel, um eine Vegetarier-Union Deutschland zu gründen, die Teil der IVU sein sollte. War der Vegetarismus bisher in Mitteldeutschland im Vergleich zum Westen besonders stark gewesen, wurde er dort nun als "bürgerliches Relikt" unterdrückt und eine ideologisch untermauerte Fleischkultur aufgebaut. Auch in Westdeutschland wurde der Fleischkonsum massiv gefördert, doch konnten hier Verbandsstrukturen. gebildet werden. Bis Mitte der 70er-Jahre existierten zwei Vegetarier-Unionen (VUD und VU) und mehrere Zeitschriften, unter anderem seit 1956 "Der Vegetarier" als Organ der VUD. Im Sinne der Zusammenarbeit wirkte seit 1956 der später so genannte "Deutsche Vegetarier-Rat" mit der "Rehburger Formel" von 1963: "Der Vegetarismus ist die Lehre, dass der Mensch aus ethischen und biologischen Gründen ausschließlich zum Pflanzenesser bestimmt ist. Sein stärkstes Motiv ist die Überzeugung, dass möglichst kein Tier für die menschliche Existenz getötet oder geschädigt werden soll."


Der VEBU

1973 schlossen sich die VUD und der Freundeskreis der deutschen Reformjugend unter dem Namen "Bund für Lebenserneuerung. Vereinigung für ethische Lebensgestaltung, Vegetarismus und Lebensreform" zusammen. 1985 wurde noch "Vegetarierbund Deutschland" als Namensbestandteil vorangestellt - heute ist dies der Name des Bundes geworden. Die Vereinszeitschrift wurde 1999 gänzlich neu gestaltet und in "natürlich vegetarisch" umbenannt.

Der VEBU - wie der Bund inzwischen meist genannt wird - hat im Vergleich zu anderen Organisationen wohl am erfolgreichsten die Anpassung an aktuelle Entwicklungen bewältigt. Dies zeigen sein quantitatives Wachstum und die professionelle Bearbeitung neuer Aufgabenfelder unter Nutzung moderner Kommunikationstechniken. Dabei werden auch manche vor 100 Jahren aktuelle Themen und Methoden neu umgesetzt, wie Stiftungsgründungen, praktische Kochschulungen, vegetarische Messen und anderes mehr. Der VEBU leistet derart überzeugende Arbeit, dass sich nun die 1868 gegründete Vegetarische Gesellschaft Stuttgart (VGS) dem bundesweiten Verband angeschlossen hat.

Während früher außerhalb der wenigen großen Städte kaum gemeinsame Aktivitäten entwickelt werden konnten, ermöglichen heute über 100 Regionalgruppen gemeinschaftliches Erleben der vegetarischen Lebensweise und zugleich ein fast flächendeckendes öffentliches Wirken. Die vegetarische Idee erfährt durch die Ausbreitung des Veganismus gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine starke Dynamisierung. Es scheint, dass ihre Zukunft inzwischen begonnen hat und dass sich 120 Jahre alte Träume zu erfüllen beginnen.


Mehr zu den VEBU-Jubiläums-Feiern vom 1. bis 7. Juni 2012 in Stuttgart, Nürnberg, Darmstadt, Köln, Berlin und Hamburg erfahren Sie in der nächsten Ausgabe.

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Quelle:
natürlich vegetarisch 03/12 - Sommer 2012, S. 6-7
63. Jahrgang
Vegetarierbund Deutschland e.V. (VEBU)
Redaktionsadresse:
Blumenstr. 3, 30159 Hannover
Telefon: 0511/36 32 050, Fax: 0511/36 32 007
E-Mail: info@vebu.de
Internet: www.vebu.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2012